XXIX | Florence
„Was machst du hier?", zischte ich.
Er erwiderte meinen Blick, ohne zu blinzeln. „Dasselbe könnte ich dich auch fragen. Genauso wie warum du eben aus der Küche gekommen bist, in der du absolut nichts zu suchen hast."
Ich verschränkte die Arme vor der Brust. „Woher willst du das wissen? Wie lang bist du schon hier? Ein paar Stunden?"
„Zwei Tage. Und im Gegensatz zu dir nicht zum ersten Mal. Also, was willst du in der Küche? Essen wohl weniger."
„Selbst wenn ich da drin eine Bombe bauen würde, ginge dich das einen Scheiß an."
„Ich fürchte doch."
„Ich fürchte, nein. Tut mir schrecklich leid, dich enttäuschen zu müssen, aber steck deine Nase lieber in Darias Angelegenheiten als in meine. Sie ist mir doch ohnehin weit überlegen."
„Ach, darum geht es dir." Er grinste, ein Ausdruck, den ich schon so oft gesehen hatte. Nur nicht in dieser fiesen Art und Weise. „Dummerweise ist das hier weit wichtiger als deine Eifersucht. Und ich wüsste wirklich gerne, was du im Schilde führst."
„Und ich finde, meine Pläne sind zu wichtig, nur um deine Kontrollsucht zu befriedigen. Also werde ich mich jetzt einfach mit meiner Eifersucht verziehen und wir müssen uns hoffentlich nie wieder sehen."
Als ich die Bar verlassen wollte, stellte sich David mir jedoch in den Weg. „Meine Kontrollsucht mag es nicht, ignoriert zu werden", sagte er.
„Meine Wut mag das auch ganz und gar nicht. Aber zum Glück gibst du ihr ja genug Futter. Ich würde dir aber empfehlen, es nicht zu übertreiben. Sonst könntest du schnell Bekanntschaft mit diversen Kräften schließen. Und glaub mir, das ist mehr als ungemütlich."
Mit diesen Worten schob ich mich an ihm vorbei und trat auf die Straße hinaus. Es fühlte sich gut an, diese lästigen Kräfte auch ein einziges Mal für etwas Sinnvolles verwenden zu können. Meine Drohung hatte jedenfalls bestens gewirkt, auch wenn ich sie auf die Schnelle nicht hätte umsetzen können. David war mir nicht gefolgt, sondern in der Bar stehen geblieben. Zumindest einige Sekunden lang. Dann war er in Richtung Küche verschwunden. Nun, da würde er lange suchen.
Ich ballte meine Hände zu Fäusten und beschleunigte mein Tempo. Am liebsten würde ich ihm nie wieder begegnen, doch für den Anfang musste es reichen, so viel Abstand zu schaffen wie möglich.
Willkürlich folgte ich den Gängen, ließ mich von meinem Zorn treiben. Wie konnte er es nur wagen, sich einfach über mich zu stellen? Wie konnte er es wagen, überhaupt hier aufzukreuzen? Nun war es nicht mal nur, dass meine Freunde alle unerreichbar waren, sondern dass ich hier auf genau eine der beiden Personen traf, denen ich auf keinen Fall begegnen wollte. Und zusätzlich hatte ich mit Candice auch noch meine einzige Freundin hier verloren. Wenn sie das überhaupt jemals gewesen war.
Vor Wut wurde mir beinahe schwarz vor den Augen. Die Lampen waren zu grell, die einseitige Umgebung verschwamm. Warum musste immer mir das Leben derart übel zuspielen?
Ich merkte erst, wohin mich meine Füße getragen hatten, als ich vor der Milchglastür stand. Die Büros. Nun, warum nicht? Mir würde eh niemand begegnen.
Ich kramte nach dem Airscreen. Doch was ich stattdessen zu fassen bekam, waren ein winziger Schlüssel. Der aus Cassidys Büro. Ich hatte ihn bisher noch nicht genauer angesehen. Aber damit er auch ja nicht wegkamen, hatte ich ihn die letzten Tage immer in meiner Hosentasche behalten.
