29. Es gibt immer einen doppelten Boden ... oder war es eine Wand?
Schlagartig schießt wieder das Adrenalin durch meine Adern und damit kehrt auch die Kraft in meine Glieder zurück. Es ist das gleiche Gefühl, das mich immer überkommt, wenn ich Azaths Truhe zu Gesicht bekomme oder mich in ihrer Nähe aufhalte. Das Gefühl, dass diese Truhe schreit.
Der Atem verlässt stoßweise meine Brust. Okay. Okay, ich kann das. Ich bin doch eigentlich da, um ihm zu helfen. Azath lebt noch.
Du meine Güte, bin ich etwa auf Azaths Seite? Er kann nicht wissen, dass ich mich dagegen entschieden habe, ihm bei der Überzeugungsarbeit für Jessie zu helfen, oder?
Was auch immer. Ich schüttele den Kopf. Was denke ich hier überhaupt nach? Es gibt nur eine richtige Sache, die ich tun kann.
Zitternd strecke ich die Hand aus. Öffne den Riegel, der die Kiste verschlossen hält.
Sogar im schummrigen Dämmerlicht, das hier herrscht – ich habe mir doch tatsächlich noch nicht die Zeit genommen, mich genauer umzusehen – kann ich den Schwall an schwarzem Rauch sehen, der sich aus der Truhe ergießt.
Wie lange ist es schon her, dass ich den das erste Mal gesehen habe? Wie viel ist seitdem passiert?
Azaths Gestalt schießt aus der Truhe, türmt sich über mir auf. Die irislosen schwarzen Augen, der schwarze Umhang, der ihm in mysteriösen Falten von den Schultern flutet, das Haifischgebiss – an Azath zumindest hat sich absolut nichts verändert.
„Ein wenig Ruhe könnte man mir schon einmal gönnen, wo ich mir doch so viel Mühe gegeben habe, euch wirklich alles zu sagen, was ich – AH!" Es ist das erste Mal, dass ich Azath ganz ehrlich überrascht sehe. Klar, als er mir das erste Mal in Mr. Skylers Laden gegenüberstand, war er zweifellos ebenfalls überrascht, aber da hat er nicht diesen kleinen, schrillen Schrei ausgestoßen, den zu hören ich jetzt die Freude hatte.
„Eliza", sagt er langsam. Die Freude auf seinem Gesicht hält sich wirklich schwer in Grenzen und ich bin ganz knapp davor, beleidigt zu sein.
„Hallo Azath." Dass ich sowas wie die Rettungsmission vom Dienst bin, sage ich an dieser Stelle eher nicht. Das hätte sowieso nicht vollständig der Wahrheit entsprochen, denn sind wir ehrlich ... bis zu dieser Stelle hatte vielmehr ich die Ehre, gerettet zu werden.
„Hi", füge ich dann etwas lahm hinzu und sage dann doch noch: „Ich bin hier, um dich zu retten."
Einen Augenblick lang mustert Azath mich vollkommen ungläubig. „Sag das doch bitte noch einmal, und dieses Mal ohne die Worte, bei denen ich den Drang bekomme, dich auszulachen."
Ich zögere. Ich habe so die Ahnung, dass ich dann den hinteren Teil des Satzes komplett weglassen müsste. „Jessie und Alice sind auch hier", sage ich stattdessen lahm. „Sie sind mit mir gekommen."
Azath lässt ein Seufzen ertönen, dass den gesamten Boden erbeben lässt und mir in der Brust vibriert. Irgendwann einmal muss ich auch lernen, meine Stimme so zu manipulieren. Jedenfalls soweit es menschlich möglich ist.
„Das klingt ja nach einer großartigen Idee."
„Immerhin sind wir für dich hier."
„Ich könnte nicht dankbarer sein."
„Für dich und für ..." Kats Name bleibt mir im Hals stecken. „Hast du Kat gesehen?"
„Wer soll das sein?"
Natürlich kennt Azath sie nicht. Er hat sie nie gesehen, wie hätte er sie erkennen sollen? Ich habe mir völlig umsonst Hoffnungen gemacht, dass sie bei ihm sein könnte.
„Egal", würge ich heraus. „Ich bin hier, um dich herauszuholen." Kurzentschlossen entscheide ich mich, zu bluffen. Wenn nicht jetzt, wann dann? „Und ich weiß auch schon wie. Aber ich tue es nur, wenn du deinen dritten Wunsch dafür verwendest, dass ich von meinem Versprechen entbunden werde."
Einen kurzen Augenblick meine ich zu sehen, wie Azath vor meinen Augen verschwimmt. „Selbst wenn ich das Bedürfnis hätte, genau das zu tun", sagt er dann gedehnt, „so würde es sich meinen Möglichkeiten entziehen. Ich habe dir gegenüber zwei Wünsche geäußert. Selbst du müsstest wissen, dass mir drei zustehen. Ich kann nur einen deiner Wünsche aufheben."
Ein Kloß bildet sich in meinem Hals. Ich habe Azath etwas versprochen, was ich unmöglich einhalten kann. Jessie zu überzeugen, ein Leben als Djinn anzunehmen, ist ein Ding der Unmöglichkeit und ich habe mich ohnehin dagegen entschieden. Es gibt nichts, was an dieser Entscheidung noch etwas ändern könnte.
Aber die Aufgabe, Mireor einen Zahn zu stehlen ... je mehr ich über den Boss der Unterwelt lerne, desto unwahrscheinlicher wird es, dass ich diesen Wunsch erfüllen kann. Und wenn ich ihn nicht erfüllen kann, wird es mir nichts nützen, dass Jessie frei ist. Denn ser würde sich nie wieder an mich erinnern.
