XXXVII | Auffliegen
Es war vollkommen still im Wohnzimmer. Nicht mal ein Stäbchen kratzte an der Topfwand. Nur die eindringlichen Worte der Reporterin waren zu hören. Matildes Entdeckung war öffentlich geworden, jeder wusste davon. Wir waren zu spät. Wir hätten es nicht so lange aufschieben dürfen. Denn jetzt konnten wir kaum mehr etwas tun. Bereits in wenigen Minuten würde die Welt im Chaos versinken.
„Scheiße", entfuhr es Luis. Und gab somit den Startschuss.
Alle redeten durcheinander, von jedem bekam ich nur einzelne Wörter mit. Chaeng schrieb anscheinend etwas an Jihoon und ihre Eltern, Tae und Laurie diskutierten wieder, Jean mischte sich ebenfalls ein. Luis fing an, auf Chaeng einzureden. Es wurde zu laut, zu viel.
Ich murmelte eine kurze Entschuldigung und verschwand auf der Toilette. Dort setzte ich mich auf den Klodeckel und öffnete die Startseite der WorldNews. Mit laut pochendem Herzen las ich die neusten Einträge des Live-Tickers zu den Avirei. Es wurden immer mehr Interviews angesetzt, mit allen Beteiligten. Abgeordnete des Weltkongresses, Experten, Verschwörungstheoretiker. Wie es aussah, hatte sie ihre Ergebnisse an eine Wissenschaftszeitschrift für Physik geschickt und diese hatte dafür exklusive Ausgaben gedruckt. So war es auch direkt an die Presse auf der ganzen Welt geraten und hatte sich wie ein Lauffeuer verbreitet.
Intuitiv öffnete ich WhatsApp und schickte ihr eine kurze Nachricht. Sie kam nicht an, immer noch nicht. Und das, obwohl gleich mehrere Quellen berichteten, Matilde in Oslo gesehen zu haben.
Da es niemanden weiterbrachte, wenn ich mich bis zum Abend auf der Toilette versteckte, kehrte ich zurück zu den anderen. Sie waren nach wie vor am Diskutieren, ihre Stimmen kamen selbst im Flur deutlich zu mir durch.
Als ich mich zurück an den Tisch setzte, war der Einzige, der es bemerkte, Luis. „Hat sie geantwortet?", flüsterte er. Er kannte mich zu gut.
Ich schüttelte den Kopf und versuchte, die Diskussionen auszublenden. Dass die Entdeckung eine entscheidende Wendung in der Geschichte sein würde, hatte ich schon vorher erkannt. Nun würde es nur noch eine Frage der Zeit sein, bis jemand aufdeckte, dass die Regierungen die Existenz der Außerirdischen vorenthalten hatten. Dann würde es auch mit der Stabilität des gesamten Planeten vorbei sein.
Die nächste potentielle Apokalypse hatte begonnen, auch wenn es den meisten noch nicht klar war. Und das Schlimmste daran war, dass ich es hätte verhindern können.
***
Trotz der Nachrichten bestand Tae darauf, unseren Plan für heute weiterzuverfolgen. Chaeng und ich wären zwar lieber zu Hause geblieben, doch er meinte, wir hätten die Ablenkung nötig. Unterstützt wurde er dabei auch von Evyen. Sie kam genauso geschockt nach Hause wie wir es gewesen waren, war aber vollkommen seiner Meinung.
So kam es, dass wir nun auf unseren Plätzen auf dem ersten Rang saßen und uns seit über einer Stunde von der Darstellung berieseln ließen. An sich war es eine äußerst interessante und schöne Oper, doch zu keinem Zeitpunkt konnte ich mich vollkommen entspannen. Meine Gedanken rutschten immer wieder zu Matilde und den Avirei ab. Die Ungewissheit, wann sie ihren nächsten Zug machen würden, zermürbte mich innerlich.