In meiner normalen Tasche fand ich schließlich den Airscreen und betrat den Flur. Meine Schritte hallten an den Wänden. Der Treppe folgte ich bis in das siebte Untergeschoss und schließlich stand ich vor Dr. Nings Büro. Einen kurzen Moment lauschte ich, doch es blieb still. Ich holte den Schlüssel heraus und drehte ihn einmal in den Fingern. Niemand hier benutzte mehr manuelle Schlüssel. Außer in Notfällen.
Ich brauchte ihn nur vor das Schloss halten, und es sprang auf. Unauffällig zog ich die Tür hinter mir zu. Das Büro sah verlassen genauso unbehaglich aus wie mit Dr. Ning. Der Augapfel in dem Regal schien mich schon wieder anzustarren. Womöglich war darin ja eine Kamera eingebaut. Aber selbst wenn er mich erwischte, was wollte er machen? Mich aus der Stadt schmeißen? Das würde mir sogar noch helfen.
Ich durchquerte den Raum und hielt schließlich vor den Glastüren zum Archiv an. Die Regale funkelten verheißungsvoll. Warum ich nicht früher an diesen Weg gedacht hatte, war mir ein Rätsel. Es war so offensichtlich gewesen.
Erneut hielt ich den Schlüssel vor das Schloss. Doch diesmal entriegelte es sich nicht. Fürs Archiv gab es wohl besondere Einstellungen. Die mich allerdings nicht aufhalten konnten.
Es dauerte nicht lange, bis ich eine volle Wasserflasche aufgetrieben hatte. Und von Zorn angetrieben, zögerte ich auch nicht, das Wasser auf den Boden tropfen zu lassen. So viel schlimmer als mein Leben derzeit konnten meine Kräfte nicht werden.
Ich fokussierte mich auf die Scheiben vor mir. Achtete auf die seltsame Energie, die in meine Reichweite rückte. Und ließ sie schließlich auf das Glas los.
Feine Risse begannen, sich auszubreiten. Sie wurden mehr und mehr, bis sie die komplette Scheibe überwucherten. Aus dem Nichts kam ein leichter Windstoß auf und ließ sie splittern. Ich hob die Flasche an und betrachtete mein Werk. Aber mehr als der Scherbenhaufen zu meinen Füßen beeindruckte mich, dass ich das Feuer in meinen Adern kaum gespürt hatte. Vielleicht baute ich doch eine Art Resistenz auf. Das würde es einfacher machen.
Ich stakste über das zerbrochene Glas und stellte mich auf die andere Seite. Jetzt musste die Scheibe wieder zusammengefügt werden. Ebenfalls etwas, was ich mit Jade und Candice bis zum Erbrechen geübt hatte.
Wieder ließ ich Wassertropfen auf den Boden fallen, konzentrierte mich. Ein Windzug strich über meine erhitzte Haut. Ich blendete die Luft aus und fokussierte mich aufs Glas. Auf die Scherben, die sich langsam in die Luft erhoben und verschmolzen.
Es dauerte ewig. Gerade, wenn ich dachte, die Scheibe wäre wiederhergestellt, ergaben sich neue Komplikationen. Das Glas war zu wellig, an einer Seite war es zu dünn, dann passte es nicht in den Rahmen.
Je länger der Prozess dauerte, desto verschwommener wurden meine Gedanken. Das Feuer rauschte durch meinen Körper, heißer und heißer. Ich wollte weglaufen, doch ich zwang mich, noch eine Sekunde auszuharren. Und noch eine Sekunde.
Eine Zeit lang funktionierte diese Strategie – bis die Angst überhandnahm. Ich war zurück in den Gängen der Forschungsstation. Alleine, umgeben von Flammen. Sie leckten an meinem Körper, verzehrten mich genau wie sie es mit Mila getan hatten. Ich konnte nichts machen, außer zuzusehen. Es gab keinen Ausweg. Ich war alleine. Niemand würde mich rausholen.
Ein verzweifelter Schrei verließ meinen Mund. Glas zersprang, das Feuer zog sich zurück. Zu langsam.
Zitternd sank ich am Balkongeländer auf den Boden. Die Stäbe bohrten sich in meinen Rücken, doch ich spürte es kaum. Das Einzige, was ich wahrnahm, war die verklungene Hitze. Hungrige Flammen. Und, wie sich plötzlich eine Hand auf meine Schulter legte.
„Atme tief durch", wies mich eine ruhige, warme Stimme an. „Konzentriere dich nur darauf und versuch, so wenig wie möglich zu denken."
Widerspruchslos folgte ich den Aufforderungen. Sie waren ähnlich dem, was mein Therapeut mir damals beigebracht hatte. Selbst er hatte nicht voraussehen können, dass die Panik so stark zurückkehren würde. Trotzdem funktionierte die Strategie.
Als ich wieder halbwegs klar denken konnte, errötete ich und kauerte mich instinktiv noch weiter zusammen. Diese Person hatte mich in einem meiner schlimmsten Zustände erlebt. Sie hätte nicht hier sein sollen. Das war etwas, was ich selbst zu regeln hatte.
Aus dem Augenwinkel sah ich sie eine Hand ausstrecken. Sie hatte glatte braune Haut. „Du machst das gut. Lass uns jetzt aber lieber von hier verschwinden."
Ich ließ mir von ihr hochhelfen und lehnte mich direkt danach wieder an die Reling. Erst dann wagte ich es, aufzuschauen. Sofort schoss mir die Röte erneut ins Gesicht. Vor mir stand Florence Southcliffe höchstpersönlich.
„Ich...", begann ich. „Tut mir leid. Alles. Die Unordnung hier und..."
„Es ist in Ordnung, du hast keinen Grund, dich zu entschuldigen", unterbrach sie mich. „Ich weiß selber, wie es ist, mit einem Trauma zu leben."
„Wirklich?", fragte ich erstaunt. Bisher hatte ich immer gedacht, ihr Leben sei perfekt. Wenn es bei ihr tatsächlich so etwas wie meine Angst vor dem Feuer gab, ließ sie es sich zumindest nicht anmerken.
Sie nickte. „Aber ich möchte jetzt ungerne darüber reden. Lass uns lieber einen gemütlicheren Platz suchen." Mit gerunzelter Stirn warf sie einen Blick in Dr. Nings Büro. „Am besten einen ohne seltsame Ausstellungsstücke."
Nur allzu froh willigte ich ein. Ich rechnete es ihr hoch an, dass sie den gesamten Weg durch die verlassenen Gänge keine weiteren Fragen stellte. Nicht, was mich derart aus der Fassung gebracht hatte. Nicht, wie ich auf den Balkon gekommen war. Selbst nicht, warum ich überhaupt da war.
Schließlich kamen wir an einem anderen Büro an, das eigentlich eher ein Wohnzimmer war. Es hatte gleich mehrere Sofas und im Gegensatz zu dem Platz, den diese einnahmen, war der Schreibtisch verschwindend klein.
Florence dirigierte mich auf eins der Sofas und fragte: „Möchtest du irgendetwas trinken? Tee vielleicht?"
Ich nickte und ließ mich in die weiche Lehne fallen. Der Schreck steckte mir immer noch in den Gliedern. Um nicht wieder die Bilder vor den Augen zu haben, beobachtete ich, wie Florence Tee machte. Kaum später kam sie auch schon mit zwei dampfenden Tassen zurück und setzte sich auf ein anderes Sofa.
„Erstmal", sagte sie, „ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Ich bin Florence."
Ich lächelte schwach. „Ich weiß. Nelly Cavanagh, falls Sie das nicht auch schon wissen."
Sie erwiderte mein Lächeln mit einer Spur Vorsicht. „Du hast recht, ich wusste schon Bescheid. Um es vorneweg zu nehmen, ich möchte dir keine Probleme bereiten. Natürlich habe ich einige Fragen, aber du kannst sie so ausführlich beantworten, wie du möchtest."
Ich konnte mir schon fast denken, was diese Fragen waren. Doch mir fiel beim besten Willen nicht ein, wie ich ihr erklären sollte, warum ich auf dem Weg ins Archiv gewesen war. Und wie ich ins Büro gekommen war. Womöglich war es besser, direkt in die Vollen zu gehen.
„Ich wollte nur überprüfen, ob es einen Zusammenhang zwischen den Avirei und den Silvereyes-Experimenten gibt", sagte ich.
