VIII | Zwei Tage
Blasses Sonnenlicht strömte durch die dünnen Vorhänge in mein Zimmer. Ich warf einen Blick auf den Wecker. Es war kurz vor sechs. Oder anders ausgedrückt, schrecklich früh. Vor allem, wenn man erst um eins schlafen gegangen war. Aber gut zu wissen, dass mein innerer Wecker selbst nach einem Tag wie gestern noch zuverlässig funktionierte.
Ich drehte mich um und schloss die Augen wieder. Der Tag heute würde anstrengend werden. In der Schule würden wir heute die Prüfungsergebnisse für Physik und Ökologie bekommen, und direkt nach Schulschluss hatte ich zweieinhalbstündiges Training. Und danach musste ich mich dringend um meine Hausaufgaben kümmern. Gestern war ich schließlich kaum dazu gekommen. Darüber konnte ich mir jedoch später Gedanken machen, jetzt hatte ich andere Probleme.
Ich schlug die Decke zurück und setzte mich auf, sorgfältig darauf bedacht, mich nicht auf meiner linken Hand abzustützen. Der weiße Verband sah genauso aus wie gestern Abend. Probehalber streckte ich die Finger einmal aus und ballte sie zusammen. Es tat nicht mal mehr ansatzweise weh. Hatte David mir gestern irgendwelche langanhaltenden Schmerzmittel gegeben? Ich konnte mich nicht daran erinnern.
Gähnend kletterte ich von meinem Bett und ging ins Badezimmer. Neben der Tür befand sich eine schmale Kontrolltafel für die verborgenen Funktionen des Raumes. Ich tippte auf das hellgrüne Kreuz. Nach zwei Sekunden schoben sich die Fliesen an der Wand daneben auseinander. Sechs dünne Metallstäbe wurden in den Raum gefahren, begleitet von einem leisen Summen. Sie schoben sich langsam in eine hexagonale Form, der Innenraum groß genug, dass eine Person problemlos hineinpasste.
Ungeduldig trommelte ich mit meinen Fingern gegen die Wand. Ich hatte den Healthpoint lange nicht mehr genutzt, aber an die lange Wartezeit konnte ich mich immer noch haargenau erinnern. Ein neueres Modell war lange überfällig. Das versuchte ich Evyen schon seit Jahren zu erklären.
Als der Healthpoint endlich fertig aufgebaut war, stellte ich mich in die Mitte der Stäbe. Ich öffnete das Untersuchungsmenü auf dem eingebauten Airscreen und wählte die vollständige Routineuntersuchung aus. Ein Ladesymbol, ein weißes, sich langsam mit grünem Licht füllendes Kreuz, erschien. Doch nach einer Sekunde wurde das Display rot. Eine Fehlermeldung ploppte auf.
Ich starrte auf das Display. Die Untersuchung wurde unterbrochen, stand darauf. Bitte stellen Sie sicher, dass Sie keine Kleidung oder andere Körperbedeckungen tragen. Sollte dies nicht der Fall sein, starten Sie das Programm erneut oder führen eine Fehlerdiagnose durch.
Wie hatte ich das vergessen können? Es war schließlich nicht nur unser altes Modell, das nicht durch Kleidung hindurch scannen konnte. Ich fühlte mich unglaublich dumm, als ich meine Klamotten auszog und auf dem Rand der Badewanne ablegte. Als nächstes kam der Verband an die Reihe. Der musste ohnehin erneuert werden.
Bevor ich die Untersuchung neu startete, begutachtete ich noch einmal meine Hand. Die Wunden waren vollständig verheilt. Zumindest sah ich keine Spur mehr von den tiefen Schnitten von gestern Abend. Ich blinzelte überrascht. Das konnte nicht sein. Vielleicht bildete ich mir das nur ein.
