9. Wenn man nicht vehement genug ist
Nachdem ich Jessie hellauf mit dem Konzept eines Supermarktes begeistert habe und unsere Einkäufe in etwa so aussehen, als hätte man zwei Sechsjährige mit 25 Dollar dorthin geschickt, machen wir es uns bei mir daheim bequem. Zu unserem Glück sind meine Eltern jetzt beide auf der Arbeit und werden nicht vor vier Uhr Zuhause sein.
Jessie und ich beäugen uns noch immer mit einem gewissen Maß an Misstrauen, aber irgendwie haben wir es geschafft, über dem Anblick von Pancakes aus der Tube (bei diesem Anblick kann ich meine Mutter vorwurfsvolle Geräusche von sich geben hören) und Pop Tarts (hierzu macht Miles in meinem Kopf Würgegeräusche) ein bisschen zu bonden.
Entschuldigt an der Stelle das unnötige englische Wort aber mal ernsthaft, wäre euch eine angemessene Übersetzung eingefallen? Ich bin nämlich nicht weiter als „uns nähergekommen" gekommen und ganz ehrlich, das ist nicht das, was ich sagen wollte. Ihr versteht mich schon.
„Also", sage ich mit einem Mund voll Sahne und Fertigteig, „wofür sollst du das Wissen hier jetzt genau brauchen?"
Wenn Azath will, dass ich sein Kind vom Djinn-Dasein überzeuge, kann ich wahrscheinlich nicht früh genug damit anfangen zu lernen, was das überhaupt beinhaltet.
„Um Leuten die Wünsche besser zu erfüllen, schätze ich", antwortet Jessie mit einem genauso vollen Mund wie ich. „Weißt du, diese Sache mit Pass auf, was du dir wünschst, sonst wird es noch wahr."
Ich muss ser angeschaut haben wie ein Auto, denn schlagartig breitet sich ein ganz und gar nicht ehrliches Lächeln über Jessies Gesicht aus. „Vergiss es. Ich hab vergessen, wie wenig du weißt. Alles gut, wird sich später klären."
Ich ziehe eine Augenbraue hoch.
„Wenn du diese Geste bei meinem Vater schon gesehen hast, wirst du sicherlich verstehen, dass du gerade nicht so wahnsinnig viel Eindruck auf mich machst", sagt Jessie ungerührt.
Ich öffne den Mund zu einer pikierten Antwort und überlege es mir dann anders.
„Kannst du mir das mit dem Pronomen nochmal erklären?", platzt es stattdessen aus mir heraus.
„Hm?"
„Also Azath hat mir zwar gesagt, dass du gerade weder weiblich noch männlich bist, aber ich komme mit dem Pronomen in meinem Kopf nicht klar."
„Bei den Djinn benutzen wir für gewöhnlich ser."
„Weiß ich", sage ich etwas verzweifelt und meine Wangen beginnen zu brennen. Wobei es dafür eigentlich echt keinen Grund gibt, wie oft habt ihr denn schon mit einem Djinnkind geredet und überlegt, wie ihr es im Kopf nennen sollt? „Aber was ist, wenn ich einen Dativ habe? Ist es dann ser Schuh?"
„Sin."
„Sin?"
„Sin Schuh."
„Hm", sage ich an der Stelle. „Und sine Schuhe?"
Jessie verdreht überdeutlich die Augen. „Nein", stöhnt ser. „Das wäre doch zu einfach."
„Sorry", sage ich kleinlaut. Ich will hier eigentlich echt kein sensibles Thema anschneiden, aber es macht mich wahnsinnig.
Ser schaut mich irritiert an. „Nicht wegen dir. Irgendjemand meinte, sine wäre zu nah an seine und das würde für mehr Verwirrung sorgen und außerdem suckstiv", beim letzten Wort schiebt ser sich wieder einen Pancake in den Mund, und zwar im Ganzen, „'tschuldige, suggestiv für diejenigen sein, die sich nicht für eine männliche Entwicklung entscheiden. Deswegen ist es sin in der Einzahl und sire in der Mehrzahl."
„Das ist doch-", will ich einwerfen und klarstellen, dass sin immer noch verdammt nach der männlichen Formen klingt, aber Jessie wedelt wie wild mit den Händen und schneidet mir das Wort ab. Für einen Moment hätte ich schwören können, dass ser auf einmal vier Hände hat.
„Weiß ich. Es ist super unlogisch, aber so wird es halt aktuell gemacht und wir kommen alle irgendwie damit klar." Wieder grinst ser mich an. „Ich bin eh nicht so empfänglich, was diese ganze Suggestionsgeschichte angeht."
Ich habe das Gefühl, dass in ser – sin letzten Satz noch mehr dahintersteckt, aber für den Moment will ich nicht noch mehr Fragen stellen.
„Also", eröffnet Jessie dann wieder das Gespräch. „Du bist dir also sicher, dass wir heute nicht mehr in die Schule gehen?"
Ich nicke eifrig. Aktuell bin ich mir nicht bei vielen Sachen sicher, aber hierbei schon.
Jessie nickt ebenfalls, allerdings nachdenklicher. „Gut. Da du ja anscheinend keine Wahl hast, als dich auch in meine Welt einzuarbeiten, werden wir dann den Tag wohl dafür nutzen."
„Was meinst du?"
„Du brauchst einen Zahn von Mireor, richtig?"
