5. Ein grandioser Einfall
Mein Wecker klingt, als würde jemand R2D2 ermorden. Ich kann das Teil auf den Tod nicht ausstehen. Andererseits, wer kann seinen Wecker schon ausstehen. Trotzdem bin ich jeden Morgen aufs Neue davon überzeugt, dass mein Hass neue Höhen des menschlich Möglichen erreicht.
Mit Schwung haue ich mit der Faust auf das quietschende-schreiende-vibrierende Teil und sende es damit auf den Boden. Nur habe ich eins nicht bedacht. Der Wecker hat Räder. Und wenn man nicht schnell genug ist, setzen diese Räder sich in Bewegung. In welcher masochistischen Phase auch immer ich mich dafür entschieden habe, jetzt fällt mir meine Weitsicht auf die Füße.
Stöhnend bewege ich mich aus dem Bett, fange den entlaufenen Wecker ein und bringe ihn endlich zum Schweigen. Oh ja, mir gefällt diese Formulierung. Darin steckt eine sehr treffende Mordlust.
Schultag. Okay. Ich kann das. Ich pfeffere den Wecker zurück aufs Bett und ziehe meine Klamotten aus dem Schrank. In der Hinsicht bin ich weder besonders sorgfältig noch besonders schmerzempfindlich und wenn der karierte Rock und das graue Wolloberteil nicht hundertprozentig zusammenpassen, bin ich gerade noch in keiner Verfassung, das anzuerkennen oder zu kritisieren.
Im Flur stolpere ich fast meiner Mutter in die Arme. „Morgen", murmele ich.
Sie starrt mich kurz an, als müsse der Gruß erst bei ihr ankommen. „Mmm."
Jap. Ich weiß, von wem ich meine Morgenmuffeligkeit geerbt habe.
Wir schlurfen gemeinsam in die Küche. Mein Vater ist schon unterwegs. Er arbeitet als Lehrer – nicht an meiner Schule – und er gehört zu den Leuten, die morgens ausgeschlafen aus dem Bett springen und zwar bevor ein mörderischer Wecker klingelt. Manchmal bezweifle ich, ob wir verwandt sind.
Diese Zweifel habe ich nicht, als meine Mutter mir stumm eine dampfende Tasse Kaffee reicht. Kaffee. Ich kehre etwas ins Reich der Lebenden zurück.
Als ich 20 Minuten später angezogen, geschminkt und mit gebürsteten Haaren das Haus verlasse, bin ich wach genug, um mir Gedanken darüber zu machen, dass ich heute Nachmittag in Mr. Skylers Laden antanzen muss, ohne dass es irgendwie auffällig ist. Oder dass ich Jessie treffen muss, ohne dass es irgendwie auffällig ist.
Gemächlich mache ich mich auf den Weg zur Schule. Das Wetter ist grau und feine Regentropfen setzen sich auf mein Gesicht. Es fühlt sich an, als würde ich durch Spinnweben laufen und bei dem Gedanken an die Doppelstunde Geschichte, die jetzt als erstes ansteht, mache ich auch nicht unbedingt Luftsprünge.
Immerhin treffe ich auf dem Weg Kathleen. Sie scheint das gleiche Morgen-Gen zu haben wie mein Vater, denn sie strahlt in etwa so wie ihr sonnenblumengelber Mantel, der sich großartig von ihrer dunklen Haut abhebt.
„Wenn man heute ein Foto von dir machen würde", stellt sie fest und umarmt mich kurz, „könnte man damit sehr viel Geld machen, wenn man es als Sinnbild für Montag verkauft."
Ihre großen braunen Augen heften sich auf mein Gesicht.
„Ist alles in Ordnung bei dir?"
Ich glaube, ich sehe aus wie ein Reh im Scheinwerferlicht und lege etwa gleichgestelltes Maß an Redegewandtheit an den Tag, als ich sage: „Äh ... was? Nein, überhaupt nicht." Halt. Nein, das war falsch. „Ich meinte natürlich, nein, alles bestens. Ich bin wie immer."
Kat wendet sich schwungvoll um und hakt sich bei mir unter. „Du weißt, dass du dich gerade selbst entlarvt hast, oder?"
