XIV | Linti
Mit rasendem Herzen schreckte ich auf. Es war stockfinster und das Gewicht der Decke lag gewohnt leicht auf meinem Körper. Erleichtert atmete ich aus. Es war nur ein Traum gewesen. Ein schrecklicher, langer Alptraum. Für einen Moment hatte ich tatsächlich geglaubt, das alles wäre wirklich passiert. David und dann das sich seltsam verhaltende Glas.
Ich schloss die Augen wieder und lag eine Weile einfach still im Bett. Allerdings war es klar, dass ich jetzt nicht mehr schlafen konnte. Ich fühlte mich sogar so wach wie seit langem nicht mehr.
Ich schlug die Augen auf. Mein Zimmer war in totale Finsternis getaucht. Kein Lichtstrahl kam durch das Fenster oder durch den Schlitz der Tür. Hatte ich gestern Abend die Rollläden zugemacht?
Blind schlug ich nach links, um den Lichtschalter umzulegen. Ich schlug ins Nichts. Dann hatte ich wohl die Nische erwischt. Doch auch mein nächster Schlag fuhr nur durch die Luft. Genau wie der nächste.
Mit einem unguten Gefühl tastete ich bis zum Rand der Matratze. Ich konnte nicht dreimal die Nische verfehlen. So groß war sie nicht, und ich hatte diese Bewegung schon etliche Male gemacht.
Am Rand der Matratze fand ich keine Wand. Stattdessen ging es hinunter. Das ungute Gefühl verstärkte sich. Das hier war nicht mein eigenes Bett. War ich vielleicht in Evyens Zimmer? Aber warum sollte ich dort sein? Ich konnte mich bei bestem Willen nicht daran erinnern, irgendwann gestern dort gewesen zu sein.
„Evyen?", fragte ich in die Dunkelheit hinein. Stille. Ich versuchte es noch einmal. Mit demselben Ergebnis. Ich hörte nichts außer meinen eigenen Atem.
Das Bett fühlte sich plötzlich unbehaglich an. Als würde ich nicht hierhin gehören.
Ich schwang meine Beine aus dem Bett und stand auf. Für den ersten Moment war mir schwindelig, doch ich fand meine Balance schnell wieder. Dann tastete ich mich an der Bettkante entlang. Nach wenigen Schritten fuhr ein stechender Schmerz durch meinen kleinen Zeh. Ich fluchte. Da war dann wohl der Pfosten.
Ein paar Schritte mehr und ich hatte herausgefunden, dass das Bett nicht besonders breit war. Es passte höchstens eine Person rein.
Kurz musste ich mich an der Wand abstützen. Evyen hatte ein Doppelbett. Genau wie unser Gästezimmer. Und jeder andere Raum, an den ich gerade denken konnte.
„Hallo?", rief ich, diesmal etwas nervöser. „Hallo? Hört mich jemand?"
Mit jedem Wort wurde meine Stimme schriller. Meine Gedanken überschlugen sich. War das hier vielleicht ein Hotel? Aber wie sollte ich da hingekommen sein? Wo war ich?
Hetisch lief ich weiter. Meine Hände ertasteten eine Wand. Und dann, endlich, ein Lichtschalter. Ich drückte ihn mit zu viel Wucht herunter.
Der Raum erhellte schlagartig. Und schon während ich im Licht blinzelte, konnte ich erkennen, dass ich dieses Zimmer noch nie zuvor gesehen hatte.
Links neben dem Lichtschalter war eine schmale metallene Schiebtür, daneben in der Ecke thronte ein rundes Tischchen. Daneben war eine Holztür mit einem antik aussehenden Schloss, in der nächsten Ecke stand ein Schreibtisch, an derselben Wand wie dieser folgte ein hoher mit Metallreben verzierter Schrank, der in ein Bücherregal überging. Gegenüber befand sich das Bett. Es gab kein Fenster.
Ich riss die Schiebetür auf. Sie gab den Blick frei auf einen kleinen dunklen Raum. Ein Bad. Auch ohne Fenster. Mein Puls erhöhte sich merklich. In diesem Raum gab es so viel aus Holz. Es brauchte nur eine winzige Flamme, und...
Es klopfte.
Ich wirbelte herum. Das Geräusch war von der Holztür gekommen. Jemand hatte mich gehört.
„Hey", ertönte eine weibliche Stimme, gedämpft von der Tür. „Kann ich reinkommen?"
Die so normal klingende Stimme lenkte mich schlagartig von meinen Sorgen ab. Zum ersten Mal blickte ich an mir runter. Ich trug eine weite, gemütliche kurze Hose und ein normales T-Shirt. Zu meiner Überraschung gehörte beides mir. Das war akzeptabel.