„Dann heb den auf, der mit Jessie zu tun hat."
„Wiederhole ihn für mich."
Ich möchte die Augen verdrehen, die Hände in die Luft werfen und frustriert durch diese Zelle stampfen. Aber ich darf es nicht, es würde mich nur Zeit kosten, die wir nicht haben. Noch immer rechne ich damit, dass jeden Moment die Falltür zu meinen Füßen aufspringen und ich endgültig aufgeflogen sein werde.
„Ich kann Jessie nicht überzeugen, sich den Djinn anzuschließen."
„Wir werden sehen", sagt Azath. „Ich bin nicht bereit, dir irgendwelche Zusagen zu erteilen."
„Dann werde ich dich hier drin lassen", bluffe ich verzweifelt. Langsam sinkt meine Hoffnung und die Kälte, die in der Zelle herrscht, dringt plötzlich vollends in mein Bewusstsein. Ich schlinge meine Arme um mich.
„Wie seid ihr überhaupt erst hier hereingekommen?", fragt Azath misstrauisch. „Wo kommst du plötzlich her?"
Meine Beine sind plötzlich schwer. Ich drehe mich einmal im Kreis und stelle fest, dass wir in einer Gefängniszelle sitzen. Die Falltür ist der einzige Ausweg und durch die will ich so schnell garantiert nicht mehr zurück. Nicht bei dem Empfangskomitee, das mich wahrscheinlich dort erwarten würde.
„Wir waren auf einer Party", sage ich trotzdem langsam. „Unten in der Kanalisation ... da, wo sie nicht so sehr nach Kanalisation aussieht." Es ist die Untertreibung des Jahrtausends, aber sie erfüllt ihren Zweck.
„Und dafür hast du dich so aufgeputzt?"
Ich habe schon beinahe vergessen, wie es ist, mit einem missbilligenden Elternteil zu sprechen, aber Azath gibt mir genau dieses Gefühl. Ich hasse es zutiefst.
„Nein. Es war eine ziemlich spontane Aktion."
„Also hattet ihr Hilfe."
Ich lasse meinen Blick über die Gitterstäbe schweifen. Sie sehen massiv gearbeitet aus. Was stört mich an ihrem Anblick?
„Ja", antworte ich abwesend.
„Von Alice? Ich wusste, dieses Mädchen ist kein guter Umgang für Jessie."
Die Stäbe sind recht weit auseinander, wenn auch definitiv nicht so weit, dass man sich hindurchquetschen könnte. Es gibt keine Fenster, nur das türkise Licht dringt immer noch aus den Wänden. „Alice und jemand namens Dylan. Sie hat da so ihre Kontakte."
Etwas ist falsch hier.
Und mir wird es auch klar, in genau dem Moment, in dem ich es auch bereue, Alice' und Dylans Namen genannt zu haben.
Erste Erkenntnis. Azath braucht keine Gitterstäbe, um gefangen gehalten zu werden. Er ist an seine Truhe gebunden und kann sich nicht von ihr entfernen. Wenn man ihn kontrollieren will, stellt man diese Truhe in einen x-beliebigen Raum. Das hat absolut nichts mit Gitterstäben zu tun.
Zweite Erkenntnis. Es ist höchst seltsam, dass Azath so interessiert daran ist, wie ich hierhergekommen bin. Wenn ich eine Sache über den Djinn weiß, dann, dass es ihm sehr egal ist, wie Dinge gemacht werden, Hauptsache, sie geschehen. Es gab also keinen Grund, so genau nach Alice und Dylan zu fragen.
Langsam wende ich mich wieder zu Azath herum. Gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie er sich in Rauch auflöst. Dieses Mal ist es nicht der dramatische Showrauch, den er für seine Effekte verwendet. Es ist ein Rauch, der zerstiebt wie eine Illusion und danach nicht mehr zu erkennen ist.
Entsetzen wallt in mir auf.
Etwas ist hier grundlegend falsch gelaufen.
Ich fahre herum. Was auch immer hier geschieht, ich bin mir plötzlich sehr sicher, dass ich mich lieber den Dementoren unter dieser Falltür stellen will als zu sehen, was hier oben passiert.
Doch als ich den Riegel berühre, zerstiebt er mir ebenfalls unter den Fingern und löst sich auf. Ich kann die Falltür nicht mehr öffnen. Ich keuche auf. Wo eben noch ein rechteckiges Loch im Boden war, ist nun noch altmodisch mit Kopfsteinen ausgelegter Boden, der absolut massiv aussieht.
Der größte Schrecken allerdings erwartet mich noch.
Als ich mich aufrichte und panisch nach einem Ausweg suche, beginnen die Wände zu wabern. Sie schimmern, als würde ich sie durch bewegtes Wasser hindurch betrachten, dann lösen sie sich ebenfalls auf und geben die Schicht frei, die eigentlich identisch zu der ersten ist. Es gibt nur einen entscheidenden Unterschied.
An diese Wand sind zwei Gestalten gefesselt. Jessie und Alice. Ihre Handgelenke und ihre Fußknöchel sind mit groben Seilen aneinandergebunden, die auf mich unangenehm vertraut wirken. In ihren Mündern stecken dicke, dreckige Stofffetzen, die sie am Sprechen hindern.
Beide haben den Blick entsetzt auf mich gerichtet.
Sie haben alles gehört. Und nichts davon war real. Aber mein Verrat ... mein Verrat war es dahingegen schon.
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