Silvester
Ich hatte Geburtstag. Siebzehn Jahre lebte ich jetzt und alles war normal. So abnormal normal! Ich konnte nicht mehr. Blonde Haare, braune Augen. Mutter, Vater und eine Schwester. So abnormal normal. Ich wollte Veränderung. Eine unantastbare, verrückte und einzigartige Veränderung. Eine, die mich noch mein ganzes Leben begleiten würde. Eine, die ich nie erwartet hätte. Und die bekam ich. Schneller als es mir lieb war.
~♡~
Es begann damit, dass ich mir die Haare färbte. An meinem Geburtstag. In rosa. Ich brauchte Veränderung. Mir gefielen meine Haare. Meinen Freundinnen auch. Was meine Eltern darüber sagen werden, wusste ich nicht. Immerhin war die Farbe auswaschbar.
Dann kam der zweite Punkt. Die erste Party, die ich selber schmiss...
"Nein, ich sagte nein!", rief ich aufgebracht, schubste den Kerl, der mich bedrängte, weg und entfernte mich so schnell wie möglich von ihm. Was war mit mir los? Ich wollte doch immer, dass mich mal jemand küsst! Und jetzt drückte ich mich.
Verwirrt stieß ich gegen ein tanzendes Pärchen. Beide starrten mich leicht genervt an. Diese ganze Partysache war ein einziger Reinfall. Ich wollte mich betrinken, gab es aber nach dem zweiten Bier auf, weil ich dieses Ekelzeug einfach nicht mehr den Rachen runter bekam. Alice und Emilia waren auch schon länger verschwunden...
Am liebsten wäre ich jetzt einfach abgehauen. Nach draußen, an die frische Luft. Doch das war meine Party. Meine Idee. Und meine Gäste. Ich konnte nur hoffen, dass Moms Glasvitrine nicht kaputt ging.
Ich schobe mich an diversen Leuten vorbei, als plötzlich ein Mädchen mit Sektgläsern in der Hand auf mich zu kam. Sie trug ein dunkles, lilanes Kleid und hohe, schwarze Schuhe.
"Hier", sagte sie, lächelte mich an und drückte mir ein Glas in die Hand.
"Ähm... danke", antwortete ich schüchtern.
Dann war sie wieder verschwunden. Das Mädchen. Sie hatte blonde Haare und braune Augen. Wie ich. Nur dass meine Haare seit heute rosa waren. Nachdenklich blickte ich ihr nach und nippte an meinem Sekt als plötzlich der Typ neben mir "stopp" rief. Er hatte verwuscheltes, dunkelbraunes Haar und tiefblaue Augen mit denen er mich musterte.
"Hey, du musst noch bis Mitternacht aufs Trinken warten!", tadelte er mich, zwinkerte mir zu und grinste. Schnell sah ich zu Boden. Er war zwar attraktiv, aber ich wollte nicht flirten und auch nicht den Anschein dazu erwecken. Seufzend schaute ich auf meine Armbanduhr. Zwei Minuten vor Mitternacht. Dann konnte ich in zwei Minuten weg hier. In zwei Minuten waren mein siebzehnter Geburtag und das Jahr vorbei. Ja, ich wurde an Silvester geboren. Adé 2017, welcome 2018! Noch zwei verdammte Minuten.
~♡~
Hin und her und hin und her. Es wurde geböllert, nur ich saß hier auf meiner Schaukel hinter dem Haus und blickte in die schwarze Nacht. Schneeflocken schwebten Richtung Erde und schmolzen auf meinem Gesicht. Dann ronnen sie in kleinen Rinnsälen meine Wangen hinunter. Alles war irgendwie aus dem Ruder gelaufen. Ich hatte nicht das Gefühl, dass sich an meiner Geburtstagsparty auch nur irgendjemand für mich interessierte. Aber vielleicht war das auch einfach besser so. Ich war zu normal.
In Gedanken versunken, schaute ich in den Himmel und sah einzelne Feuerwerksraketen in die Nacht sausen.
Eigentlich liebte ich Silvester. Ich liebte den Geruch von Feuerwerk und die bunten, grellen Lichtfontänen. Die große Feier und die verschiedenen Leute, die kamen und die man seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen hatte. Der Schnee, der die Welt verzauberte, das gute Essen und das traditionelle Bleigießen. Sich Wünsche wünschen und einfach mal glücklich sein.
Ich liebte Silvester. Doch heute war irgendwie alles anders. Alles abnormal anders.
~♡~
"Hey", rief mich eine leise Stimme aus meinen Erinnerungen.
Das Mädchen kam auf mich zu und setzte sich schließlich auf die andere schneebedeckte Schaukel. Ich sagte nichts. Schweigend schaukelten wir hin und her und hin und her. Sie war das Mädchen, dass mir den Sekt gegeben hatte. Die, die genau die gleiche Haar- und Augenfarbe hatte wie ich.
"Du hast Geburtstag, nicht wahr?", fragte sie mich schließlich.
"Nein. Nicht mehr.", antwortete ich.
Sie nickte. Wieder sah ich eine Rakete in die Nacht schießen. Sie explodierte in hunderte, silberne Fäden die langsam über den Nachthimmel zogen und dann verschwanden.