„Ja", schaffte ich es hervorzubringen.
Die Tür öffnete sich geräuschlos und ein unbekanntes Mädchen betrat den Raum. Sie hatte dunkles Haar, das in viele winzige Zöpfe geflochten war, goldbraune Haut und ihr Gesicht war von Sommersprossen übersäht. Sie lächelte warm.
„Du bist Nelly, oder?" Sie reichte mir die Hand. „Candice."
Etwas überrumpelt nahm ich sie. „Wenn du willst, kannst du mich Nel nennen."
„Oh, wenn dir das lieber ist. Komm bitte nur nicht auf die Idee, mich Candy zu nennen. Ich mag meinen Namen." Sie ließ meine Hand wieder los und sah sich im Raum um. „Aber ist auch egal. Wirklich erstaunlich, dass du jetzt schon wach bist."
„Dass ich wach bin?" Ich war verwirrt. Wer war sie, wovon redete sie und vor allem, wo zur Hölle waren wir?
„Ja. Ich habe das letzte Mal zwei Tage geschlafen."
Sie legte den Kopf schief und musterte mich neugierig. Ich verstand immer noch nichts. Aus Reflex sah ich an ihr vorbei durch die Tür, doch daraus wurde ich auch nicht schlauer. Das Einzige, was ich sah, waren mehr Türen.
„Aber du fragst dich sicher, wo wir sind", fuhr sie fort. „Willkommen in Linti, würde ich sagen."
„Linti?"
„Die erste unterirdische Stadt der Welt. Außerdem die einzige. Bis sie eingestürzt ist, natürlich."
Ich starrte sie perplex an. Die neuen Informationen wirbelten in einem undefinierbaren Strudel durch meinen Kopf. Linti. Unterirdisch. Eingestürzt?
Candice deutete auf den Flur mit den Türen. „Wie du siehst, steht alles aber noch. Also keine Sorge, hier ist nichts wirklich einsturzgefährdet."
Mein Gehirn brauchte eine Weile, um ihr Gesagtes nachvollziehen zu können. Wir befanden uns in Linti, einer unterirdischen Stadt. Das würde die fehlenden Fenster erklären. Und sie war eingestürzt, aber dann doch nicht.
Ich schloss die Augen kurz und öffnete sie wieder. Ich hatte wichtiger Probleme als den mysteriösen Halb-Einsturz einer Stadt, von der ich noch nie zuvor gehört hatte.
„Wie bin ich hierhergekommen?"
„Evyen hat dich mitgebracht. Gestern Abend", sagte Candice unbekümmert und ging an mir vorbei zum Schrank.
„Evyen?", platzte ich heraus.
Wie konnte das passiert sein? Evyen konnte mich doch nicht einfach mitten in der Nacht ohne ersichtlichen Grund hierherschleppen. Es sei denn... der Traum war kein Traum gewesen. Ich schluckte.
„Ungefähr eins fünfundsechzig, braune Haare, dunkelbraune Augen, helle Haut, braucht einen gefühlt nur einmal anzuschauen und weiß dann direkt die halbe Lebensgeschichte..."
Die Beschreibung passte perfekt. Das hieß, David hatte Daria geküsst. Das Glas hatte sich wie von selbst verformt. Und Evyen hatte mir diese Spritze gegeben. Die hatte vermutlich mein Bewusstsein ausgeschaltet. Das würde erklären, warum ich mich danach an nichts mehr erinnern konnte.
„Wo ist sie?", fragte ich schnell. „Ich muss mit ihr reden. Dringend."
Candice hielt inne. „Nicht in der Stadt, glaube ich."
„Und wo dann? Es ist wirklich wichtig."
Sie zuckte mit den Schultern. „Sie sollte heute Abend wiederkommen. Ich kann gleich mal nachfragen."
Dann öffnete sie den Schrank. „Was machst du?" Ich schaute neugierig über ihre Schulter. Im Schrank hing Kleidung. Meine eigene, wie mir nach ein paar Sekunden auffiel.
„Nachschauen, ob Evyen auch noch anderes außer dir mitgebracht hat. So kannst du nicht rausgehen."
Ich hörte ihr nur noch halbherzig zu. Wenn hier meine Klamotten hingen, war es nicht wahrscheinlich, dass Evyen noch andere Dinge mitgenommen hatte? Wie meinen Airscreen? Dann könnte ich sie anrufen und sie fragen, was genau sie sich bei dieser Umzugsaktion gedacht hatte.