„Irgendwann, ja, wahrscheinlich." Aus irgendeinem Grund ist das derjenige von Azaths Wünschen, über die ich mir noch nicht so viele Gedanken gemacht habe. Wahrscheinlich, weil Mireor im Gegensatz zu Jessie nicht direkt mitten in mein Leben gesprungen ist.
„Na bitte. Mireor würde dich vielleicht zu Anfang ein bisschen aus den Socken hauen", sagt Jessie nachdenklich. „Aber weißt du, was dir bestimmt Spaß machen wird? Vampire. Lass uns ein paar Vampire kennenlernen."
Nachdem mein offensichtlich nicht ausreichend vehementes „Ich habe seit Twilight die Nase voll von Vampiren" von Jessie abgeprallt ist, finde ich mich im Regen hinter sir (die neutrale Form für ihr oder ihm, habe ich mir sagen lassen) hertrottend wieder. Was tue ich hier? Im Ernst, was tue ich hier? Ich renne einem Djinnkind hinterher, das zwar wahrscheinlich vom Reifegrad her so grob in meinem Alter ist, aber ... aber ... komm schon! Vampire!
Ich gebe mir alle Mühe, keine Schnappatmung zu bekommen. Ein bisschen Stolz habe ich schon noch übrig. Nicht viel. Aber ein bisschen.
„Was ... machen Vampire tagsüber so?", frage ich vorsichtig, während Jessie mich zielgerichtet in eine eher trostlose Gegend führt. Rostrote Backsteingebäude ziehen sich wie mit dem Lineal gezogen immer gleich die Straßen entlang wie endlose Spiegelbilder.
„Playstation spielen, größtenteils", gibt Jessie mir ungerührt zur Antwort. „Ein paar von ihnen schreiben auch Code und so Kram, aber vor ihren Bildschirmen hängen sie fast alle den ganzen Tag."
Ich blinzele. Das Vorurteil, dass Gamer wie Vampire leben, bekommt in meinem Kopf gerade einen ganz anderen Unterton. Wenn ich Miles davon erzähle ... okay nein, ich werde Miles nicht davon erzählen. Aber wenn, dann würde er das unter Garantie großartig finden.
„Ich bin mir nicht hundertprozentig sicher", sagt Jessie, als wir vor einem absolut ununterscheidbaren Backsteingebäude halten.
„Welches von denen am hässlichsten ist?", versuche ich es mit einem mageren Witz.
„Nein, sorry", meint Jessie. „Das andere. Dein Gesichtsausdruck. Ich bin mir nicht ganz sicher, aber die Falte zwischen deinen Augen und dass du die Hände zu Fäusten geballt hast, scheinen mir anzudeuten, dass du dich nicht ganz so wohl fühlst."
Ruckartig entspanne ich meine Hände.
„Gut, jetzt nicht mehr, aber dass du die Hände zu Fäusten geballt hattest, scheint mir nahezulegen, dass du dich nicht ganz so wohl fühlst."
Ich werfe Jessie einen Blick von der Seite zu. „Über deine Auffassungsgabe müssen wir irgendwann nochmal reden."
Ser zuckte nur mit den Schultern. „Hab ich recht oder hab ich nicht recht?"
„Du hast recht", gebe ich zähneknirschend zu. „Aber es ist auch nicht wahnsinnig höflich, jemanden darauf anzusprechen."
„Oh", meint Jessie und schlägt die Hände vor dem Mund zusammen. So komisch die Geste ist, dieses Mal habe ich den Eindruck, dass ser es ernst meint.
„JESSIIIIEEE!", höre ich in dem Moment ein hellesQuietschen durch die Tür, sie wird aufgerissen und Jessie von einer kleinenschwarzen Gestalt beinahe umgerannt.
„Du warst ja ewig nicht mehr hier! Oh!"
Die schwarze Gestalt entpuppt sich als zierliches Mädchen mit schwarz gefärbten Haaren, schwarzer Kleidung und einem Piercing in der Unterlippe.
„Du hast Begleitung mitgebracht! Hi, ich bin Alice!"
„Ich heiße Eliza." Als sie mir mit breitem Grinsen die Hand schüttelt, sendet mein Hirn extrem seltsame Signale an mich. Wenn ich Alice nicht mit meinen eigenen Augen sehen würde, wäre ich mir sicher, dass außer Jessie und mir niemand in diesem Gang steht.
„Wie geht es dir, Jessie? Immer noch -"
Was auch immer Alice sagen wollte, ihr wird von dem Djinnspross mit einer Geste das Wort abgeschnitten. Ihre Augenbrauen zucken beinahe unmerklich ein Stück nach oben.
Schwungvoll legt Alice mir einen Arm um die Schultern und zieht mich mit sich. „Du betreust jetzt also Jessies Praktikum?"
„Mhm", sage ich unbestimmt und erzähle dann doch noch kurz, wie meine Begegnung mit Azath abgelaufen ist.
„Ohje." Alice verzieht mitleidig den Mund. „Das ist fies. Aber ich schätze, es hätte dich schlimmer erwischen können als Jessie."
„Das ist das netteste Kompliment, das ich jemals bekommen habe", sagt ser missgelaunt, aber sogar ich kann sehen, dass ser Alice nicht böse ist.
Dieses Mal bin ich diejenige, die ein Lächeln auf ihr Gesicht zwingen muss. „Bisher verstehen wir uns ganz gut."
„Aber kommt rein!" Alice und Jessie haben von ihrem Enthusiasmusgrad einiges gemeinsam. Sie dreht sich nicht einfach nur herum, sie wirbelt in einer eleganten Pirouette um ihre eigene Achse. „Ich beiße auch nicht."
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