Doch egal wie oft ich wegschaute und wieder hinsah, das Ergebnis blieb dasselbe. Heile, unbeschädigte Haut, die allerhöchstens noch ein wenig rötlich war im Vergleich zu der meiner rechten Hand.
Energisch startete ich die Untersuchung neu. Das Ergebnis würde mir mit Sicherheit sagen, ob es nur Einbildung gewesen war.
Das Ladesymbol erschien erneut, und diesmal füllte es sich ohne weitere Unterbrechungen. Zwei Knöpfe erschienen. Einer hatte die Aufschrift Zweite Kontrolluntersuchung starten, der andere Ergebnisse anzeigen. Ich tippte auf den ersten. So viel war noch in meinem Gedächtnis hängengeblieben, dass ich wusste, dass bei der ersten Untersuchung Fehler unterlaufen konnten. Das passierte zwar äußerst selten, aber oft genug, dass es sich lohnte, doppelt zu scannen.
Etwa fünf Sekunden später war auch der zweite Scan durchgelaufen und ich ließ mir die Ergebnisse anzeigen. Diese bestanden aus einem grün schimmernden Abbild meines Körpers. Oben links standen die Grundinformationen wie die Generation der Defendergenes, Gewicht, Körpergröße und anderen Messungen. Rechts an der Seite befand sich eine Liste der gefundenen Anomalien.
Zuerst sah ich mir die Darstellung meines Körpers genauer an. Sie war fast vollständig dunkelgrün, bis auf ein einen winzigen helleren Fleck an der linken Handfläche. Ich vergrößerte das Bild und tippte auf die Stelle. Mein grüner Körper rückte in den Hintergrund und verschwamm, und helle Schrift erschien auf dem Display.
Ich überflog den Eintrag. Empfindliche Haut, neu gebildet, vermutlich ehemalige tiefe Wunden. Geschätzte restliche Heilungszeit ca. 7 Stunden. Abgesehen von Letzterem war es nichts neues. Aber wenn der Healthpoint die restliche Heilungszeit abschätzen konnte, konnte er es vielleicht auch mit der vergangenen.
Mein Finger schwebte kurz vor dem Display, bis ich gefunden hatte, was ich suchte. Ich wählte die erweiterten Berechnungen aus und scrollte hinunter. Neu gebildete Erythrozyten, durchschnittliche Zellteilungsgeschwindingkeit...
Als ich schon durch die Hälfte der Werte geschaut hatte, bemerkte ich die Suchfunktion. Warum war ich da nicht schon früher draufgekommen? Das hätte mir bestimmt zwei Minuten unnötiges Suchen erspart.
Nachdem ich bisherige Heilungszeit eingegeben hatte, spuckte der Algorithmus mir das Ergebnis aus. Ich riss die Augen auf. Laut der Berechnungen des Healthpoints waren die Wunden schon seit etwa zwei Tagen am Heilen. Aber seitdem das Glas zerbrochen war, waren nur knapp sechs Stunden vergangen.
Ich schloss die Untersuchungsergebnisse und führte einen Scan meiner Hand durch. Danach wiederholte ich die Schritte vorher. Mit dem gleichen Ergebnis. Die vergangene Heilungszeit betrug zwei Tage.
Ich lehnte mich an die Wand und starrte auf das Display. Es gab nur zwei Möglichkeiten, wie das hätte sein können. Entweder, der Healthpoint hatte zweimal denselben Fehler in der Berechnung gemacht – oder irgendeine Grundeinstellung war falsch.
Schnell wusch ich mich und zog mich an. Dann nahm ich meinen Airscreen und googelte die durchschnittliche Heilungszeit von tieferen Schnittwunden bei Defendergenes des Modells S 6.5. Die meisten Websites waren sich darin einig, dass sie ungefähr zweieinhalb Tage betrug. Die Berechnung des Airscreens stimmte also.