Ich zog die Schublade des Nachtschränkchens auf. Neben Taschentüchern und anderem Kleinkram lag dort ein ausgeschalteter Airscreen. Ich holte ihn heraus und schaltete ihn an. Noch bevor ich es selbst sehen konnte, merkte Candice an: „Das ist nicht deiner. Ich habe auch einen neuen bekommen, als ich zum ersten Mal hier war. Aus Sicherheitsgründen. Alle Geräte hier funktionieren nur für hier unten."
Ich ließ das Gerät sinken. „Heißt das, ich kann niemanden außerhalb erreichen?"
„Leider. Aber Evyen kommt ja in ein paar Stunden wieder. Bis dahin sollte ich dir einmal einen Überblick der Stadt geben. Es wäre also super, wenn du dich jetzt umziehen gehen würdest."
Etwas unwillig zog ich das erstbeste aus dem Schrank und lief zur Badezimmertür. Selbst ich sah ein, dass es nichts brachte, nur in diesem winzigen Raum herumzuhocken. Doch bevor ich das Bad betrat, drehte ich mich noch einmal zu Candice um.
„Und was ist mit meinen Freunden? Komme ich auch irgendwie wieder aus Linti raus?"
Sie sah mich schuldbewusst an. „In der nächsten Zeit wirst du hierbleiben müssen. Und deinen Freunden könntest du theoretisch Briefe schicken."
„Briefe?", echote ich fassungslos. Wo waren wir? In der Steinzeit?
„Tut mir leid. Ansonsten könnte wer anders die Nachrichten auch direkt ausrichten, aber ich bezweifle, dass du das willst."
Als Antwort knallte ich die Tür hinter mir zu. Briefe. Ich konnte es nicht fassen. Ich hoffte wirklich, Evyen konnte mir einen guten Grund dafür geben, dass ich nicht mal mehr mit meinen Freunden kommunizieren konnte. Obwohl davon dank den letzten Tagen auch nicht mehr allzu viele übrig geblieben waren, mit denen ich reden wollte.
Mit einem Stich im Herzen verdrängte ich David und machte mich daran, mich zu waschen und anzuziehen. Ich war okay. Es war besser, dass ich ihn los war. Wer wusste schon, wie lang diese Affäre mit Daria schon gelaufen war.
Stattdessen fokussierte ich mich auf das fremde Mädchen in meinem Zimmer. Eigentlich hatte ich keinen Grund, auf sie wütend zu sein. Sie hatte nur das Pech, die Überbringerin der Nachrichten zu sein. Und wahrscheinlich wusste sie um einiges mehr als ich. Noch ein Grund, nett zu ihr zu sein.
Als ich fertig war, kam ich wieder zu ihr heraus. „Von mir aus können wir jetzt los."
Sie lächelte. „Du wirst sehen, Linti ist nicht überall so langweilig wie hier."
Zusammen liefen wir durch den Korridor bis zu einer großen milchgläsernen Schiebetür. Sie fuhr vor uns auf und eröffnete die Aussicht auf eine gigantische Halle.
„Die Bibliothek", erklärte Candice. „Zumindest ein Teil. Unten im Keller ist auch noch ein Archiv mit mehr als doppelt so vielen Büchern. Wusstest du, dass ganz Linti um diese Bibliothek herum gebaut wurde?"
Bei ihrem begeisterten Tonfall stutzte ich. Irgendetwas kam mir an ihr sehr bekannt vor. Ich war mir jedoch gleichzeitig zu hundert Prozent sicher, dass ich sie noch nie zuvor gesehen hatte.
„Das klingt wahrscheinlich komisch, aber... kennen wir uns irgendwoher?"
„Würde mich wundern. Aber ich kenne Laurie. Und ich bin mit Jean zusammen."
Plötzlich fügten sich die Dinge zusammen. Sie war die mysteriöse Freundin, über die wir kaum etwas aus Jean herausbekommen hatten. Bis auf ihren Namen und ihre Vorliebe für Bücher natürlich.
„Oh", machte ich. Dann beeilte ich mich hinterherzuschieben: „Er ist mit den Physikern übrigens schon durch und fand es durchaus interessant. Wenn auch-"
„...sehr gewöhnungsbedürftig geschrieben", ergänzte sie. „Ich fand gerade das einen der faszinierendsten Aspekte."
Ich sah sie überrascht an. „Du weißt davon?"
„Ich habe am Dienstag noch mit ihm telefoniert."
„Telefoniert?" Zum zweiten Mal innerhalb von zehn Minuten kam ich mir ein wenig verarscht vor. Hatte sie nicht eben nur erklärt, dass man nur Briefe schreiben konnte? Oder galt das nur für mich?
„Ich war ein paar Monate draußen. Das ganze Hin und Her ist ein ziemlicher Aufwand, aber wenn ich mehr als zwei Wochen am Stück hier unten bin, gehe ich ein."
„Das heißt, es dürfen Leute raus." Ich konnte nicht verhindern, dass sich ein bitterer Unterton in meine Stimme schlich.
Sie warf mir einen mitleidigen Blick zu. „Ja. Die meisten dürfen sogar nicht lange in der Stadt bleiben."
„Und wie lange muss ich hierbleiben?"
„So lange wie nötig", antwortete sie wenig präzise. „Aber falls es dich beruhigt, ich musste das auch schon durchmachen. Es ist nicht schön, aber solange du noch nicht allzu viel Zeit hier verbracht hast, gibt es noch genug Neues zu sehen."
Das war nicht besonders motivierend. Ich hoffte wirklich, Evyen hatte eine gute Erklärung dafür. Es brachte eigentlich mein komplettes Leben aus dem Gleichgewicht. Was war mit der Schule? Oder dem Schwimmwettkampf dieses Wochenende?
Schon wieder musste ich mich zusammenreißen, auf der Stelle stehen zu bleiben und nichts mehr zu machen. Candice konnte nichts dafür. Und irgendwie musste ich ja meine Zeit vertreiben, bis Evyen zurückkam. Das versuchte ich jedenfalls, mir einzureden. Es funktionierte bedingt.
„Wie lange hat es bei dir gedauert, bis du rausgekommen bist?", fragte ich, um mich abzulenken.
Wir bogen um eine Ecke in einen breiten Korridor. Die Wände sahen um einiges massiver aus als die des Flurs vor dem Zimmer, in dem ich aufgewacht war.
„Vier oder fünf Monate, glaube ich", sagte sie.
Das war lang. Sehr lang. Was wurde dann aus den Dingen, die ich dieses Jahr noch geplant hatte?
„Und es geht nicht kürzer?"
„Schwer zu sagen. Wenn du großes Glück hast, vielleicht. In deinem Fall ist das allerdings eher unwahrscheinlich."
„In meinem Fall?"
Was hatte das schon wieder zu bedeuten? So langsam kam mir das alles wie eine Fortsetzung des Alptraums mit David vor. Probehalber kniff ich mir in den Arm. Das Einzige, was sich dadurch veränderte, war, dass mein Arm nun wehtat.
„Es ist kompliziert. Und ich weiß auch nicht alles. Am besten wartest du bis drei. Dr. Ning kann dir es dann erklären."
Ihre Antworten warfen wirklich immer mehr Fragen auf, als sie beantworteten. Wer war dieser Dr. Ning? Was passierte um drei? Wie viel Uhr war es überhaupt? Genau das fragte ich sie auch.
„Ning ist einer der wichtigeren Leute, und er hat ein Treffen mit dir angeordnet. Um Fragen zu beantworten." Sie machte eine Pause. „Es ist übrigens kurz nach elf. Und wo wir gerade dabei sind, du hast nicht zufällig den Airscreen mitgenommen?"
Fragen beantworten klang gut. Und vielleicht konnte dieser Dr. Ning ja auch etwas dafür tun, dass ich nicht so lange hierbleiben musste. Wenn ich ihm die Situation erklärte, würde er das hoffentlich nachvollziehen können.
Und wenn nicht, ich hatte immer noch mein Hühnchen mit Evyen zu rupfen.
„Nel?", hakte Candice nach.
Ich schüttelte den Kopf. Sie seufzte.
„Gut, auch nicht schlimm. Wir müssen ohnehin irgendwann zurück, du musst noch den obligatorischen Check wegen der Flüssigkeit machen."
„Was für eine Flüssigkeit?"
„Dieses Betäubungszeug, nach dem man so lange schläft. Eigentlich hat es einen total kryptisch klingenden lateinischen Namen, den sich keiner merken kann. Daher heißt es einfach nur die Flüssigkeit. Und eigentlich hätten wir den Check eben schon machen sollen. Aber egal, wird nicht so schlimm sein. Ich vergesse das öfter."
„Wenn du meinst."
Was sie da erzählt hatte, klang etwas beunruhigend. Nicht nur die Sache mit dem Check, sondern auch mit dieser seltsamen Flüssigkeit. Warum hatten sie nicht einfach ein normales Betäubungsmittel genommen, die es bei Benötigung in einer normalen Apotheke gab?
Das sprach ich jedoch nicht laut aus. Mein Kopf war schon kurz vor dem Explodieren und wenn ich Candice richtig einschätzte, würde darauf noch eine weitere Welle an Informationen kommen, die man nicht ohne weiteres verstehen konnte. Lieber wartete ich damit auf diesen Doktor und folgte ihr für den Moment ohne neue Fragen zu stellen durch die Stadt.
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