6. Nichts als Zaubertricks
Ich gehe nach der Schule nicht zu Mr. Skyler in den Laden. Das brauche ich ja auch nicht, weil ich heute keine Schicht habe und niemand mich dort erwartet. Absolut. Niemand.
Meine Fingernägel sehen das etwas anders, die bohren sich nämlich unverfroren in meine Handflächen, weil ich die Träger von meinem Rucksack so fest umklammere. Ich bin vielleicht nicht ganz so entspannt, wie ich es mir einrede.
Jedenfalls bin ich sehr erleichtert, als ich die Wohnungstür hinter mir zufallen lassen kann. Nennt mich kindisch, aber Zuhause zu sein, fühlt sich immer nach dem Aufbauen eines Schutzwalls zwischen mir und der Welt an. Eines positiven Schutzwalls. Eines „Kein-Djinn-kann-mich-hier-erreichen"-Schutzwalls. Und nein, er hat sich nicht immer so spezifisch angefühlt, aber heute tut er das.
„Hi, Papa", rufe ich vage in die Küche. Der Geruch nach Lasagne weht mir um die Nase und ich atme genießerisch ein. Mein Lieblingsessen kann ich heute wirklich gut gebrauchen.
„Hi Liz", ruft er zurück und kurz darauf sitzen wir beide am Esstisch und plaudern über unseren Tag. Montage sind für meinen Vater immer sein Lieblingstag, was genauso seltsam sein könnte wie sein Morgen-Gen, wenn ich nicht verstehen könnte, wie es ist, nach vier Stunden Schule aus zu haben.
Eine Sache müsst ihr über Lehrer und meinen Vater im Speziellen wissen: Sie lästern. Unglaublich. Viel.
Nie mit Namen natürlich, weil es einen Ehrenkodex unter solchen Leuten gibt – mein Vater nennt es Schweigepflicht – aber glaubt mir, Lehrer sehen und hören und wissen deutlich mehr über ihre Schüler, als uns allen lieb ist. Erwähnte ich bereits, wie froh ich bin, dass mein Vater nicht an der gleichen Schule unterrichtet, auf die ich gehe? Ich bin sehr froh.
Irgendwann verdrücke ich mich mit einer Ausrede, in der irgendwo das Wort „Hausaufgaben" vorgekommen ist, in mein Zimmer.
Dort meide ich entgegen meiner Behauptung jeglichen Blick auf meinen Schreibtisch. Den dort liegt die Mappe. Die böse, ominöse Mappe. Sie wartet auf mich. Beobachtet mich. Durchbohrt mich mit ihren finsteren gelben Dämonenaugen und saugt mir die Seele – okay, ich übertreibe. Aber ich will mich nicht damit auseinandersetzen, was diese Mappe für mich bedeutet.
Stattdessen floppe ich auf mein Bett und ... starre an die Zimmerdecke. Wahrscheinlich weiß Azath mittlerweile, dass ich nicht komme. Aber was soll er schon machen? Was. Soll. Er. Machen.
Die Tatsache, dass der Armreif an meinem Handgelenk auf einmal mehrere Tonnen zu wiegen scheint, ignoriere ich. Ein Zaubertrick.
Irgendwann muss ich meinen Gedanken so dringend entgehen, dass ich mich tatsächlich an den Schreibtisch setze, um Hausaufgaben zu machen. Die Mappe begrabe ich unter meinem Mathebuch.
Neben meinem Kopf wird R2D2 ermordet. Nein, ich habe Star Wars nicht gesehen. Ja, ich habe alle Argumente, die dafür sprechen, von Miles gehört, in chronologischer und alphabetischer Reihenfolge. Ja, die Prequels sind nicht so gut wie die Originaltrilogie. Über den achten Teil reden wir nicht.
Ich gähne und strecke mich. Immerhin muss ich dem sterbenden R2D2 heute nicht unter mein Bett folgen, denn ich habe es erfolgreich geschafft, ihn vorher auszuschalten. Ich kann echt nichts dafür, diese Wortwahl trifft mein Kopf ganz automatisch.
Dieselbe Morgenmüdigkeit, derselbe Kaffee, derselbe verregnete Weg zur Schule. Nur, dass ich heute kein Geschichte habe, sondern Mathe. Ich mache mir nicht die Mühe, mir die Hand vor den Mund zu halten, als ich herzhaft gähnen muss.