Ich rief die Untersuchungsergebnisse wieder auf und betrachtete die Grundinformationen. Fast alle Werte, die dort standen, spielten keine große Rolle für die Heilung von Wunden. Das Einzige, das einen Unterschied machen könnte, war das Modell der Defendergenes. Ich tippte darauf. Das Display verfärbte sich rot. Dieser Wert ist unveränderbar, sagte die Fehlermeldung diesmal.
Ich schnaubte und schloss die Ergebnisse wieder. Dann eben anders.
Leider spuckte mir Google auf die Frage nach den Modellen der Defendergenes eine meterlange Liste mit allen möglichen Variationen aus. Es würde Stunden dauern, nach den Zeiten jeder einzelnen Version zu suchen. Und selbst wenn ich nur die grundlegenden Modelle nachschauen würde, würde ich es nicht rechtzeitig schaffen. Ich hatte durch das viele Suchen in den Einstellungen des Healthpoints schon genug Zeit verloren.
Zum Glück wusste ich jedoch, wie ich trotzdem an die Informationen kommen konnte. Ich schrieb eine kurze Nachricht an Chaeng, in der ich ihr die Situation schilderte. Hoffentlich würde sie noch vor Schulbeginn antworten.
Als das erledigt war, fuhr ich den Healthpoint wieder zurück in die Wand. Dann machte ich mich auf den Weg in die Küche. Ich musste ohnehin noch David zurückschreiben, dessen Nachricht gerade angekommen war. Die Frage, wie es meiner Hand und mir selber ging war schwer genug zu beantworten.
***
In der Pause zwischen der zweiten und dritten Stunde flüchtete ich erstmal auf die Toilette. Der Tag war schrecklich gelaufen. Nun, nicht von Beginn an, aber es war schon so schlimm genug.
In der zweiten Stunde hatte ich Geschichte gehabt, den einzigen Kurs, in dem mit mir sowohl mit Matilde und Luis als auch Laurie und Jean waren. Und natürlich hatte Mrs Tiggs es für nötig gehalten, das neue Thema mit einer Gruppenarbeit einzuführen. In Fünfergruppen. Wie selbstverständlich war also festgelegt worden, dass wir fünf die Aufgaben zusammen bearbeiteten.
Dass wir am Ende überhaupt etwas vorzuweisen hatten, war allein Laurie und Luis zu verdanken. Sie waren die Einzigen, die sich wirklich mit den Texten auseinandergesetzt hatten. Jean hatte die ganze Zeit nur aus dem Fenster gestarrt, während ich zwischen Gedanken über den Healthpoint und Unsicherheit, wie ich mich wegen der Vorfälle gestern Abend verhalten sollte, geschwankt hatte. Und Matilde war mit den Gedanken ganz wo anders.
Noch unangenehmer wurde es, als Luis mich nach der Stunde kurz zur Seite zog und leise fragte: „Stimmt es, was Daria von gestern Abend erzählt hat?"
Mir wurde abwechselnd heiß und kalt. Hatte Daria davon mitbekommen, dass ich Jean aus dem Nichts heraus konfrontiert hatte? Sie war auf der anderen Seite des Raumes gewesen, oder etwa nicht?
Ich hätte Jean gestern einfach ignorieren sollen. Oder das Thema nicht aufbringen sollen. Oder im Allgemeinen weniger trinken sollen.
Aber vielleicht hatte sie auch nur von meinem Unfall mit dem Glas erzählt. Das war um einiges wahrscheinlicher.
„Wenn du meine Hand meinst, ja", plapperte ich einfach drauf los. „Aber es war wirklich nur halb so schlimm, wie es aussah. Klar, es hat geblutet wie-"
„Eigentlich meinte ich die Sache mit Jean", sagte Luis. „Aber das mit deiner Hand klingt nicht so angenehm. Was ist überhaupt passiert?"
Reflexartig scannte ich einmal meine Umgebung nach einer Fluchtmöglichkeit. Oder zumindest etwas, das mir Zeit kaufte, zu überlegen, wie ich es ihm am besten erzählte. Zu meinem Glück fand ich sofort etwas.