Ich stöhne. Die Wahrheit ist, weg von Mr. Skylers Laden und ohne den staubigen Geruch des Antiquitätenladens in der Nase ist es sehr leicht, Azath und seine Wünsche als reines Hirngespinst abzutun. Genau daran habe ich gestern den gesamten Nachmittag gearbeitet.
Immerhin ist er in einer verdammten Truhe gefangen! Okay, einer schreienden Truhe, aber trotzdem.
Ohne den gestohlenen Armreifen wäre es noch eine ganze Ecke leichter. Aber auch der ist jetzt unter dem Ärmel meiner Jacke verborgen und ich kann ihn beinahe ignorieren.
„Ich habe – komische Dinge geträumt", rechtfertige ich mich also vor Kathleen, die gerade an den Trägern ihres knallroten Rucksacks herumpfriemelt.
„Komische Dinge?" Ein Grinsen schleicht sich auf ihr Gesicht und ihre dunklen Augen blitzen. „Erzähl mir alles."
Es dürfte die meisten jetzt nicht mehr zu hören überraschen, dass Kat begeisterter Creepypasta-Fan ist. Vielleicht würde meine beste Freundin gar nicht ganz so ungläubig reagieren, wenn ich ihr von Azath erzählen würde. Aber aktuell will ich es nicht wirklich darauf ankommen lassen.
Während ich noch überlege, was ich sagen könnte, fängt Kat mit einem anderen Thema an: „Weißt du, was ich neulich erst gehört habe? Auf dem Mount Everest sind ja schon unglaublich viele Leute abgestürzt und gestorben."
„Mhm", mache ich irritiert und streiche mir die Feuchtigkeit aus den Haaren.
„Und weil es viel zu gefährlich wäre, diese Leute zu bergen, werden sie heute als Wegweiser genutzt!"
Kat strahlt mich an und ich zwinge ein „Ist ja interessant" heraus.
„Es ist großartig makaber", sagt sie. „Also wenn du mir jetzt von deinen Träumen erzählst, musst du dir schon echt Mühe geben, das zu toppen."
Ah verdammt. Es war also doch kein neues Thema.
„Ich will dir aber nicht von meinen Träumen erzählen", versuche ich abzulenken.
Unvermittelt wird Kat ernst. „Dann erzähl mir eben, was wirklich los ist."
Für einen winzigen Moment bin ich wieder kurz davor. Stattdessen entscheide ich mich aber für eine Halbwahrheit: „Mr. Skyler hat ein neues Stück bekommen. Eine Truhe, unglaublich schön und gleichzeitig unheimlich gruselig." Ich senke verschwörerisch die Stimme. „Als könnte sie dir die Seele aussaugen, wenn du sie berührst!"
Jetzt habe ich Kathleen erwischt und sie quittiert das mit einem Lachen. Einige Schüler, die in die gleiche Richtung trotten, wenden sich bei so viel Fröhlichkeit am Morgen irritiert um.
„Bei nächster Gelegenheit komme ich vorbei und schaue mir diese Truhe an. Vielleicht hat sie jemand von seinem Dachboden verbannt, weil er ein Portrait von sich verstecken muss, das an seiner Stelle altert!"
Ich ziehe die Augenbrauen hoch (wie viel höher kommt Azath wohl?). „Das war deutlich zu spezifisch, als dass es ein spontaner Einfall gewesen sein könnte."
Kat grinst nur. „Ich werde dich darüber aufklären, falls ich Recht behalten sollte."
Zu meinem Glück ist das Thema für Kat damit erledigt, denn sie vertieft sich in die detaillierte Darlegung der aktuellen Geschichte, an der sie gerade schreibt. Wer an der Stelle tippen würde, dass es sich um Horror handelt, darf sich hundert Gummipunkte auf sein imaginäres Konto schreiben.
Ich gebe zwischenzeitlich meine Meinung darüber ab, dass ich es absolut für eine realistische Möglichkeit halte, dass ein seit zweihundert Jahren totes Mädchen einfach nur einen Lolli sucht, um ihren Frieden zu finden, und dass ich es dagegen nicht gut finde, wenn dieser Lolli eine zu genaue Geschmacksrichtung haben muss.
Über der daraus anschließenden Diskussion, ob ein Finale, das aus der überaus hektischen Jagd durch einen großen Süßwarenladen besteht, nicht einen gewissen Reiz haben könnte, schaffe ich es, die Gedanken an die Truhe in meinem Hinterkopf verschwinden zu lassen.
