XXVII | Zu viel
Sie verschränkte die Arme vor der Brust. „Wie soll das deiner Meinung nach funktioniert haben? Du weißt, dass ich zu dem Zeitpunkt hier war. Habe ich mich einfach aus der Stadt gebeamt oder was?"
Schon wieder hatte sie recht. Doch diesmal würde es ihr nichts bringen. „Vielleicht hast du nicht direkt mitgeholfen. Aber davon gewusst hast du auf jeden Fall, genauso wie du jetzt schon von den nächsten Plänen weißt und dieses Mal auch die Stadt verlässt."
„Du springst gerade ziemlich schnell zu irgendwelchen Schlussfolgerungen, ich hoffe, das merkst du selber."
Das stimmte. Doch ich war es leid, immer darauf zu warten, dass mich der nächste anlog. Dass jeder nur seine eigenen Ziele verfolgte und keine Rücksicht darauf nahm, ob er mich in die Sache mit reinzog.
„Mag sein. Wie erklärst du dann, dass du mich eigentlich gar nicht in Cassidys Büro haben wolltest? Oder, dass du kaum überrascht von dem Inhalt des Briefs warst?"
„Das solltest du am besten wissen. Besonders überrascht hast du auch nicht gewirkt, als du den Brief gelesen hast."
„Du hast mich mitten in der Nacht in ein fremdes Büro geschleppt, wo jeden Moment jemand reinkommen könnte! Klar hatte ich da andere Sorgen!"
Ich war froh, dass kein Regen in der Nähe war. Sonst wären die Scherben wahrscheinlich herumgewirbelt wie sonst was.
„Herumschreien bringt nichts außer unnötiger Aufmerksamkeit", entgegnete sie. „Wir sehen uns in ein paar Tagen wieder."
Ich ignorierte ihren letzten Satz. „Von den Aliens wusstest du auch schon, oder? Gab es eigentlich irgendwas, wobei du mir gegenüber ehrlich warst?"
„Bis bald." Candice winkte mir zu, dann ging sie.
Ich kochte vor Wut und Enttäuschung. Wie konnte ich mich so oft in Menschen irren? Wie konnte jeder seine Spiele mit mir spielen und ich war am Ende immer wieder überrascht? Bedeutete ich ihnen wirklich so wenig?
Meine Hände ballten sich zu Fäusten, so fest, dass sich die Fingernägel in meine Handflächen bohrten. Ich musste dem ein Ende setzen. Hier und jetzt.
Mit schnellen Schritten lief ich durch die Bibliothek. Ich wusste nicht, ob jemand meinen Weg kreuzte, ob es irgendetwas gab, das ich bemerken sollte. Ich wusste nur, wo mein Ziel lag.
Eine weitere Tür zu einem Wohnkorridor zog vorüber. Durch die nächste ging ich und hämmerte geradewegs an Evyens Zimmertür. Einmal, zweimal. Beide Male lauter, als mein Wecker mich normalerweise aus dem Schlaf riss.
Es dauerte tatsächlich nur wenige Sekunden, bis Evyen aufmachte. Ihr Haar war zerzaust, ihre Augenlider schwer.
„Nel?", sagte sie überrascht.
Ich drückte mich an ihr vorbei in das Zimmer. In der Mitte blieb ich stehen und wartete, bis sie die Tür geschlossen hatte.
„Warum hast du dich in einem Lagerraum mit Florence Southcliffe getroffen? Und was hattest du im Archiv zu suchen?" Meine Stimme war schneidend.
„Vor ein paar Tagen?", hakte sie nach. Ich nickte.
„Florence und ich kennen uns tatsächlich schon ein bisschen länger und als ich erfahren habe, dass sie auch hier ist, habe ich sie treffen wollen. Es gab allerdings ein paar Fragen, die nicht für jedermanns Ohren bestimmt war, daher der Lagerraum. Und genau diese Fragen wollte ich auch im Archiv klären."
„Wie bist du durch den Haupteingang gekommen?"
„Florences hat mir ihre Freigabe sozusagen... ausgeliehen."
Mein Zorn flaute immer mehr ab. Sie hatte eine Erklärung. Sie war nicht plötzlich eine von den Außerirdischen, und ich hatte es wieder nicht gewusst.
„Florence und du scheint ja wirklich gut befreundet zu sein."
Evyens geschwungene Lippen verzogen sich zu einem schmalen Lächeln. „Als du noch klein warst, habe ich so einige Veranstaltungen zusammen mit ihr besucht und von mir kam auch die Idee, sich bei Versus zu bewerben. Das ist natürlich nie an die Öffentlichkeit geraten, Florence war damals schließlich noch nicht besonders bekannt. Und so kommt es, dass wir uns eigentlich ziemlich gut kennen, uns aber Ewigkeiten nicht mehr gesehen haben."
Meine Knie begannen vor Erleichterung an zu zittern. Immerhin in einer Person hatte ich mich nicht getäuscht. Zumindest nicht ein zweites Mal. Ohne, dass ich es wollte, schossen mir Tränen in die Augen.
Sofort war Evyen bei mir und nahm mich fest in den Arm. Ich vergrub mein Gesicht in ihrer Schulter. Die Tränen flossen nun ungehemmt. Hätte sie mich nicht gehalten, hätten auch meine Beine unter mir nachgegeben.
