19. Der Packt
Cierian drehte die winzige Kurbel an der Seite des Blechfrosches - hörte wie die Zahnräder ineinander klickten und im nächsten Moment machte der Frosch einen gewaltigen Satz.
»Gefällt er dir?«, fragte Irie.
»Er ist ganz in Ordnung«, untertrieb der Junge fasziniert.
Seine Mutter zwinkerte und wandte sich wieder der Werkbank zu. Sie kannte ihn gut genug um zu wissen, dass er noch nicht bereit war aus seiner Schmollecke herauszukommen. Immerhin arbeitete sie lieber in dieser muffigen Werkstadt weiter anstatt mit ihm aufs Stadtfest im Dritten Bezirk zu gehen und ihm dort Leckereien zu kaufen.
»Du bist gemein«, ließ er sie deshalb erneut wissen.
»Ich muss das Feuerwerk vorbereiten, Cia.«
Cia. Abgesehen von ihr nannte ihn niemand so. Es war ihm auch ein bisschen unangenehm so genannt zu werden, da es in der Sprache seiner Vorfahren so viel wie Sternentänzer bedeutete. Zum einem, gab es überhaupt keine Sterne mehr, zum anderen, konnte er tanzen nicht ausstehen.
»Du magst doch Feuerwerk.«
Ja, natürlich mochte er Feuerwerk! Doch noch mehr würde er es mögen, wenn nicht alle Jahre wieder Irie für dessen Vorbereitung vereinnahmt werden würde.
Schmollend drückte er sich an die vollgeaschte Fensterscheibe und starrte finster auf die Straße. Und da, aus einer dunklen Gasse trottend, sah er einen großen, ganz abgemagerten Hund, der suchend ein paar alte Sperrholzkisten beschnupperte. Irgendwie kam ihm dieses Tier seltsam bekannt vor, als hätte er sie schon einmal irgendwo gesehen, in einem anderen Leben womöglich.
Die Drehkurbel des kleinen blauen Blechfrosches zu seinen Füßen drehte sich unentwegt weiter, wie von Geisterhand, seine leise vor sich her summende Mutter war nur noch ein Hintergrundrauschen.
Was passiert hier?, dachte er und presste verzweifelt die Fingerkuppen gegen das glatte Glas, sein Atem begann sich darauf abzuzeichnen. Der Hund begann aufgeregt zu bellen, als versuchte er ihm irgendwas mitzuteilen.
Nur was?!
Und dann sah er plötzlich die Spieglung, sah wie die bewegungslose Silhouette einer sehr schlanken Frau von der Decke herabbaumelte.
Kälte erfasste sein Herz, als er sich langsam umdrehte und die leblose Gestalt seiner Mutter betrachtete. Wie eine leere Hülle, geformt aus Haut und Knochen, aber ohne jeden Inhalt.
»Weißt du, Cierian«, sagte ein Junge auf der anderen Seite des Raums, der die Gestalt seines achtjährigen Ichs angenommen hatte und ebenfalls diesen schaurigen Anblick betrachtete, fasziniert: »Niemand außer uns, wird es jemals verstehen, nur wir beide wissen hiervon. Keiner außer uns kann diese berauschende Macht nachvollziehen, die da durch unsere Adern rauscht und uns erlaubt ganz neue Realitäten zu erschaffen. Wir allein bestimmen, welche Erinnerungen unsere Opfer erneut durchleben oder erschaffen andere. Solange wir hier drin sind ...« Er tippte sich gegen die Schläfe, »... sind wir womöglich mächtiger als die Sieben selbst. Ist das nicht unglaublich?«
Cierian schaute weiter auf den aufgehängten Leichnam, auf diese blutleeren Handrücken und hörte Pockets warnendes Gebell in seinem Rücken. Jemand war in seinen Gedanken und manipulierte ihn.
»Ist es nicht«, widersprach er mit fester Stimme. »Es ist abartig und falsch. Niemand sollte jemals solch verheerenden Einfluss auf einen fremden Geist ausüben.«
»Aber dir gefällt es doch«, hielt sein anderes Ich ihm vor und seine Augen funkelten wie im Wahn. »Versuch es gar nicht erst abzustreiten, du bist genau wie ich.«
»Nur weil es mir gefällt, macht es nicht weniger falsch. Wenn du eine Seele zu sehr beeinflusst, sie zu sehr veränderst dann ... zerbricht sie.«
»Und?«
»Und was?«
»Dann zerbricht sie eben. Eine kleine Seele, was macht das schon?«
Der andere Junge grinste von Ohr zu Ohr und schien sich an dieser Vorstellung sogar noch zu ergötzen. Ekel regte sich in Cierian. Was war das nur für ein abscheuliches kleines Monster? Doch tief in sich drin kannte er die Antwort darauf. Dieses Monster war seine Zukunft, was jetzt vielleicht noch schlief, aber eines Tages, sobald er gefallen war, erwachte - und all das was ihm jetzt noch wichtig war, würde ihm innerhalb eines Wimpernschlags gleichgültig werden. Das grausame, unausweichliche Schicksal eines Magiers.
»Was ist mit dir? Versuchst du mich wieder zu ignorieren, wie du es schon dein ganzes Leben lang versuchst? Erbärmlich!«
»Die einzige Seele, hinter der du wirklich her bist, ist meine, richtig?«, erkundigte sich Cierian kalt. »Tja, Pech für dich! Wenn ich ertrinke, wirst du sie niemals bekommen. Und ich werde niemals fallen. Kein schlechtes Ende für ...«
Plötzlich packte ihn etwas aus der Tiefe. Es war, als würde der Boden unter ihm wegschmelzen - ausgelöst von einer Dunkelheit, die die des anderen Jungen noch bei Weitem übertraf.
»Was ...?! Hör sofort auf damit!«, schrie dieser nun erzürnt, wich jedoch zeitgleich vor dieser neuen, sich schwallartig ausbreitenden Finsternis zurück. »Dies hier ist meine Illusion! Was immer du bist, hör auf dich einzumischen!«
Der andere Junge löste sich auf und Harlyn trat an seine Stelle. Die sichtbare Gesichtshälfte des Vollstreckers war vor Anstrengung verzerrt und dicke Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn und liefen ihn an beiden Schläfen herunter. Irgendwas sabotierte seine Bändigung. Nur ... was?
Und dann wurde alles dunkel.
Cierian fand sich im Nichts wieder, er stand auf einer Art Spiegelfläche und mit jeder Bewegung verzerrte sich sein Abbild unter den Füßen, als würde er über Wasser laufen. Er hatte diesen Ort noch nie betreten, trotzdem kam er ihm recht vertraut vor. Als wäre er schon oft vor dessen Tür gestanden, aber noch nie über die Schwelle getreten ...
»Willkommen im aller finstersten Eck deines Verstandes, Cierian. Dort wo du mich so gerne mich selbst überlässt.«
Auf einmal wusste er sehr genau, wo er war - dieser Ort existierte seit vielen Jahren tiefverschlossen in seiner Seele. Er sah hinab auf sein Spiegelbild, oder viel mehr auf das, was vorgab es zu sein; seine Verdorbenheit höchst selbst.
»Bin ich ... gefallen?«
»Nein«, antwortete sie ihm seufzend, »bist du nicht.«
»Und was soll das dann? Wieso hast du mich hergebracht?«
»Weil deine Sturheit uns letztendlich den Sieg kosten wird.«
»Also fürchtest du, dass ich verliere und du zusammen mit mir ertrinken musst?«, vermutete Cierian bitter und kräuselte die Stirn.
»Sei nicht albern. Wir werden schon nicht ertrinken. Vorher würdest du fallen und unter meiner Kontrolle es irgendwie schaffen zu überleben.«
»Wenn du so zuversichtlich bist, verstehe ich nicht, was ich hier soll. Ich frage dich erneut; warum hast du mich hergebracht?«
Seine Verdorbenheit antwortete zunächst nicht, sondern erhob sich aus dem Spiegelboden, verschenkte die Arme hinter dem Rücken und ging ein paar nachdenkliche Schritte durch die Dunkelheit.
»Ich weiß du verabscheust mich, aber ... ich empfinde nicht so für dich.«
»Ach nein?«
»Nein. Ich verabscheue es, dass du mich hier drin gefangen hältst. Aber ohne dich würde es mich nicht geben. Deshalb würde es keinen Sinn machen, dich zu hassen.«
»Was genau willst du von mir?«, fragte Cierian ungeduldig. »Falls es dir noch nicht aufgefallen sollte, einer der mächtigsten Vollstrecker aller Zeiten versucht gerade die Kontrolle über unseren Geist zu gewinnen. Also wie lautet dein genialer Vorschlag, hm? Soll ich stattdessen lieber dir die alleinige Kontrolle überlassen? Träum ruhig weiter!«
»Das würde ich auch gar nicht wollen«, entgegnete seine Verdorbenheit überraschend ernst. »Ich will einfach nur, dass es so wird wie früher ... Erinnerst du dich? Damals hattest du keine Angst davor meine Macht zu nutzen, um deine Feinde zu bezwingen. Warum jetzt?«
Der Bändiger war verblüfft. Sollte das ein Trick sein?
»Weil ich kein ahnungsloses Kind mehr bin«, antwortete er. »Weil ich weiß, welchen Schaden ich – wir - angerichtet haben. Schaden, den wir nie wieder Rückgängig machen können.«
»Nun, wir müssen ja nicht unbedingt soweit gehen und erneut anfangen, fremde Geister vollständig zu unterwerfen oder gar auszulöschen. Eine kleine Bändigung hier und da, wieder im harmonischen Einklang miteinander sein - mehr verlange ich gar nicht.«
»Im harmonischen Einklang miteinander sein«, wiederholte Cierian voller Skepsis. »An diesen Zustand kann ich mich nicht erinnern.«
»Du lügst.«
Ja, vielleicht log er wirklich; es gab durchaus eine Zeit, vor Astrias Fall, da hatte er großes Vertrauen in seine Fähigkeiten und glaubte in seinem jugendlichen Übermut es mit allem aufnehmen zu können - eine fatale Fehleinschätzung.
»Ich will mit dir zusammenarbeiten, Cierian. Gemeinsam können wir diesen Feind mit Leichtigkeit aus unserem Verstand verbannen und einen Gegenangriff einleiten. Aber du musst anfangen mir wieder zu vertrauen und mich ... gewähren lassen.«
»Oh ja, weil das bisher immer so gut gelaufen ist, was?«
Er dachte an all die Male, wo er kurzeitig die Kontrolle verloren hatte; unter anderem an die erste Begegnung mit Kat, in dieser heruntergekommenen Spelunke, wo er ihn Rage geraten war und das Leben des Diebs beinahe wegen einer dummen Provokation und eines Taschendiebstahls beendet hätte ... Ganz zu schweigen von Shaes ungewollter Transformation, die er aus eigener Kraft nicht hatte rückgängig machen können.
»Ich habe den Dieb aber nicht getötet und diesem Drachen sogar das Leben gerettet«, las sein Spiegelbild seine Gedanken. »Du bist undankbar.«
Da war der Bändiger anderer Meinung. Andererseits ... er dachte an Shae und Kat und seine Eingeweide zogen sich schmerzvoll zusammen. Wenn er nicht sehr schnell die Oberhand in diesem Kampf gewann, würden beide für sein Versagen einen hohen Preis bezahlen.
»Fein«, willigte Cierian deshalb zähneknirschend ein, »ich bin bereit unsere alte Partnerschaft wiederaufleben zu lassen, unter der Bedingung, dass wir niemals zu tief in den Verstand eines anderen Wesens eindringen und seiner selbst berauben. Keine Hüllen mehr, verstanden? Niemals wieder.«
»Einverstanden«, antwortete seine Verdorbenheit diplomatisch und hielt ihm aufmunternd eine Hand entgegen.
Der Bändiger zögerte noch einen Moment. Was, wenn er diese heikle Entscheidung bald bitter bereute? Dann ergriff er die ihm dargebotene Hand und besiegelte den Packt. Darum würde er sich kümmern, wenn es soweit war. Für die Rettung seiner Verbündeten war er bereit jedes Risiko einzugehen.
࿇
Cierian war zurück an Deck, der dichte Ascheregen ließ ihn mehrmals blinzeln. Die Ausgangssituation hatte sich nicht geändert; der Vollstrecker stand immer noch zwischen ihm und Shae und hatte die Hand mit dem halb heraufbeschworenen Pillalux dem Drachen entgegengestreckt.
»Vale, was ist passiert?«, fragte Kat mit angespannter Stimme und blickte ihn aufmerksam an. In seinen verschiedenfarbigen Seelenspiegeln flackerte eine für ihn sehr ungewohnte Unsicherheit.
»Ich hab ihn«, keuchte Cierian und ein triumphales Grinsen schlich sich seine Mundwinkel hinauf. »Haryln wird sich erstmal nicht aus dieser Bändigung befreien können ... Los!«
Er rannte zu Shae, die sich sofort flach ans Deck presste, damit sie sich auf ihren Rücken schwingen konnten.
Der zweifelnde Blick des Diebs wanderte von dem schmalen Drachenrücken zu Cierians Gesicht und zurück. »Bist du dir da auch ganz sicher?«
»Meinetwegen kannst du auch hierbleiben und ans Festland schwimmen«, grummelte Shae sofort beleidigt.