Sie taucht auch nicht wieder auf, als wir das Schulgebäude erreichen. Der altertümliche Backsteinbau erinnert mich ein wenig an ein Gefängnis, wobei Kat darauf beharrt, dass ich das immer nur behaupte, wenn wir in der ersten Stunde Geschichte haben.
Woher das wohl kommt.
Als wir uns mit zwanzig anderen Schülern in den Klassenraum gequetscht haben, holt mich der Gedanke an heute Mittag doch wieder ein. Die Vor- und Nachteile des Absolutismus sind einfach nicht spannend genug. Insbesondere nicht, wenn Mr. Walker sie herunterleiert.
Ich weiß nicht einmal, wie Jessie aussieht. Azath sieht ja weitgehend normal aus, von den Haifischzähnen einmal abgesehen. Aber was, wenn das für das Kind nicht gilt? Für einen Moment ziehe ich gleichzeitig Grauen und makaberes Vergnügen daraus, dass ich mir vorstelle, Jessie könnte einen Rüssel haben.
Wobei bei dem Auftreten sers – wie zur Hölle soll dieses Pronomen funktionieren – Vaters sind es wahrscheinlich eher Haifischzähne.
„Eliza?" Oh verdammt. Oh verdammt.
„Äh ..." Ich lächle Mr. Walker unsicher an. „Ludwig XIV.?"
Bitte, bitte lass diese Antwort einigermaßen zu der Frage gepasst haben.
Mein Geschichtslehrer zieht eine Augenbraue hoch (lange nicht so beeindruckend wie bei Azath) und steckt seine Nase dann wieder in das Geschichtsbuch, das er charaktertreu in den Händen hält. Ich atme aus. Das war in etwa so wie in Bio auf eine beliebige Frage „Photosynthese" zu antworten. Glück gehabt.
Kat neben mir allerdings schüttelt langsam den Kopf. Innerlich strecke ich ihr die Zunge heraus. Aber es stimmt schon. Vielleicht hätte ich die Antwort auch einfach verweigern können.
Hätte ich.
Ich spüre förmlich, wie das Rädchen in meinem Kopf einrastet.
Was, wenn ich heute Nachmittag einfach nicht zum Antiquitätenladen gehe? Azath steckt in einer verdammten Kiste, aus der ihn ... nun ... eigentlich war es nicht sehr schwierig ... ganz sicher nicht viele Leute rauslassen können! Was also soll mir groß passieren, wenn ich einfach nichts mache?
Genau, genau! Mr. Skyler hat gesagt, die Kiste würde klemmen! Na also! Es gibt offensichtlich Leute, die Azath freilassen können und solche, die es nicht können. Die Kiste, in der er steckt, ist nicht sonderlich hübsch.
Ja okay, doch. Ist sie.
Aber sie ist auch groß und unhandlich und sperrig und so schnell wird sie ganz sicher niemand aus dem Laden holen wollen. Ich bin also eigentlich gar nicht in einer so schlimmen Situation wie ich dachte.
Wenn ich heute nicht hingehe.
Doch noch während ich anfange, die Mindmap abzuschreiben, die Mr. Walker gerade auf die Tafel schmiert, festigt sich mein Entschluss. Azath hat es gestern und vorgestern ganz offensichtlich darauf angelegt, mir Angst einzujagen. Tja. Vor dem Hintergrund des Antiquitätenladens und mit dem schwarzen Rauch mag das geklappt haben, aber jetzt nicht. Jetzt bin ich wieder Dame meiner Sinne.
Mit Schwung setze ich einen Punkt auf ein i. Ich brauche überhaupt keine Angst haben.
In diesem Moment lässt sich Kat dazu herab, mir trotz ihrer geliebten Geschi-Stunde etwas zuzumurmeln: „Entweder du hast gerade einen grandiosen Einfall gehabt oder ich werde mich die nächsten Stunden von dir fernhalten müssen, weil du auf irgendetwas unglaublich wütend bist."
„Ein grandioser Einfall", wispere ich zurück. Kat zieht die Augenbrauen hoch, sagt aber nichts mehr.
Ich vervollständige stumm meine Mindmap und überlege währenddessen, ob Ludwig XIV. auch einen grandiosen Einfall hatte oder absolut auf dem Holzweg war.
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