„Ich kann das nicht mehr", schluchzte ich zwischen zwei Heulkrämpfen. „Das Training, Rachel, Candice..." Meine Stimme versagte erneut und ich brachte nichts weiter außer einer neuen Flut an Tränen hervor.
Beruhigend strich mir Evyen über den Rücken. „Alles wird gut. Ich verspreche es dir."
Leider verfehlten die Worte ihren Zweck und ich musste nur noch stärker weinen. Der Punkt, an dem es zu viel wurde, war endgültig erreicht. Irgendwann ging es einfach nicht mehr, seinen tiefsten Ängsten jeden Tag aufs Neue ins Auge blicken zu müssen. Ich wunderte mich ohnehin, wie ich es so lange durchgehalten hatte, ohne zusammenzubrechen.
Ich weinte und weinte, bis keine Tränen mehr übrig waren. Dann ließ ich mich erschöpft zum Bett führen. Es tat gut, nicht mehr alleine stehen zu müssen.
„Weißt du was", sagte Evyen schließlich, „ich werde mit Jade sprechen und das Training die nächsten Tage absagen. Dann ist zumindest schonmal ein Problem gelöst."
„Geht das so einfach?" Meine Stimme war rau.
„Wenn nicht, sorge ich dafür, dass es funktioniert."
Unwillkürlich zuckte mein Mundwinkel bei der Vorstellung, wie Evyen und Jade aneinandergeraten würden. Dann jedoch erinnerte ich mich wieder daran, was für eine Hölle mein Leben gerade war.
„Tut mir leid, dass ich fragen muss, aber was hast du eigentlich im Archiv gemacht?" Sie klang, als ob ich jeden Moment aufs Neue zusammenbrechen könnte.
Einen Moment überlegte ich, doch dann sagte ich: „Rachel hat etwas von einem avireischen Erbe erzählt. Ich wusste, dass Candice Wege ins Archiv kennt und wollte Nachforschungen machen. Wusstest du, dass es Aliens auf der Erde gibt?"
Sie warf mir einen vorsichtigen Blick zu. „Tatsächlich ja. Deshalb habe ich dir Rachels Tagebuch gegeben. Ich dachte, es ist besser, du erfährst ihre außerirdische Abstammung von ihr persönlich."
„Und was ist mit dir? Bist du auch avireisch?"
Ich hatte ein wenig Angst vor der Antwort. Doch es stellte sich heraus, dass sie völlig unbegründet war.
Evyen lachte auf. „Ich avireisch? Wie kommst du denn darauf?"
Ich zog die Knie näher an meine Brust. „Nur so. Candice und ich glauben, dass die meisten hier unten außerirdisch sind."
„Und damit habt ihr auch recht."
„Echt?" Meine Stimme schoss unangenehm in die Höhe.
Evyen nickte. „Jedenfalls, was die Leute mit einer höheren Stellung angeht. Selbst Florence ist halb avireisch."
„Wie Rachel."
„Genau. Deine Mutter ist auch nur wegen ihren avireischen Vorfahren überhaupt in das Silvereyes-Projekt reingeraten. Aber hör dir das lieber selber an."
Ich machte ein zustimmendes Geräusch. „Und was ist mit der Überflutung in Luanda?"
„Was ist damit?"
„Wusstest du auch, dass sie bei weitem nicht natürlich war?"
„Das haben alle halbwegs kompetenten Experten gesagt. Warum?"
Ich zögerte kurz. „Weil Dr. Ning und Cassidy dafür verantwortlich sind."
Damit war es raus. Jetzt wusste Evyen alles. Es fühlte sich an, als wäre eine riesige Last von meinen Schultern genommen worden. Womöglich hätte ich die Sache mit Luanda am besten für mich behalten, aber ich wollte nicht noch mehr Druck. Meine Kräfte reichten schon völlig aus, warum mussten immer noch mehr Geheimnisse dazukommen?
„Bist du dir da sicher?", fragte Evyen, plötzlich ernst.
„Ja, ich habe einen Brief an Cassidy gelesen. Und in fünf Tagen soll ein weiterer Anschlag geschehen."
Ihre Stirn war beunruhigt in Furchen gelegt. „Wo hast du diesen Brief gefunden?"
„In Cassidys Büro. Wir mussten das Siegel brechen, daher wird sie wissen, dass Candice und ich da waren."
Wenn das möglich war, wurde Evyens Miene noch besorgter. „Ich werde mich darum kümmern. Um Cassidy und den Anschlag. Und um das Training natürlich."
„Danke." Ich schloss kurz die Augen.
„Das ist das mindeste, was ich für dich tun kann. Immerhin habe ich dir das alles hier eingebrockt."
Ich antwortete nicht. Stattdessen rollte ich mich auf dem Bett zusammen, mein Körper bleischwer vor Erschöpfung. Kurz bevor ich wegnickte, fiel mir jedoch noch etwas ein.
„Candice wusste von Luanda. Und von dem Anschlag in fünf Tagen. Und von den Aliens vermutlich auch."
Was Evyen darauf antwortete, bekam ich nicht mehr mit. Meine Augen fielen mir zu und ich sank in einen tiefen, ruhigen Schlaf.
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