Es waren mehrere Stunden seit der Verkündung der Nachrichten vergangen. Es wurden Interviews geführt, die Parlamente und Kongresse setzten sich zusammen und die Nachrichten überfluteten einen mit neuen Informationen. Dadurch verbreitete sich auch unter den Menschen Panik. Es war bekannt, dass Außerirdische sich äußerlich nicht von Menschen unterschieden, was die Angst natürlich ebenfalls schürte. Auch jetzt, wo jeder seinen Airscreen hatte ausschalten müssen und niemand etwas sagte, war die Anspannung deutlich spürbar.
Nach einer gefühlten Ewigkeit schloss sich der Vorhang endlich und die Lichter erhellten den Saal. Hinter uns öffneten sich die Türen zur Pause.
Doch anstatt wie üblich aufzustehen und den Saal unter stetigem Gemurmel zu verlassen, blieb der Großteil einfach sitzen. Um uns herum flackerten die Airscreens auf, die Gespräche schwollen zu einem lauten Hintergrunddröhnen an.
„Lass uns rausgehen", sagte Chaeng. „Das hier ist mir zu voll."
Der breite Flur vor den Türen war ungewöhnlich leer. Wir hatten einen Tisch mit Getränken reserviert, an den wir uns zurückzogen. Außer uns waren nur ungefähr zehn Leute rausgekommen.
Sobald wir den Tisch erreicht hatten, nahm sich Tae ein Beispiel an den Leuten im Saal und zückte den Airscreen. Dann sog er scharf die Luft ein.
„Es ist eskaliert", berichtete er auf unsere fragenden Blicke hin. „Einige Avirei haben sich in Interviews als Außerirdisch erkannt gegeben und Linti hat die Situation ausgenutzt. Sie haben die gesamte Geheimhaltunsgeschichte auffliegen lassen."
Chaeng fluchte. „Was kommt als nächstes? Die Silvereyes-Experimente?"
„Nicht so laut", warnte ich sie und sah mich um. Zum Glück schienen alle anderen auf dem Flur in eigene Gespräche verwickelt zu sein.
Chaeng sah schuldbewusst drein. „Tut mir leid."
„Alles gut, hat glücklicherweise niemand gehört", beruhigte ich sie. „Was haben sie noch alles erzählt?"
„Erstaunlicherweise nicht viel", sagte Tae. „Nur die Sache mit dem Geheimnis. Was an sich aber schon genug ist. Das Vertrauen der Bürger haben die Regierungen sich damit verspielt."
Während er noch redete, tippte Chaeng auf ihrem eigenen Airscreen herum. Ich warf einen kurzen Blick auf das Display.
„Wen rufst du an?"
„Jihoon", sagte sie. „Er geht nicht dran. Yunai auch nicht, selbst meine nervige Cousine nicht."
„Und wie ist es mit deinen Eltern?"
Auf der Stelle tippte sie auf einen anderen Kontakt. Es dauerte kaum einen Herzschlag, bis auch schon ihr Vater abnahm. Chaeng begann, ihn in hastigem Koreanisch mit Fragen zu beschießen. Obwohl ich die Sprache schon seit klein auf lernte, hatte ich Schwierigkeiten, dem Gespräch zu folgen. Ich war deutlich außer Übung.
„Mach mal den Lautsprecher an", sagte Tae.
„Und könnten wir eventuell auf Chinesisch wechseln?", fügte ich hinzu.
Ohne ihren Redeschwall zu unterbrechen, setzte Chaeng unsere Einwände in die Tat um. So verstand ich zum Glück einiges mehr.
Zuerst kreiste das Gespräch um Taes Seite der Familie. Jihoon war beim Kongress, Yunai gab Interviews, ihre Tochter war bei Freunden.
„Wo seid ihr gerade?", fragte Chaengs Vater anschließend.
„Irgendein Opernhaus. Warum?", antwortete sie.
„Dann habt ihr Glück. Kommt euer Moby bis vor die Tür oder müsst ihr noch laufen?"
„Wir müssen noch ein paar Meter durch die Innenstadt. Worauf willst du hinaus?"