Einen Herzschlag lang sah sie mich erstaunt an. Dann fing sie sich wieder und war so entspannt wie zuvor. Wie auch in Interviews erachtete sie es hier als wichtig, die Haltung nicht zu verlieren. Wäre ich nur eine Sekunde lang unaufmerksam gewesen, hätte ich von ihrer Überraschung nichts mitbekommen.
„Du weißt alles, nicht wahr?"
„Wenn damit die Silvereyes, die Außerirdischen und die Pläne bezüglich Luanda gemeint sind, ja."
Sie warf mir einen langen Blick zu. „Um deine Frage zu beantworten: Ja, es gibt einen Zusammenhang. Goldeneyes und Silvereyes entstehen vereinfacht gesagt, indem man einen Teil der avireischen Energie extrahiert und wem anders einfügt. Diese fremde Energie kann allerdings nur mit bereits bestehender Energie an einen Körper gebunden werden. Folglich müssen die Empfänger avireische Vorfahren haben. Danach wurden die Teilnehmer der Experimente ausgewählt."
„Energie?" Ich starrte sie überfordert an. Abgesehen davon, dass ich keine Ahnung hatte, was diese avireische Energie war, hatte sie mir gerade eine Erklärung zu den Experimenten gegeben. Sie wusste mehr, als sie in der Öffentlichkeit zugegeben hatte. Eigentlich kein Wunder, dass sie in Linti war, sprach für sich.
„Avirei bestehen aus einer Art Energiequelle, die ihnen erlaubt, neue Körper zu erschaffen. Sie wird zu Teilen auch an die Nachfahren vererbt."
Sie hinterfragte nicht, woher ist das alles wusste. Wie ich das wissen konnte. Und auch nicht, warum ich von dieser Energiesache noch nie etwas gehört hatte.
„Warum tun Sie das?", platzte ich heraus.
Sie beugte sich ein Stückchen vor. „Weil ich dir ein Angebot machen möchte."
„Und wie sieht das aus?"
Das ging alles zu schnell für mich. Eben noch hatte ich einen Zusammenbruch im Archiv gehabt, jetzt beantwortete Florence Southcliffe meine Fragen und wollte mir sogar irgendetwas anbieten. Ich hatte das Gefühl, irgendwas in den letzten Minuten übersprungen zu haben.
„Ich habe mitbekommen, dass du gerne aus dieser Stadt herauskommen würdest."
Sie machte eine kurze Pause, in der ich mich fragte, wo sie das erfahren hatte. Beziehungsweise von wem. Am wahrscheinlichsten war Evyen. Hatte sie nicht versprochen, sich um meine Probleme zu kümmern?
„Morgen verlasse ich Linti", fuhr sie fort. „Ich habe schließlich noch eigene Angelegenheiten bei Versus. Was ich dir anbieten kann, ist, dass ich dich mitnehme. Alles Organisatorische würde ich übernehmen, du brauchst dir nur zu überlegen, ob du lieber hierbleiben würdest oder nicht."
„Was verlangen Sie im Gegenzug?"
„Nichts."
„Nichts?", echote ich. Es war wie mit dem Apfel von Adam und Eva – es klang verlockend, aber einen Haken musste es geben.
„Ja", sagte sie schlicht.
„Was würde Ihnen das bringen?"
„Ich möchte dir lediglich die Wahl lassen, ob du dich Linti anschließt oder nicht. Die hatten nämlich die wenigsten."
Ich stutzte einen Moment. Dann fragte ich: „Das ist alles?"
„Überraschend, oder? Außer dem ideellen Wert würde es mir tatsächlich nichts bringen."
Von Sekunde zu Sekunde wurde die Vorstellung, das Angebot einfach anzunehmen und von hier zu verschwinden, immer süßer. Doch es steckte höchstwahrscheinlich mehr dahinter als das, was sie mir sagte.
„Und dieses Angebot würden Sie jedem machen."
Ihr Lächeln erstarb langsam. „Nein, würde ich nicht. Aber das ist nicht der Punkt. Also, wie sieht es aus?"
Ich fand zwar, dass ihre Auswahlkriterien dennoch wichtig waren, aber es hatte keinen Zweck, zu diskutieren. Das war eine einmalige Möglichkeit. Ich wollte sie mir nicht verspielen.
„Ich bin dabei."
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