Irgendetwas an der Schule ist heute allerdings anders. Zuerst ist es mir nicht aufgefallen, aber jetzt, wo ich mich meinem Kursraum nähere und mir immer mehr Leute begegnen, die ich kenne, da wird es doch immer deutlicher. Ich werde neugierig angestarrt.
Das ist seltsam.
Ich bin keine Außenseiterin an der Schule, es ist nicht wie in den Filmen, dass ich in der Mittagspause sehnsüchtig zum Tisch der coolen Leute herüberstarre. Natürlich gibt es Cliquen, aber sie bleiben für gewöhnlich für sich und keiner kann für sich beanspruchen, der absolut coolste zu sein.
Heißt, ich bin glücklich, Miles und Cat zu meinen engsten Freunden zählen zu können, aber ich kann auch mit anderen Leuten zusammenarbeiten und soweit ich weiß, existiert nicht irgendwo ein Chatroom, in dem Hassnachrichten über mich ausgetauscht werden oder sowas.
Warum also werde ich heute angestarrt?
Ja, ich rieche an meinen Haaren. Was weiß denn ich, was für ein Mist da heute Morgen vom Himmel gefallen ist und sich mit dem Regen vermischt hat. New Yorks Himmel sind unberechenbar. Ich fahre mir mehrfach unauffällig mit den Fingern unter den Augen entlang, doch danach hängt weder Mascara noch Lidschatten daran. Dass sich also in der herrschenden Feuchtigkeit etwas davon verabschiedet hat, kann ebenfalls nicht sein.
Ich habe keine Löcher in der Kleidung, niemand hat mir seinen morgendlichen Kaffee übergeschüttet – nicht einmal ich selbst – und in einen Hundehaufen getreten bin ich auch nicht. Was zur Hölle ist also los?
Unschlüssig bleibe ich an der Tür neben dem Klassenraum stehen. Kat ist noch nicht da, zu Mathe kommt sie mysteriöserweise häufig zu spät, aber Miles steht schon in einer Gruppe anderer Jungs und unterhält sich. Er trägt ein T-Shirt, das in neongelben Buchstaben verkündet „There are 10 kinds of people in the world. Those who get binary and those who don't." und ich denke, das sagt euch alles über Miles, was ihr wissen müsst.
Bisher hat er mich jedoch nicht bemerkt und gerade habe ich keine allzu große Lust, mich in eine Unterhaltung über DOTA einzuklinken.
„Hi, ich bin Kaya." Überrascht schaue ich auf. Vor mir steht Kaya Jenkins, ein kleines zierliches Mädchen, das man neben der Schule mit ziemlicher Sicherheit auf dem Sportplatz findet. Kaya und ich haben schon das eine oder andere Referat zusammen gehalten, sonst aber nicht allzu viel miteinander zu tun. Aber wir kennen uns seit Jahren. Wieso also stellt sie sich mir gerade vor, als hätten wir uns noch nie gesehen?
„Eliza", antworte ich so kurz ich kann und ich bin mir sicher, dass aus jedem Laut meine Verwirrung herausschreit.
Kaya schenkt mir ein herzliches Lächeln. „Bist du neu hergezogen?"
Was geht hier vor sich? Ich drehe mich einmal um die eigene Achse und halte nach jemandem Ausschau, der die Handykamera auf mich gerichtet hat. Ich bin darauf vorbereitet, zu lachen und mit dem Finger auf die Person zu deuten und bis in alle Ewigkeiten zu bestreiten, wie sehr mich das hier gerade verunsichert hat.
Aber alle scheinen noch in ihrer üblichen Morgenträgheit gefangen zu sein. Wie ich das verdammt nochmal vor fünf Minuten auch noch war!
„Nein", sage ich schließlich langsam und schaue Kaya wieder in die unschuldig blickenden blauen Augen. „Ich hatte einfach mal Lust auf zwei Stunden Mathe bei Miss Hud."
Da ist mir doch wieder ein Hauch Sarkasmus in die Stimme gerutscht.
Jetzt ist es an Kaya, verwirrt auszusehen. „Ah", macht sie. „Du kennst sie also schon?"
Von einer weiteren Antwort werde ich erlöst, als besagte Miss Hud auftaucht, den Klassenraum aufschließt und uns hineinströmen lässt.
Ich lasse mich auf meinen normalen Platz neben Miles fallen, da Kat wahrscheinlich noch zwanzig Minuten braucht, bis sie auftaucht, und sich dann entweder in die letzte Reihe – ihre Wahl – verdrücken wird oder einen Platz in der ersten Reihe – Miss Huds Wahl für Zuspätkommer – genießen wird. Beides nicht meins. Nennt mich nerdig, aber Mathe ist mein Fach. So. Jetzt ist es raus.
Glücklicherweise teilt Miles meine Einschätzung, sodass wir hier eigentlich keine schlechten Pultnachbarn sind.
„Was machen die selbstschreibenden Stifte?", frage ich Miles, während ich meinen Block und mein Mathebuch aus meinem Rucksack krame. Mein bester Freund hat die Tendenz, alle zwei Tage mit einer neuen Business-Idee aufzuwarten. Auf sein aktuelles Projekt hat Kat ihn gebracht, als sie davon erzählte, wie sehr sie sich einen Stift wünscht, dem sie ihre Texte diktieren kann. Selbstverständlich ist es viel cooler, wenn sich dabei ein Stift über das Papier bewegt, anstatt wenn man einfach die Diktierfunktion am Computer benutzt.
Erst, als ich wieder unter meinem Tisch auftauche, sehe ich Miles' Gesicht. Er starrt mich mit dem Ausdruck perfekter Verblüffung an. Meine Güte, sogar der Mund steht ihm auf.
„K- kennen wir uns?", bringt er schließlich heraus.
„Du auch?", fahre ich ihn an. „Was soll denn das werden? Erst Kaya und jetzt tust du auch, als würdest du mich nicht kennen?"
„Aber -"
Miss Hud begrüßt ihren Kurs mit deutlichen Worten und steigt direkt ein mit einem Problem, das sie uns in Großbuchstaben und Zahlen an die Tafel schreibt. Damit hat sie effektiv Miles' Wortschwall abgeschnitten.
Leider ist das auch der Moment, als sich die Tür öffnet und Kat eintritt, einen Kaffee to go in der Hand und die Locken glitzernd mit Regentropfen.
Sie entschuldigt sich bei Miss Hud, die sie beiläufig an ihren Platz winkt. Cat schlängelt sich durch die Tische und wirft Miles ein kurzes begrüßendes Grinsen zu. Ihr Blick fällt auf mich. Das Grinsen wird nicht zu mir weitergesandt. Stattdessen zieht sie kurz überrascht die Augenbrauen hoch.
Als würde sie mich nicht kennen.
„Was zum -"
Ich habe gar nicht gemerkt, dass ich aufgestanden bin, aber als sich jetzt wirklich alle Blicke auf mich richten, wird es mir klar.
„Oh", sagt Miss Hud. „Bitte entschuldigen Sie, ich habe Sie nicht gleich bemerkt. Sie sind sicherlich neu in meinem Kurs? Die Mitteilung muss mir irgendwie entgangen sein."
Ich bin seit zwei Jahren ihre Kursbeste.
Es reicht. Ich schnappe mir meinen Rucksack und stürze aus dem Klassenraum. Das ist mehr als ein Witz. Irgendwie hätte ich es ja meinem gesamten Kurs noch zugetraut, dass sie sich abgesprochen haben und – was weiß ich, doch noch irgendwo eine Kamera versteckt haben und Klicks auf YouTube wollen, aber – niemals hätten sie Miss Hud da mit reingezogen. Definitiv nicht. Niemals. Niemand wäre auch nur auf die Idee gekommen, unsere Mathelehrerin zu fragen.
Ich tue, was jeder Mensch in meiner Situation wahrscheinlich gerade tun würde – ich renne aufs Klo und umklammere höchst dramatisch mit meinen Händen die Waschbeckenkante. Ja, meine Fingerknöchel treten weiß hervor. Ich bin wirklich hochdramatisch. Aber ich bin nicht so gefangen in meiner Dramatik, dass mir nicht immer noch verdammt schlecht ist. Hier geht etwas vor sich, dass wirklich ganz und gar nicht okay ist.
Was könnte – und in dieser Sekunde wird mir klar, dass es eigentlich ziemlich eindeutig ist, was hier vor sich geht. Tief in meinem Herzen habe ich es wahrscheinlich die ganze Zeit geahnt und wollte es nur nicht wahrhaben.
Das mit dem Armreifen ist nicht wirklich nur ein Zaubertrick und Azath kein Hirngespinst. Und die Truhe dürfte wahrscheinlich auch nicht so einschränkend sein, wie ich mir das gestern mit einigermaßen großem Erfolg eingeredet habe.
„Shit", sage ich zu meinem Spiegelbild und das führt mich jetzt wieder zu meinem Eingangsstatement zurück: Ich habe echt ein Problem.
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