„Unruhen", raunte Tae ihr zu. Chaeng wurde blass.
„Tae hat recht", bestätigte ihr Vater. „Seitdem die Katze aus dem Sack ist, versammeln sich die Leute auf den Straßen. Derzeit ist es noch recht friedlich, zumindest in wohlhabenderen Städten. In anderen gab es bereits gewaltsame Ausschreitungen. Ich fürchte, die werden sich bald auch auf Städte wie Edinburgh oder Seoul ausweiten."
„Und was machen wir jetzt?", fragte Chaeng panisch.
„Die Ruhe bewahren. Alles wird gut. Ich empfehle euch nur, so bald wie möglich nach Hause zu fahren. Selbst in Opernhäusern kann unter den richtigen Umständen eine Prügelei entstehen."
Plötzlich ertönte von unten ein Knall, gefolgt von einem schrillen Schrei. Ich zuckte zusammen. Chaeng ließ vor Schreck fast den Airscreen fallen. Eine Ansage ertönte: „Verehrte Gäste, bitte begeben sie sich sofort in den Saal. Ich wiederhole, bitte begeben sie sich sofort in den Saal."
Tae war der Einzige, der noch reagierte und den Anruf beendete. Dann griff er nach einer unserer Flaschen.
„Wir müssen hier weg. Sofort."
Ohne zu wissen, warum wir nicht in den Saal gingen, folgten wir ihm zum Treppenhaus. Von unten kamen hektische Schritte die Treppe hoch. Wir taten dasselbe und stiegen immer höher. Ganz oben gelangten wir zu einer Tür mit der Aufschrift Personal. Achtung, Absturzgefahr. Tae schob uns durch die Tür und schloss sie wieder.
Glücklicherweise war von der Absturzgefahr noch nicht viel zu sehen. Wir befanden uns lediglich in einem kleinen Raum, von dem aus es auf das Gestell über der Bühne ging. Sollte jemand uns hier finden, war das unsere letzte Fluchtmöglichkeit.
„Warum sind wir nicht im Saal?", fragte ich. Tae legte einen Finger auf die Lippen. Da hörte ich es auch. Es gab noch eine dritte Tür zu diesem Raum, und genau dort drehte sich nun ein Schlüssel im Schloss.
Tae riss den Zugang zum Bühnengestell auf. Dort war nichts abgeschlossen. Ob das Glück oder Pech war, war ich mir nicht ganz sicher. Als erste winkte er Chaeng durch. Sie setzte einen vorsichtigen Schritt auf das Gebälk. Ihr Blick war von Horror erfüllt.
„Mach schon", drängte Tae. Sie machte einen Schritt nach vorne und verlor beinahe das Gleichgewicht. Ich folgte ihr und hielt sie fest.
„Danke", murmelte sie. Dann machte sie einen weiteren, quälend langsamen Schritt. Tae hinter uns schloss die Tür hastig.
„Chaeng, was wird das da vorne?", fragte er mit schneidender Stimme. „Wir müssen weiter, und zwar schnell."
Sie heftete ihren Blick starr nach vorne. „Noch nie was von Höhenangst gehört?"
„Du lebst in einem Apartment im vierzigsten Stock!"
„Ist mir bewusst. Erinnerst du dich noch an den Kletterpark von vor fünf Jahren? Das hier ist dasselbe, nur noch schlimmer."
Die Panik in ihrer Stimme ließ ihn kurzzeitig verstummen. „Gut, dann mach langsam. Aber wir dürfen nicht stehen bleiben."
Gerade als er seinen Satz beendet hatte, flog die Tür auf und ein breiter, bärtiger Mann stand im Eingang. „Was macht ihr denn...", begann er. Dann fiel sein Blick auf Chaeng und Tae.
„Bist du nicht die kleine Nichte von Kim? Und du sein Sohn?"
Chaeng starrte verbissen nach vorne und Tae antwortete aus Prinzip nicht. Nervös beobachtete ich, wie sich die Brust des Mannes immer schneller hob und senkte. Er machte einen Schritt auf uns zu.