Ich stand auf auf und lehnte mich gegen die Steinmauer. Ich konnte nicht mehr sitzen. Meinen Kopf legte ich in den Nacken und verschränkte danach meine Arme.
"Ich wollte Veränderung. Irgendwas neues. Deshalb die Party. Vielleicht wollte ich nen Jungen abschleppen. Ich weiß es nicht..."
Das Mädchen beobachtete mich. Sie scannte mein Gesicht, meinen Körper ab.
Ich fühlte mich nicht unwohl. Es war eher ein ungewohntes, aber gutes Gefühl, dass mich durchdrang.
"Nein, ich glaube Jungen interessieren mich nicht so...", sagte ich aus Gedanken heraus.
"Mich auch nicht so", erwiderte das Mädchen.
~♡~
"Wie heißt du?", fragte ich.
Langsam erhob sie sich von der Schaukel und kam auf mich zu.
"Lara"
"Ich bin Julia"
"Schöner Name", machte Lara mir ein Kompliment.
"Danke", ich wurde ein wenig rot im Gesicht.
Lara lehnte sich neben mich an die Mauer. Leicht berührten sich unsere Schultern. Trotz dicker Winterjacken durchfuhr mich ein Schauer. Ich schloss die Augen, atmete tief ein und aus.
Als ich die Augen wieder aufmachte, sah ich wie mein Atem weiße Rauchwölkchen hinterließ.
"Rauchst du?", fragte ich Lara, drehte mich aber nicht zu ihr um.
"Ab und zu...", sie zuckte mit den Schultern.
"Mach das nicht", meinte ich.
Auch wenn wir in einer komischen Situation waren, fühlte ich mich nicht unwohl oder gar beengt. Ich mochte Lara und ihre Antworten. Und vorallem mochte ich ihr Schweigen.
"Wieso bist du hier?", fragte ich.
"Wegen dir.", war ihre schlichte Antwort.
"Wir kennen uns nicht"
"Jetzt schon", damit stieß sie sich von der Wand an und stellte sich genau vor mich. Ich atmete scharf ein. Ihre Augen waren auf der Höhe von meinen Augen und sie sah mich so intensiv an, dass ich schließlich woanders hin blickte um den Blickkontakt zu unterbrechen.
Mein Herz pochte und meine Beine drohten unter mir nachzugeben. Die Party, die besoffenen Idioten, die die Vitrine zerstören würden und das Feuerwerk waren vergessen.
Ich schluckte. Vor mir stand dieses Mädchen und sie war mir gefährlich nahe.
"Was ist los?" Sie nahm mein Kinn in die Hand und führte meinen Kopf langsam wieder so, dass ich sie ansehen musste. Ihre Berührung löste bei mir ein wohliges Kribbeln aus.
"Nichts", zuckte ich betont gleichgültig mit den Schultern, wobei mein Inneres eigentlich Saltos schlug.
"Es ist nicht Nichts!", widersprach sie mir und zog die Stirn kraus.
Ich wollte mich ihr entziehen, doch sie packte mich mit beiden Händen am Kopf und zog mich zu sich hin. Sie sah entschlossen aus. Ihre Finger krallten sich in mein Haar und plötzlich spürte ich etwas weiches an meinen Lippen. Laras Lippen! Behutsam küsste sie mich. Ich schloss meine Augen. Ein Schauer überkam mich. Sanft strich sie mit ihrem Mund über meinen. Schmetterling flatterten durch meinen Bauch. Ich musste mich an der Wand abstützen um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Dann strich ich ihr mit meinen Händen die Haare aus dem Gesicht. Ein leises Seufzen entglitt ihr.
Meine Wangen waren rot und wir waren beide erhitzt, als wir uns voneinander trennten.
Lara lehnte sich wieder neben mich an die Wand. Weil meine Beine nun entgültig versagten, ließ ich mich langsam auf das Gras herab. Auch Lara setzte sich.
Wir schwiegen. Was sollte man auch bei so einer Situation sagen?
Ich wusste nur eins. Und zwar das ich unbedingt mit Lara hier bleiben wollte.
Sie legte ihren Kopf auf meine Schulter. Gemeinsam lauschten wir dem fernen Geböllere. Unsere Atem hinterließen weiße Rauchwolken.
Vielleicht war diese Party doch gar nicht so schlecht gewesen. Vielleicht musste erst Schlechtes passieren, damit Gutes eintraf.
~♡~
Das hier hatte mein Leben unweigerlich verändert. Ich war lesbisch. Nicht mehr und nicht weniger. Lesbisch mit pinken Haaren.
Und diese Veränderung tat gut. Sie hielt mein Leben lang. Und ich war glücklich. Ich hätte nie gedacht, dass mir sowas passiert, aber das hatte ich mir gewünscht! Eine unantastbare, verrückte und einzigartige Veränderung.
Ich hatte mich nun endlich gefunden. Ich begriff den Begriff "Veränderung". Denn eigentlich hatte sich nichts verändert. Nur meine Denkweise war anders geworden. Deshalb hatte sich mein Leben verändert.
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