»Du solltest allein fliegen, dadurch erhöhen sich eure Chancen.«
»Vergiss es. Ich lasse dich nicht hier, entweder du steigst freiwillig auf oder ich dringe in deinen Geist ein und zwinge dich dazu«, drohte Cierian ihm finster an. »Was ist dir lieber?«
Kat entschied sich gegen die Bändigung und schwang gelenkig auf Shaes Rücken. Cierian wollte seinem Beispiel schon folgen, da spürte er, wie seine Verdorbenheit ein Stück zurückgedrängt wurde - Harlyn kämpfte erbittert. Ewig würde seine Verdorbenheit ihn nicht eingesperrt halten ...
In diesem Augenblick zerschnitt ein markerschütternder Schmerzensschrei den Sturm und Shae bäumte sich auf.
Mit Entsetzen stellte Cierian fest, dass Kats Obsidandolch zwischen ihren schimmernden Schulterschuppen steckte und der Dieb diesen gerade wieder herausriss und den Arm hob um erneut zuzustechen.
Harlyn war in seinem Kopf.
Der Bändiger sprang vor und riss den Dieb von dem Drachen hinunter, packte die Hand mit dem Dolch und hielt sie am Boden fest, während er schnellstmöglich versuchte Kats Verstand von dem fremden Einfluss zu befreien; doch es funktionierte nicht! Fluchend holte er aus und schlug den Dieb mit Zuhilfenahme eines Bruchteils seiner Knochenhärtung bewusstlos.
Das Schiff kenterte.
Man konnte hören, wie Schrauben aus der Verankerung gerissen wurden, der Rumpf war inzwischen überflutet und zog das Heck gewaltsam unter Wasser, während der Bug, wo sie sich befanden, langsam nach oben geneigt wurde. Jede Sekunde könnte es mittig durchbrechen und sie allesamt in den Abgrund ziehen ...
Cierian schnappte sich Kat und hievte ihn mühsam zurück auf Shaes Rücken. Der Drache schlug sich wacker und versuchte tapfer die Schmerzen auszuhalten; aus der frischen Stichwunde quoll Blut.
»Ich bin gleich zurück«, murmelte Cierian beruhigend und schnappte sich den Dolch aus Kats erschlafftem Griff; er würde diesen Alptraum jetzt beenden!
Harlyn Ezra stand immer noch wie versteinert da, nur seine Augen verrieten, wie verbissen er sich gegen Cierians Verdorbenheit erwehrte.
»Das ist für Astria«, murmelte der Magier nah in sein Ohr hinein und setzte die Klinge an. »Für Mira und Jacoby und all die anderen, die euretwegen verbrannt sind!«
Cierian durchschnitt dem Vollstrecker genüsslich die Kehle, durchtrennte Muskeln, Sehnen und Knorpel und ließ den Dolch an der Außenseite seines Halses stecken. Ein Blutschwall ergoß sich wasserfallartig aus dem tiefem Schnitt und tränkte sie beide in leuchtendes Blut.
Der Vollstecker kippte beiseite und blieb reglos liegen.
»Cierian!«, japste Shae ängstlich. »Ich weiß nicht, ob ich in diesem Zustand noch in der Lage bin zu fliegen!«
»Keine Angst.« Cierian kletterte hinter Kat und presste seine Hand auf die Stichwunde. Auf Heilmagie war er wahrlich nicht spezialisiert, aber er konnte immerhin die Blutung stillen und die Schmerzen reduzieren.
»Ich bin bei dir.«
Kaum nahm das Drachenmädchen die Vertrautheit des Bändigers wahr, schöpfte sie neue Kraft; sie stieß sich vom Boden ab und jagte in wenigen Sätzen den kompletten Bug hinauf und landete schwer atmend auf der eisernen Brüstung. Um sie herum wütete der Aschesturm, das Schiff ragte nun fast senkrecht aus dem Wasser auf.
Harlyns Leichnam schlitterte am Deck hinab und verschwand in den Fluten.
Bereit?, fragte Cierian an den Drachen gewandt. Dieser breitete zur Antwort die Flügel weit aus und stürzte sich mutig in den anhaltenden Sturm.
࿇࿇࿇
Huhu, kleines Staffelfinale, wenn wir es so nennen wollen :)
Im nächsten Kapitel startet Teil 2 und beantwortet folgende Fragen:
- Lebt Oz eigentlich noch?💀
- Wo wurden Toivo, Ghozzie und Jelly hingespült?🌊
- Stürzen Shae, Kat und Cierian zusammen ins Meer oder schaffen sie es gemeinsam durch den Sturm?🌪️
࿇
Ich hoffe, ihr habt bis zum Ende mitgefiebert und mein Erzähltempo war nicht zu schnell :D
Würde mich natürlich unheimlich freuen, wenn ihr meinen Sieben auch weiterhin treu bleibt und die Geschichte auch in Zukunft weiterverfolgt <3
Bis dahin ... wir lesen uns!
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