Neun
Leilani gab Delilah frische Kleidung und überließ ihr eine Schlafmatte und eine dicke Decke.
"Eine Sache musst du mir wirklich erklären.", begann Leilani, während sie Tee kochte. "Warum hast du Jamaal gerettet? Wäre es nach ihm gegangen, hättest du längst dein feuchtes Seemannsgrab gefunden."
Delilah zuckte mit den Schultern. "Keine Ahnung."
"Heldenmut kommt nicht von heute auf morgen, Süße. Jemand hat etwas Spezielles zu dir gesagt, nicht wahr?"
Delilah riss die Augen auf, schüttelte jedoch langsam den Kopf. "Nein."
"Ich glaube, du lügst mich an. Was ist zwischen dir und Sin passiert? Habt ihr euch gestritten?"
Sie schüttelte erneut den Kopf, diesmal heftiger. "Nein!"
Leilani seufzte und setzte sich neben sie. "Was hat er gesagt, Delilah?"
Delilah verkrampfte sich. Stimmen in ihrem Kopf schrien ihr dieselben Worte wie Sin entgegen. "Dasselbe wie alle anderen. Dass ich nutzlos bin.", sagte sie leise und ohne Ausdruck auf dem Gesicht.
"Nimm es dir nicht so zu Herzen. Als Frau muss man sehen, wie man in einer Welt mit Männern überlebt. Du hast Jamaal gerettet und das bringt dir den Respekt der gesamten Crew ein. Auch Sins. Du solltest mit ihm reden. Allerdings erst morgen früh, denn jetzt schläfst du dich erst mal richtig aus."
°*°
Am nächsten Morgen wurde Delilah von mehreren Stimmen geweckt.
"Jetzt rede endlich mit ihr!", hörte sie eine weibliche, vermutlich Leilani.
"Aber was, wenn sie..."
Die andere Stimme brach ab. Delilah blinzelte das schwere Gefühl auf ihren Augen ab und sah sich um.
Leilani stand mit verschränkten Armen vor Sin, der Delilah erschrocken ansah. "Wir haben dich geweckt.", stellte er unnötigerweise fest.
"Red keinen Unsinn und komm endlich zum Punkt!", seufzte Leilani.
Sin murmelte etwas Unverständliches, eher er sich vor Delilah auf den Boden setzte. "Ich muss dir danken, dass du Jamaal gerettet hast."
Delilah zog ihre Decke enger um sich und fühlte sich zunehmend unwohler unter Sins plötzlich freundlichem Blick.
"Bildet euch nichts darauf ein! Was willst du von mir?" Sie wollte ihn einfach nicht ansehen und auch nicht in ihrer Nähe haben.
"Du hast mir einen Gefallen getan und ich will dir einen tun. Wir haben dich ... mitgenommen, weil du den Weg nach St. Muerde kennst. Du bist im Prinzip unser Navigator und wir ... ich sollte dich auch so behandeln. Es gibt eine kleine Kajüte, die du haben kannst. Ich leihe dir alle Karten, die du brauchst."
Offensichtlich wartete er auch auf ein Anzeichen von Dankbarkeit von ihrer Seite, aber da konnte lange warten. Sie verweigerte weiterhin stur den Augenkontakt.
"Lass sie noch ein wenig in Ruhe.", murmelte Leilani und zog den Käpt'n sanft hoch. Er sah Delilah nun ebenfalls nicht mehr an und verließ die Kabine schweigend.
Kaum hatte sich die Tür geschlossen, hielt Leilani ihr einen Tee hin und nahm eine Schüssel mit kaltem Wasser. "Ich muss mal wieder nach Amir sehen. Ich weiß, dass Sin sich gestern nicht gerade wie ein Gentlemen verhalten hat, aber er ist kein schlechter Mensch. Er sorgt sich einfach nur um seine Crew."
Delilah ließ sich plötzlich erschöpft zurück auf das Kissen sinken. Sie hatte jetzt keine Nerven für Sins ... was auch immer! Sie musste an ihre Flucht denken. In St. Muerde würden sie lange genug abgelenkt sein, damit sie sich selbst die Taschen vollstopfen und verschwinden konnte. Kein Problem...
Entschlossen schlug sie die Decke zurück, schlüpfte in ihre Stiefel und ging mit möglichst aufrechtem Gang nach draußen. Sonnenstrahlen und salzige Meeresluft schlugen ihr entgegen und erinnerten sie daran, wo sie war. In der Ferne konnte sie Land sehen.
"Steuern wir auf einen Hafen an?", fragte sie niemand Bestimmten.
"Ja, der Hafen von Alexandria.", erklärte Nev.
Überrascht sah sie zu Sin, der neben Malik am Steuerrad stand. Er hatte ihren Rat befolgt. Sie konnte sich ein winziges Zucken der Mundwinkel nicht verkneifen, sah allerdings schnell weg, als er ihren Blick erwiderte.
"Sin ... der Käpt'n sagte etwas von einem Kartenraum...", sagte sie zögerlich, aber Nev nickte sofort.
"Komm einfach mit."
In der Nähe des Schiffsbugs führte eine schmale Treppe zu den Lagerräumen und darüber befand sich der Kartenraum. Es glich allerdings eher einer Abstellkammer, in der gerade so ein winziger Tisch und klappriger Holzstuhl Platz fanden.
Cem kam auf sie beide zugestolpert, mit etwa zwei Kutzend Karten in den Armen. "Der Käpt'n sagt, ich soll dir die geben.", rief er über den Stapel hinweg und ließ sie auf den Tisch fallen.
Delilah nickte und setzte sich auf den Stuhl, der nach Jahren im Staub knarrte. Vorsichtig rollte sie die Karten nacheinander aus. Sie waren alt und nicht alle auf dem neuesten Stand. Ein Karte, auf der die Mythen im Indischen Ozean wäre nicht schlecht.
Seufzend stand sie auf und die öffnete die Tür einen Spalt. Sollte sie Sin danach fragen?
Warum sollte sie sich auch vor ihm verstecken?
Stolz reckte sie ihr Kinn vor, straffte die Schultern und trat nach draußen. Sin stand immer noch neben Malik. Entschlossen ging sie zu den beiden.
"Ich brauche eine Mythenkarte über den Indischen Ozean.", erklärte sie knapp und verschränkte die Arme.
Sin, der eben noch mit Malik leise geredet hatte, nickte und deutete ihr, ihm zu folgen.
"Soll ich dir für die Gewässer in der Nähe von Spanien auch welche geben?", fragte er, während er die Regale in seiner Kajüte durchging.
"Wäre nicht schlecht.", murmelte Delilah. Ihr wurde schlecht, wenn sie an den vorletzten Abend dachte. Wie die Crew und auch Sin sie herumgeschubst hatten und sie so hilflos wie ein kleines Mädchen gewesen war.
Sin bemerkte es nicht oder es war ihm egal. Schließlich drückte er ihr drei weitere Karten in die Hand. "Ich hab noch was für dich.", sagte er, während sie wieder an Deck traten.
Er zog ein kleines, aus dunklem Holz geschnitztes Gehäuse heraus, dessen Oberfläche mit Malereien von Wellen und Meeresungeheuern bedeckt war. Zögerlich öffnete sie den Deckel. Ein Kompass mit sowohl einer grünen als auch einer roten Nadel kam zum Vorschein.
Sie kniff die Augen zusammen. "Was genau soll das sein?"
Sin grinste und nahm ihr den Kompass kurz wieder ab. Als seine Finger ihre streifen, hätte sie den Kompass beinahe wieder fallen gelassen.
"Die rote Nadel zeigt wie gewohnt nach Norden. Aber die grüne zeigt an den Ort, an dem du dich zu Hause fühlst."
Delilah verbarg das warme Gefühl, dass sich in ihr auftat und runzelte die Stirn. "Warum schenkst du mir so etwas?"
Sins Ausdruck wurde ernst und er lehnte sich nachdenklich gegen die Reling. "Nach St. Muerde will ich Freiheit für meine Crew. Wir sind nur Piraten, um zu überleben, Delilah. Nach St. Muerde muss niemand mehr sein Leben riskieren. Wir werden uns vermutlich alle verstreuen und du wirst ebenfalls frei sein. Danach sollst du wieder nach Hause finden."
Die Härte in ihrer Miene brach. "Du ... du willst mich nicht irgendjemandem ausliefern?"
Er schüttelte den Kopf. "Wieso sollte ich, Delilah?", fragte er tonlos.
Sie drehte sich um und verließ das Deck so schnell sie ihre Beine tragen konnten.
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