„Lass uns das gleich bitte mit Matilde besprechen. Und ich muss erstmal noch auf die Toilette", sagte ich hastig.
Ich wartete erst gar nicht auf eine Antwort, sondern lief direkt auf die Klotür zu. Und hier war ich nun und hatte immer noch keine Idee, wie ich es meinen Freunden erklären sollte. Doch immerhin gab es eine gute Neuigkeit: Chaeng hatte geantwortet.
Laut Yunai wäre diese Zeit nur für Platinum-Genes dritter Generation und höher möglich, falls das das ist, was du wissen wolltest, schrieb sie. Übrigens ist sie immer noch ein bisschen sauer wegen Bio. Ich habe sie nur zum Antworten bekommen, weil es um dich ging. Wenn du weniger als 95 Prozent in den Prüfungen hast, bring das am besten nie in ihrer Gegenwart auf. Es sei denn, du möchtest, dass sie endgültig die Hoffnung in die Menschheit verliert.
Ich schrieb ihr eine kurze Antwort und bedankte mich für die Infos. Dann googelte ich nach den Defendergenes, die sie erwähnt hatte.
Das Einzige, was ich aus dem Stand heraus wusste, war, dass Platinum-Genes die beste Variante der Defendergenes war. Der Nachteil war, dass sie auch die teuerste waren. Daher gab es nicht viele Menschen, die solche Gene hatten. Denn auch wenn Kredite für Defendergenes fast immer genehmigt wurden, gab sich der Großteil der Bevölkerung mit den von den Ländern finanzierten zufrieden. Sie waren schließlich nicht so viel schlechter als Platinum-Genes.
Das bestätigten auch die Suchergebnisse aus dem Internet. Zusätzlich erfuhr ich einiges spezifisch über die dritte Generation der Platinum-Genes. In der modernen Gentechnologie galt diese Generation als ein maßgeblicher Durchbruch. Vor allem im Bereich der Heilung waren große Fortschritte zu den vorherigen Generationen erzielt worden.
Auf den Markt gekommen waren sie 128 p.a., also vor etwa sechzig Jahren. Der Preis hatte bei etwa vier Millionen Qián gelegen und war bis auf die Hälfte gesunken, als neuere Modelle entwickelt worden waren.
Ich tippte auf die Suchfunktion und googelte die vierte Generation der Platinum-Genes. Sie waren Anfang 170 zugelassen worden, nur ein Jahr vor meiner Geburt. Auch sie kosteten eine enorme Summe an Geld.
Ich ließ den Airscreen sinken. Selbst wenn meine Eltern mir eine veraltete Version der Premiumgene gekauft hatten, hätten die immer noch zwei Millionen Qián gekostet. Das war eine Summe, die kaum jemand außer sehr reichen Menschen bezahlte. Es gab schließlich Modelle, die ebenfalls besser waren als die Standardgene, aber deutlich günstiger.
Ich warf noch einmal einen Blick auf meinen Airscreen. Vier Millionen Qián. Ich wusste nicht viel über meine Eltern, weil Evyen sie nur flüchtig gekannt hatte. Aber von dem, was ich wusste, hätten sie sich auf jeden Fall keine Platinum-Genes leisten können. Woher kam es dann, dass ich anscheinend trotzdem welche besaß?
Es würde auch schon helfen, zu wissen, welche Version ich hatte. Zwei Millionen Qián war utopisch, aber durchaus realistischer als vier Millionen. Abgesehen davon sollte ich mich am besten einmal nach dem Gehalt erkundigen, das man auf dieser Forschungsstation in New Mexico verdient hatte.
Ich steckte den Airscreen weg und machte mich auf den Weg zu meinen Freunden. Mit meinem groben Plan fühlte ich mich schon deutlich besser.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro