Kapitel 9
Ein unbeschreibliches Glücksgefühl breitete sich in Ámbars Körper aus und sie erwiderte den Kuss ohne zu zögern. So lange hatte sie auf diesen Moment gewartet. Ihre Hände fuhren von selbst über Simóns Körper nach oben, bis sie schließlich in seinem Nacken liegen blieben. Ámbar erhöhte den Druck ihrer Lippen auf seinen und presste ihren Körper an den des Mexikaners. Kein bisschen Luft sollte sie daran hindern, ihm so nahe zu sein wie möglich.
Simón küsste sie mit der gleichen Intensität zurück. Er umschloss Ámbars Körper mit seinen Händen, als wollte er sie daran hindern, sich von ihm zu entfernen.
Schließlich mussten die beiden sich allerdings doch voneinander lösen, da ihnen die Luft ausging. Stumm sahen sie einander in die Augen. Ihr Atem war beschleunigt, um in kürzerer Zeit mehr Sauerstoff aufnehmen zu können.
Simón löste langsam seine Hände von Ámbars Rücken, doch die Blondine war noch nicht bereit aus ihrer Blase, in der sie zusammen sein konnten, anstatt so etwas wie Feinde zu sein, zu erwachen. Sie ließ also ihre Hände wo sie waren und legte ihr Kinn auf der Schulter des Jungen ab, wodurch sie sich in einer Umarmung befanden. Ámbar spürte, wie die Berührung an ihrem Rücken wieder deutlicher wurde und kuschelte sich enger an den Mexikaner, der ihr ein halbes Jahr zuvor das Herz gestohlen hatte.
Eine Weile blieben sie in dieser Position, doch dann überkam Simón das Bedürfnis, etwas zu dem soeben Geschehenen zu sagen. Natürlich hatte er noch immer ein wenig Angst, dass sie ihn zurückweisen würde, doch dass sie den Kuss erwidert hatte und sich jetzt an ihn schmiegte gab ihm den nötigen Mut. Und außerdem würde er diese Ungewissheit nicht mehr lange ertragen können. Er musste einfach wissen, ob sie beide das gleiche füreinander fühlten.
Er löste sich vorsichtig aus der Umarmung und Ámbar tat es ihm gleich, als sie seine Bewegungen wahrnahm. Simón sah in ihre strahlenden Augen und wagte zu hoffen, dass alles gut werden würde. Dass er mit dem Mädchen zusammen sein könnte, das er liebte. Dass im Jam and Roller keine erbitterte Feindschaft mehr herrschen würde. Dass sie glücklich werden würden.
„Ámbar...", setzte Simón an. Unsicherheit zeichnete sich auf dem Gesicht des Mädchens ab. Er hatte doch hoffentlich nicht vor, ihr zu sagen, dass er es bereute. Mit einem sanften Lächeln besah der Junge sie. „Das war unglaublich." Seine Stimme war gerade so laut, dass man es nicht mehr als flüstern bezeichnen konnte. Dieser Moment gehörte nur Ámbar und ihm. Niemanden sonst ging dieses Gespräch etwas an. Simóns Herz schlug noch immer ungewöhnlich schnell. Ámbar war die einzige, die so etwas in ihm auslösen konnte.
Genau wie Simón der einzige war, der Ámbars Einstellung zu etwas innerhalb von Sekunden um hundertachtzig Grad wenden konnte. Er musste sich nur nah genug vor die Argentinierin stellen, damit ihr Verstand aussetzte und sie auf ihr Herz hörte.
Bei den Worten des Jungen entspannte sie sich augenblicklich wieder. Es hatte ihm gefallen. Der Kuss hatte ihm gefallen!
Mit einem Lächeln im Gesicht nickte Ámbar. „Ja, das war es." Ihre Stimme war brüchig. Zu viele Emotionen fluteten ihren Körper. Doch das war alles egal. Simón war hier. Bei ihr. Sie hatten sich geküsst. Es hatte ihm gefallen. Es hatte ihnen beiden gefallen. Mehr als das. Sie liebte ihn. Sie liebte ihn zu sehr, um ihn wieder gehen zu lassen. Sie liebte ihn sogar so sehr, dass sie bereit war ihr wahres Ich wieder zu zeigen; wieder verletzbar zu werden. Aber wenn das der Preis war, um bei ihm sein zu können, dann würde sie es in Kauf nehmen.