„Noch zwei von der geheimkrämerischen Sorte, was? Soll ich euch mal sagen, was ich von so etwas halte?"
Chaeng stand wie erstarrt da, während er immer näher und näher kam. „Gar nichts", rief er. Mit einem Knall landete das Heft, das er getragen hatte, auf dem Boden.
Danach ging alles sehr schnell. Chaeng verlor das Gleichgewicht und kippte vom Balken. Gleichzeitig steckte mir Tae die Flasche zu und streckte den Arm nach Chaeng aus. Ob er sie zu fassen kriegte, bekam ich nicht mehr mit. Mit einem Hechtsprung katapultierte ich mich in die Luft und kam schwankend auf dem benachbarten Balken an. Der Mann war immer noch so fixiert auf meine Freunde, sodass er nicht bemerkte, wie ich von der Seite auf ihn zu kam.
Als ich nah genug war, holte ich aus. Die Flasche traf auf seinen Kopf und er ging zu Boden. Erschrocken ließ ich sie los. Was tat ich hier eigentlich gerade?
Doch der Blick zu den anderen reichte, um mich wieder daran zu erinnern. Innerhalb des Bruchteils einer Sekunde war ich bei ihnen und half Tae, Chaeng zurück auf den Balken zu ziehen. Sie war noch halb in Schockstarre, als wir zurück in den Raum hasteten.
Von dort aus ging es zurück ins Treppenhaus, dann die Treppe runter. Niemand kam uns entgegen, bis wir die Eingangshalle des Opernhauses erreichten. Es waren einige Leute hier unterwegs, es war ein Getümmel aus Sicherheitspersonal, Opernbesuchern und Menschen von der Straße.
Wir drängten uns durch die Menge, möglichst unauffällig. Bis nach draußen schafften wir es, unerkannt zu bleiben. Aber dort rief jemand plötzlich: „Kim Chaeyoung! Ein paar Fragen zu der Alien-Krise!" und mit der Anonymität war es vorbei.
Wir rannten durch die Menschenmassen, schoben Leute mehr oder weniger sanft zur Seite. Es wirkte, als würden es immer mehr werden. Vermutlich war es auch so. Aber wo wir vorher nur ziellos weggerannt waren, wusste ich nun, wo wir waren.
Ich navigierte uns um ein paar Ecken in schmalere Gassen. Irgendwann waren wir wieder in die Richtung unterwegs, aus der wir gekommen waren. Wir waren die ganze Zeit in Richtung Innenstadt gelaufen, dabei war das gerade der Ort, wo wir besser nicht hinsollten.
Ich schlug noch ein paar Haken, dann war es wieder still hinter uns. Der Mob hatte die Fährte verloren. Oder einfach aufgegeben. Lief jedoch beides aufs selbe hinaus.
Zwei Straßen weiter drosselte ich das Tempo. Erst jetzt spürte ich, wie meine Füße schmerzten. Mit Schuhen mit Absatz zu rennen war eine ganz schlechte Idee gewesen. Aber immerhin waren es keine zehn-Zentimeter-Absätze gewesen.
„Meine Jacke", keuchte Chaeng.
„Deine Jacke ist mir sowas von egal", fuhr Tae sie an. „Du hast dir eben fast das Genick gebrochen!"
„Nicht reden, laufen", sagte ich. Mein bestimmter Tonfall beendete ihren Protest abrupt.
Es dauerte noch eine Weile, bis wir den Rand der Fußgängerzone erreicht hatten. Im Gehen bestellte ich uns ein Moby ein paar Ecken weiter. Ich atmete erleichtert auf, als ich sah, dass es bereits in einer Minute da war.
Doch erst als wir in dem weißen Fahrzeug saßen und die Türen sich geschlossen hatten, konnte ich mich wieder halbwegs entspannen. Wir waren auf dem Weg nach Hause. Endlich.
Nur eine Frage kreiste noch in meinen Gedanken: Wie hatte es so schnell eskalieren können?
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro