XXXIX | Postfächer
„Aufwachen, Freunde!" Chaeng platzte ins Zimmer und riss die Vorhänge auf. Das Licht drang selbst bis zu mir durch und leuchtete rot hinter meinen Augenlidern.
Verschlafen sah ich auf. Es war gerade mal sieben Uhr. „Wir haben Ferien", murmelte ich und schloss die Augen wieder. Ich war noch lange nicht ausgeschlafen.
„Richtig. Und für mich heißt Ferien nicht, den ganzen Tag depressiv im Haus herumzusitzen, nur weil irgendwelche Verrückten einen lynchen wollen. Dann hätte ich mich schon längst in eine Höhle verziehen müssen und bis heute nicht rauskommen dürfen."
Spätestens jetzt war ich wach. Geistig zumindest. Körperlich sah das noch ganz anders aus.
„Und dein Programm kannst du nicht erst ab neun starten?"
„Nein", erklärte sie energisch. „Ich war schon bei diesem francoallemagnischen Bäcker um die Ecke und habe Frühstück besorgt. Bei dem habe ich mich gleich auch nach einem Wanderweg in der Nähe erkundigt."
„Wandern?", kam es entsetzt von Tae.
„Ja, wandern", sagte sie schnippisch. „Was dagegen?"
„So eini-"
„Dann wäre das ja geklärt", schnitt Chaeng ihm das Wort ab. „Also, heute Vormittag wandern. Nel meinte, um vier hätte sie Schwimmen. Da können wir doch bestimmt mitkommen, oder?"
„Nach dem Wandern auch noch Schwimmen? Setz dann doch gleich einen Marathon auf die Liste!"
„Marathon? Den haben wir am Sonntag schon abgehakt. Dieses Gerenne war genug für eine Woche."
„Ach, auf einmal?"
„Was heißt hier auf einmal? Wandern ist äußerst entspannt und Schwimmen wird bestimmt auch gut. Ich will auch nicht bei Nels üblichem Programm mitmachen. Bestimmt gibt es da auch Whirlpools oder sowas in der Art."
„Mach dir da nicht zu viele Hoffnungen", sagte ich. „Die sind rund um die Uhr von Senioren belegt."
Chaeng grinste diabolisch. „Das regle ich schon, mach dir da mal keine Sorgen."
„Wenn sich dann jemand bei mir über dich beschwert, ich habe dich noch nie in meinem Leben gesehen." Ich konnte Taes gequälten Gesichtsausdruck förmlich vor mir sehen.
„Spielverderber", trällerte Chaeng derart schief, dass auch jedes Stückchen Müdigkeit, das noch in mir geblieben war, Reißaus nahm. Missmutig kletterte ich aus dem Bett.
„Von mir aus können wir deinen Plan machen", sagte ich. „Aber bitte hör auf mit dieser Qual für meine Ohren."
Sie sah mich provozierend an, während sie anfing, Alle meine Entchen zu singen. Schnell versteckte ich mich im Bad.
***
Das Wandern war nicht mal eine halb so schlechte Idee gewesen wie gedacht. Es war sogar ziemlich amüsant, denn keiner von uns wusste, wo es lang ging. Letztendlich folgten wir einfach willkürlich irgendwelchen Wegen, bis wir komplett im Nichts gelandet waren. Dafür war die Landschaft wunderschön. Wir kamen an diversen Seen und sogar an einem kleinen präkalyptischen Dörfchen vorbei.
Auch das Schwimmen war äußerst entspannt. Was zum Großteil daran lag, dass dieses Mal nur Enya kam. Sie hatte eine sehr ausgeglichene Art und das zeigte sich auch beim Schwimmen. Man musste außerdem positiv vermerken, dass sich tatsächlich kein einziger Rentner über Chaeng beschwerte. Tae hingegen schloss sich zeitweise Enya und mir an, den Rest der Zeit verschwand er spurlos irgendwo hin.
Als wir wieder nach Hause kamen, war ich zwar erschöpft, aber auf eine gute Art und Weise. Die Zeit draußen und im Wasser hatte uns allen gutgetan. Rückblickend war ich froh darüber, dass Chaeng die Sache mit ihrer scheinbar endlosen Energie in Angriff genommen hatte.
Was die Proteste und Unruhen anging, hatte sich die Situation im Vergleich zu Sonntag deutlich gelegt. Sie waren nicht verschwunden, aber lang nicht mehr so schlimm wie zuvor. Vor allem begrenzten sie sich nur noch auf die Straßen, in Gebäuden hatte man grundsätzlich seinen Frieden. Laut den Nachrichten war Edinburgh da jedoch ein Einzelfall. In anderen Städten, Seoul inklusive, war nach wie vor die Hölle los.
Als Chaeng, Tae und ich allerdings im Wohnzimmer saßen und Chaeng irgendein Kartenspiel auspackte, klingelte es an der Tür. Meine Freundin warf einen vorwurfsvollen Blick in Richtung Flur. „Wehe, das ist wieder so ein Werbungsfuzzi. Oder der verwirrte Postbote von heute Morgen."
„Ich gehe schon." Ergeben stand ich auf und ging zur Tür.
„Hey", sagte Luis, als ich aufgemacht hatte.
„Was machst du denn hier?", fragte ich erstaunt.
„Luis?", rief Chaeng aus dem Wohnzimmer. „Wurdest du von zu Hause rausgeschmissen, oder womit haben wir die Ehre verdient?"
„Es gibt Neuigkeiten von Matilde", sagte er.
„Wenn das so ist, komm rein", kam es von Chaeng.
„Es ist nicht dein Haus", rief ich zurück, kam aber zusammen mit Luis zurück ins Wohnzimmer. „Also, was für Neuigkeiten sind das?"
Er stellte Großbild auf seinem Airscreen ein und hielt ihn so, dass wir ihn sehen konnten. Es war das Nachrichtenstudio der WorldNews zu sehen.
„Heute um fünf Uhr begann eine exklusive Veranstaltung, in der die Experimente von Matilde Delgado dargestellt werden", sagte die Sprecherin. „Ich übergebe an Robert Dahlmann in Oslo."
Es wurde in ein kleineres Fenster reingezoomt. Dort stand ein schwarzhaariger, stämmiger Mann vor dem Versus-Standort.
„Exklusive Veranstaltung?", empörte sich Chaeng. „Ohne mich?"
„Shht", machte ich. Eingeschnappt verschränkte sie die Arme vor der Brust.
„Wie meine Kollegin bereits sagte, findet hier im Moment die Vorstellung der Außerirdischen Versuche der Nachwuchsphysikerin Matilde Delgado statt. Es sind einige bedeutende Wissenschaftler sowie führende Persönlichkeiten in Politik und Wirtschaft anwesend. Es soll die erste Veranstaltung sein, bei der Miss Delgado persönlich anwesend ist."
Das Bild wechselte zurück zu der Sprecherin. „Wie ist die Stimmung? Lassen sich wie in vielen anderen Städten Unruhen spüren?"
„Die Stimmung hier ist sehr angespannt", sagte der Reporter. „Vor den Ausgängen des Gebäudes befinden sich hunderte von Vertretern von Zeitungen. Niemand weiß, was genau im Inneren vorgeht. Auch beim Eintreffen hat sich keiner der Eingeladenen zu der Veranstaltung geäußert. Es bleibt zu hoffen, dass wir in einigen Stunden mehr wissen werden.
Was die Unruhen angeht, würde ich sie hier als mäßig einstufen. Die allgemeine Atmosphäre ist unverändert aufgebracht, jedoch hat dies kaum etwas mit dem sich hier befindenden Standort der Arthur-Versus-Gesellschaft zu tun. Es haben sich lediglich Schaulustige auf den Straßen in der Nähe versammelt. Die hauptsächlichen Unruhen finden sich in anderen Stadtvierteln."
Der Fokus wechselte zurück ins Studio. „Danke an Robert Dahlmann aus Oslo. In New Sydney tagt nun das Weltbundgericht. Es..."
Luis schaltete den Airscreen wieder aus und setzte sich zu Chaeng aufs Sofa. „Also, was machen wir jetzt?"
„Die Gerüchte stimmen also, sie ist die ganze Zeit in Oslo gewesen", stellte ich fest. „Fragt sich, warum wir sie trotzdem nicht erreichen konnten."
„Wisst ihr was?", sagte Chaeng. „Ich rufe da jetzt an. Vielleicht ist ihr ja auch nur der Airscreen kaputtgegangen."
„Habe ich schon versucht. Es geht nur irgendeine gelangweilte Dame dran, die einen so schnell wie möglich abwürgen will." Ich verzog das Gesicht bei der Erinnerung an dieses äußerst unproduktive Telefonat.
„Ein zweites Mal kann nicht schaden. Außerdem wählt es schon." Sie hielt ihren Airscreen hoch. In dem Moment nahm jemand ab.
„Arthur-Versus-Gesellschaft Oslo, Daniella Hartlind", kam es aus den Lautsprechern.
„Mit der hab ich auch geredet", raunte ich Tae zu. Er sah mich halb verzweifelt, halb hilflos an.
„Hallo, hier ist Kim Chaeyoung. Können sie Matilde Delgado etwas ausrichten?"
„Miss Delgado ist gerade nicht ansprechbar", antwortete die Versus-Dame gelangweilt.
„Das ist mir durchaus bewusst, deshalb frage ich ja Sie."
„Nun, tut mir leid, Sie enttäuschen zu müssen, aber da sind Sie nicht die einzige. Ich bin kein Postfach. Sonst noch was?"
„Nein, danke."
Ohne sich zu verabschieden legte Chaeng auf. „Kann man irgendwo den Service dieser Gesellschaft bewerten? Oder direkt die Mitarbeiter? Das war ja eine Zumutung!", regte sie sich auf.
„Stimmt. Was jetzt?", fragte Luis.
Ich sah ratlos in die Runde. „Ehrlich gesagt fällt mir außer Vorbeikommen nichts anderes ein. Obwohl..."
„Ja?" Chaeng warf mir einen interessierten Blick zu.
„Erinnerst du dich noch an Ali? Der, der mir mit dem Einbruch geholfen hat?"
Luis und Tae schauten mich verwirrt an, doch Chaengs Miene hellte sich auf. „Klar erinnere ich mich noch. Du vergisst, wie gut mein Personengedächtnis ist."
„Und diesen Ali wollt ihr jetzt anrufen?", fasste Luis zusammen.
„Mit etwas Glück hat doch niemand bemerkt, wie er sich in Matildes Kamera gehackt und mir geholfen hat", erklärte ich.
„Ich mag die Idee." Chaeng strahlte. „Ich vermute, du hast seine Nummer?"
Ich nickte und tippte auf den Kontakt. Quälend langsam ertönte ein Tuten. Dann endlich eine Stimme: „Wenn Sie wieder einer dieser Reporter sind, werde ich sofort wieder auflegen."
„Nicht auflegen", sagte ich hastig. Einen Moment herrschte Stille.
„Nel?", fragte Ali.
„Ja, ähm... hi."
„Nett, mal wieder von dir zu hören! Und, wie steht es mit deiner Florence-Angelegenheit?"
„Komplett eskaliert. Aber das ist nicht der Punkt. Bist du zufällig immer noch in Oslo?"
Chaeng, Tae und Luis starrten alle gespannt auf den Bildschirm, während ich fragte.
„Was glaubst du, warum ich die ganze Zeit von Reportern torpediert werde?", sagte Ali. „Vielleicht hätte ich mich doch am Sicherheitssystem versuchen sollen."
„Dafür bekommst du jetzt eine neue Möglichkeit", mischte sich Chaeng ein. „Glaubst du, du kannst uns irgendwie Matilde herschaffen?"
Ali fing plötzlich an zu husten. Chaeng und ich wechselten einen irritierten Blick.
„Tut mir leid, ich habe mich nur verschluckt. Hi, Chaeyoung."
„Hi. Nur zur Vorwarnung, falls die beiden sich auch am Gespräch beteiligen wollen: Es sind auch noch mein Freund und mein Cousin da. Also, denkst du, du schaffst das?"
Eine Zeit lang hörten wir nichts. „Ali?", fragte ich vorsichtig ins Mikrofon.
Er räusperte sich. „Alles gut. Ja, klar. Ich kann's versuchen. Jetzt oder passt auch später?"
„Je früher, desto besser", sagte Chaeng.
„So eilig ist es nicht", verbesserte ich. „Du brauchst sie nicht von dieser Veranstaltung runterholen."
Ali atmete erleichtert auf. „Das ist gut. Es wird ohnehin schon schwierig genug."
„Warum das?", fragte ich neugierig.
„Seitdem sie weg war, ist sie kaum mehr auf unserem Flur. Und wenn, dann nur mit irgendeiner Begleitung. Ich meine, grundsätzlich verständlich, wenn man ihre Entdeckung betrachtet. Aber eben unpraktisch für uns." Im Hintergrund hörte man Schritte. „Ich rufe später nochmal zurück", flüsterte er. „Wenn ich sie gefunden habe." Die Geräusche verstummten und der Bildschirm veränderte sich zurück zu der Kontaktliste.
„Das war definitiv weiterbringender als diese Telefon-Tante", stellte Chaeng zufrieden fest. Dann hielt sie das Kartenset hoch. „Hat wer Lust auf Poker?"
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