„Wow." Nervös legte Simón eine Hand in seinen Nacken und ließ sie dort für einen Moment verweilen. Er hatte nicht die geringste Ahnung, was er noch sagen sollte. Ob er noch etwas sagen sollte.
„Also...", fing er nach einigen Sekunden der Stille an, „willst du noch weiter skaten oder wollen wir zurück?"
Es gab so Vieles, das Simón der Argentinierin noch sagen wollte, doch es schien ihm zu früh dafür. Momentan ging sowieso alles sehr schnell zwischen ihnen, weshalb er erst einmal die nächsten Tage abwarten wollte. Wenn diese gut verliefen, würde er immer noch ein umfassendes Liebesgeständnis ablegen können.
Ámbar schüttelte den Kopf. „Nein, mir reicht es für heute." Sie räusperte sich. Tatsächlich glaubte die Blondine nicht, dass sie noch sicher genug auf den Beinen war, um weiter zu skaten. Außerdem konnte sie nicht einschätzen, wie sie reagieren würde, wenn Simón und sie sich erneut nach einer Figur so nahe sein würden. Dass er das Thema so schnell gewechselt hatte, verunsicherte sie. Der Junge hatte zwar gesagt, dass es ihm gefallen hatte, doch irgendeinen Grund musste dieses Verhalten doch haben.
Es war nicht so, dass Ámbar ihm nicht glaubte. Sie wusste, dass Simón niemanden küsste, wenn er es nicht wirklich wollte. So war er einfach nicht. Und genau deshalb verstand sie sein Verhalten nicht. Lag es an ihr? Aber sie hatte doch nichts getan, wodurch der Mexikaner sich plötzlich wieder von ihr distanzieren würde.
Sie war so in ihren Gedanken versunken, dass sie gar nicht bemerkt hatte, dass Simón bereits wieder zu der Bank gefahren war und seine Skates aufschnürte. „Ámbar?" Fragend sah er das Mädchen an, das daraufhin langsam zu ihm rollte und ebenfalls begann ihre Schuhe zu wechseln.
***
Zurück im Jam and Roller beschloss Ámbar, die ihr verbleibende Stunde dazu zu nutzen, ihrem Song den letzten Feinschliff zu verpassen. Wenige Minuten später musste sie allerdings feststellen, dass ihr dies einfach nicht gelingen wollte. Was sie auch versuchte, irgendetwas fühlte sich immer falsch an. Die Argentinierin gab einen frustrierten Laut von sich. Ihr Blick glitt zu Simón, der auf der Bühne saß und vollkommen vertieft etwas auf der Gitarre komponierte. Ein Lächeln schlich sich auf ihre Lippen. Ámbar hätte niemals gedacht, dass es sie so glücklich machen konnte, jemanden beim komponieren zu beobachten. Oder beim arbeiten. Doch in den letzten Tagen merkte sie immer öfter, wie glücklich sie Simóns bloße Anwesenheit machte.
Ámbar beschloss, dass sie vorerst sowieso nicht weiter kam, weshalb sie ihre Sachen zusammenpackte und zu dem Mexikaner ging. Als dieser vor sich stehen sah, klopfte er einladend neben sich. Die Argentinierin kam dem ohne zu zögern nach und setzte sich neben den Jungen.
„Ein neuer Song?" Interessiert sah Ámbar ihn an.
„Ja. Ich hatte plötzlich tausend Ideen im Kopf und so langsam nimmt es Form an."
„Spielst du es mir vor?" Sie legte den Kopf leicht schräg. Simón war überrascht von der Offenheit, die er in den Augen der Argentinierin sah. Eine Offenheit, die er mehrere Monate hatte missen müssen, doch nun war sie zurückgekehrt.
Er positionierte seine Finger auf den Saiten der Gitarre und begann zu spielen. Sie wusste nicht warum, doch die Melodie hatte eine entspannende Wirkung auf Ámbar. Wieder einmal stellte sie fest, dass Simón ein wirklich talentierter Musiker war.
Sie beobachtete, wie seine Finger einen neuen Akkord griffen und erwischte sich dabei, den Jungen ein wenig zu beneiden. Hätte sie sein Talent, was das komponieren und das Gitarre spielen betraf, wäre ihr eigenes Lied sicherlich längst fertig. Bei Simón sah das alles so leicht aus, so natürlich.
Der Mexikaner ließ den letzten Akkord ausklingen und sah von der Gitarre auf. Abwartend schaute er Ámbar an. Das Mädchen applaudierte leicht und verfiel daraufhin in ein kurzes befreites Lachen.
„Das klingt schön. Du hast wirklich Talent, Simón." Ihre gesamte Körpersprache zeigte deutlich, dass Ámbar das Gesagte auch wirklich so meinte. Dieses Mal war es keine Masche, mit der sie versuchte Simóns Vertrauen zu gewinnen, sondern die pure Wahrheit.
„Danke."
Erneut schienen die beiden sich in einer Seifenblase zu befinden. In einer ganz persönlichen Blase, in der sie sich um nichts Gedanken machen mussten. Es war ihre eigene kleine Welt, die für niemanden sonst Platz bot. Und umso länger sie sich in dieser befanden desto mehr hatten sie das Gefühl, in dieser Blase immer weiter in Richtung Himmel zu fliegen.
„Trittst du beim Open eigentlich auch solo auf oder nur im Team mit den Red Sharks?", fragte Simón interessiert. Ihm war aufgefallen, dass er bisher sehr wenig von Ámbars Plänen für das Open Music wusste.
„Nein, dieses Mal werde ich nur mit den Red Sharks zusammen auftreten." Im Nachhinein fand Ámbar es schade, dass sie sich nicht zusätzlich noch solo angemeldet hatte, doch sie waren sich als Team einig gewesen, dass das Training Vorrang hatte und sie sich so wenig wie möglich auf andere Dinge konzentrieren sollten. Wobei ein solo Auftritt auch nicht wirklich zu ihrem Song gepasst hätte. Er war viel mehr für ein Duett geeignet. Für ein Duett mit Simón.
Der Mexikaner nickte auf ihre Antwort hin nur. Er fand es schade, das Mädchen nicht zusätzlich zu ihrem Teamauftritt auch noch alleine auf der Bühne zu sehen. Ámbar hatte eine tolle Stimme und noch dazu eine unglaubliche Bühnenpräsens; das war Simón bereits aufgefallen, als er sie zum ersten Mal auf der Bühne erlebt hatte – damals zusammen mit Matteo – und nicht einmal ihren Namen kannte. Seitdem hatte es nicht einen einzigen Auftritt gegeben, bei dem er nicht erneut festgestellt hatte, dass die Argentinierin auf die Bühne gehörte wie auf die Rollschuhbahn.
Simón begann gedankenverloren an den Saiten seiner Gitarre zu zupfen. Ihm war, als er so über Ámbar nachgedacht hatte, noch etwas für seine Melodie eingefallen. Wenn er sie sah, schien die Musik nur so aus ihm hinaus zu fließen. Die Blondine war neben Luna eindeutig seine größte Inspiration. Aktuell war sie wahrscheinlich sogar eine größere als Simóns beste Freundin.
Fasziniert sah das Mädchen ihm zu, als er eine völlig neue Tonfolge sofort fehlerfrei spielte. Wenn man bei etwas Neuem überhaupt von Fehlern sprechen konnte. Auf jeden Fall klang es schon beim ersten Mal spielen gut, was wirklich nicht leicht war. Schmunzelnd schüttelte Ámbar den Kopf.
„Was ist?" Simón stützte sich auf die Gitarre und sah die Argentinierin an.
„Nichts. Ich frage mich nur, wie sowas möglich ist", antwortete diese ehrlich.
„Was meinst du?" Interesse sowie leichte Verwirrung zeichneten sich in dem Gesicht des Jungen ab.
„Wie schaffst du es, praktisch aus dem Nichts so etwas Schönes zu zaubern?", präzisierte Ámbar ihr Gesagtes. Es war untypisch für sie, ihre Gedanken von anderen auszusprechen, doch gerade wollte sie sich nicht mehr verstellen. Simón sollte sie sehen, wie sie war. Sie wollte nicht mehr allen das perfekte Mädchen oder die, der alles egal war, vorspielen. Das kostete sie bloß unnötig Energie, die sie viel sinnvoller verwenden konnte, und es machte sie nicht glücklich. Sie selbst zu sein, an der Seite von Simón; das machte sie glücklich. Das hatte Ámbar endlich verstanden.
Der Mexikaner löste eine Hand von dem Instrument und fuhr sich mit dieser durch die Haare. „Naja, ich spiele Gitarre seit ich denken kann. Irgendwann bekommt man ein Gefühl dafür, was zusammen passt und was nicht."
Es war albern, das wusste Ámbar, doch bei Simóns letztem Satz beschleunigte sich ihr Herzschlag. So wie er sie ansah, konnte man denken, dass die Worte von Ámbar und ihm handelten und nicht nur von der Musik.
Einige ihnen sehr lang erscheinende Sekunden lang sahen die beiden sich stumm an, ehe die Argentinierin den Jungen fragte, ob er es ihr noch einmal vorspielen würde.
Als Simón die beiden neu komponierten Teile, dieses Mal aneinander gereiht, spielte, summte Ámbar an manchen Stellen ihren eigenen Song mit. Es passte zwar nicht immer, aber doch erstaunlich oft zusammen.
„Was hast du da gesungen?", wollte der Mexikaner wissen als die letzten Töne verklungen waren. Ámbar stockte. Er hatte es gehört? Das war nicht so geplant gewesen. Sie hatte doch nur so vor sich her gesummt, weil sie sich beim Zuhören an ihr Geschriebenes erinnert gefühlt hatte.
„Ein Lied, an dem ich gerade schreibe. Es passt zu dem, was du gespielt hast", gab sie zu.
„Im Ernst? Das ist ja ein Zufall. Darf ich es hören?"
Ámbar zögerte mit ihrer Antwort. Zum einen war das Lied noch immer nicht so, wie sie es gerne hätte, und zum anderen hatte sie ein wenig Angst vor dem Moment, in dem Simón verstehen würde, dass sie einen Song über ihn geschrieben hatte.
„Es ist noch nicht ganz fertig", sagte die Blondine ihm zumindest einen Teil der Wahrheit.
Simón schmunzelte daraufhin. „Na und? Es ist doch nicht schlimm, wenn noch was fehlt oder es noch nicht perfekt ist. Vielleicht kann ich dir ja sogar helfen." Er konnte überhaupt nicht einschätzen, wie Ámbar auf dieses Angebot reagieren würde. Normalerweise blockte das Mädchen jegliche Art von Hilfe ab, doch heute war kein Tag wie jeder andere.
Die Argentinierin haderte mit sich, doch schließlich siegte der Teil von ihr, der das Lied gerne als Duett mit Simón hätte, über den Teil, der nicht wollte, dass der Mexikaner es jemals hörte. Sie schloss die Augen und atmete noch einmal tief durch. Warum machte es sie nervöser, nur vor Simón zu singen, als vor mehreren hundert Leuten? In ihrem Inneren wusste sie es, doch Ámbar versuchte sich einzureden, dass es nur ein Auftritt von vielen war und sie keinen Grund dazu hatte, nervös zu sein.
Sie öffnete ihre Augen wieder und begann zu singen. Zu Beginn leiser und unsicherer als man es von ihr gewohnt war, doch mit der Zeit legte sich ihre Aufregung. Jetzt war es sowieso zu spät, um noch irgendetwas verhindern zu können.
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