13. Symbiose
Kalter Regen lief Shae übers Gesicht, als sie schließlich wieder das Dorf erreichten. Noch immer waren die Laternen unangezündet und wirkten im dichten Nebel wie geisterhafte Schattenwesen, die sich gerade aus ihren Gräben erhoben hatten. Im Wirtshaus brannte noch Licht, und dunkel zu erkennende, vermummte Gestalten standen allein oder in Grüppchen zusammen vor den Türen ihrer Häuser. Alle Blicke waren ungeniert auf sie gerichtet und folgten ihnen.
„Nicht stehenbleiben", raunte Kyrie ihr zu und hastete unbeirrt weiter.
Shae war überrascht von Kyries Unruhe. Sie hatte die Attentäterin bisher noch nie nervös erlebt.
War Oz den wirklich in Gefahr?
Plötzlich fiel ihr wieder ein, welch grauenhafte Dinge sie ihm in ihrer blinden Wut entgegengeschleudert hatte und schämte sich furchtbar.
Die Attentäterin stürmte geradezu ins Laboratorium und blieb dann wie versteinert stehen.
Einen Moment herrschte nur stilles Entsetzen. Shae konnte es nicht fassen, wollte ihren Augen nicht trauen; Oz saß gefesselt auf einem Stuhl. Schaum quoll ihm aus dem Mund und besudelte sein Hemd, der Blick war völlig nach innen verdreht. Ab und an zuckte er wie im Krampf.
„Was hast du getan?", fragte die Attentäterin anklagend und das Drachenmädchen hörte ein rasselndes Geräusch ihren Ärmel herunterrutschen.
„Eine höchst bemerkenswerte Reaktion", eröffnete ihnen der Lichtbringer abwesend, der gerade dabei war eine Probe des Speichels in ein Glasfläschchen abzufüllen. Sowohl die tödlichen Klingen, als auch der in der Luft schwebende Blutdurst, schien ihn vollkommen kaltzulassen. „Solch ein abstoßendes Verhalten einer Machtquelle gegenüber ihres Wirts ist mir noch nie untergekommen ... Ich verstehe es wirklich nicht."
„Du verstehst es nicht?", wiederholte Kyrie fragend. „Bei den Sieben Sünden, Eskil, was hast du getan?"
Endlich schien er die Gefahr doch wahrzunehmen und richtete sich entrüstet auf. „Das worum er mich gebeten hat. Ich habe ihm eine künstliche Verbindung geschaffen, mithilfe der er in Kontakt mit seiner Machtquelle treten konnte. Ich habe nie bestritten, dass es gewisse Risiken gibt, aber das hier ..." Er blickte wieder auf Oz hinab. „Eine solch massive Abweisung konnte ich wirklich nicht vorausahnen ... Ich denke, da hat schon lange vor mir jemand versucht, diese Quelle künstlich zu beeinflussen."
„Deine Ausflüchte interessieren mich nicht", entgegnete die Attentäterin eisig, „was immer du da angerichtet hast, mach es rückgängig!"
„Ich wüsste nicht, wie."
„Dann überlege Lichtbringer, denn wenn du dich als nicht länger nützlich erweist ..."
„Spar dir deine Drohung, Kind der Sünde. Sie wird nichts an der Realität verändern; ich kann ihm nicht helfen, selbst wenn ich es wollte."
Shae hatte kaum etwas von der Auseinandersetzung mitbekommen. Sie stand regungslos da, die Augen fest auf Oz gerichtet, ohne zu blinzeln. Sie sog den Anblick regelrecht in sich ein.
Wenn ich jetzt nichts tue, werde ich sie beide verlieren.
„Egal was ihr dafür tun müsst, haltet ihn irgendwie am Leben."
„Was hast du vor?!", fragte Kyrie sie sichtlich angespannt.
„Was wohl? Ich werde tun, was ich schon die ganze Zeit vorhatte; ich werde Cierian holen, er wird wissen, was zu tun ist."
„Und wie willst du das anstellen?"
„Indem ich daran glaube", antwortete Shae entschieden und wandte sich dann an den Lichtbringer: „Lass ihn nicht sterben, hörst du? Sonst wird es nicht die Attentäterin sein, die dich in Stücke reißt ..."
„Charmant. Ich werde mein Möglichstes tun, allerdings sind meine Möglichkeiten begrenzt. Mehr als zwei Tage gebe ich ihm nicht."
„Kyrie, ich fliege schneller allein. Bleib hier und beschütze ihn, wenn nötig."
„Natürlich beschütze ich ihn, aber Shae, selbst ein Drache kann ohne Flügel nicht fliegen."
„Dieser schon", behauptete sie engstirnig und stürzte sich unerschrocken hinaus in den Sturm.
Es musste einfach funktionieren, wenn das nicht genügend Zündstoff war, um ihr Feuer wieder auflodern zulassen, würde sie auf ewig in diesem Körper festsitzen.
Sie rannte aus dem Dorf, den Hügel hinauf und dann weiter Richtung Küste. Der salzige Meergeruch war ihr bereits auf dem Hinweg aufgefallen, weit konnte sie demnach nicht mehr entfernt liegen. Sie stolperte und stürzte, stand auf und rannte weiter.
Sie dachte an Benjis Worte:
Aber warum hast du es überhaupt getan, woher wusstest du denn, dass du fliegen kannst? Niemand hat es dir gesagt und du hast keinen anderen deiner Art je fliegen sehen. Warum also hast du eines Tages einfach deine Flügel ausgebreitet und bist losgeflogen?
Der Sturm riss unermüdlich an ihren Kleidern, sie streifte, ohne anzuhalten die lästigen Stiefel ab und riss sich den Mantel herunter. Ein Drache brauchte so etwas nicht, ihre Schuppen waren härter als jedes von Menschenhand gefertigte Material. Ein Felsen kam in Sicht und dahinter das Meer. Gelbzackige Blitze tobten darüber und gewaltige Wellen peitschten gegen die massiven Steilwände. Barfuß spürte sie jeden scharfkantigen Stein, auf den sie trat, sogar jedes Aschefetzchen. Sie versuchte sich zu erinnern; rekonstruierte sorgsam jenen Moment.
Sie erinnerte sich daran, dass sie im hohen Gras gedöst hatte, als plötzlich ein kleines zerbrechliches Wesen auf ihrer Nase gelandet war und sie geweckt hatte. Verwundert hatte sie es angestarrt, doch schon im nächsten Augenblick war der kleine nachtblaue Falter weitergeflogen - und wie jede blutjunge Abenteurerin hatte sie sofort todesmutig die Verfolgung aufgenommen. Sie war ihm gefolgt, über Wiesen und Wälder bis hin zu einem grasbewachsenen Küstenabhang, wo der Schmetterling kurz innegehalten und aufgeregt über dem blauen Wasser geflatterte hatte, fast als würde er sie auffordern ihm weiter zu folgen.
Das Drachenmädchen hatte neugierig über den Rand geblickt, hinab in den sanften Wellengang. Eine angenehme Brise hatte über den Küstenabschnitt geweht und das hohe Gras hinter ihr rascheln lassen. Sie hatte den salzigen Geruch eingeatmet und ganz natürlich die sehnigen Flügel ausgebreitet, die trotz des spärlichen Sonnenlichts das Glitzern des Wassers reflektierten. Kurz hatte sie nochmal die Krallen in der Sicherheit des Bodens vergraben, bevor sie den Sprung gewagt hatte und mit weit ausgebreiteten Flügeln die Küste entlangglitt. Der Wind hatte angenehm über ihr Schuppenkleid gestreichelt und als sie der Wasseroberfläche so nah gekommen war, sodass sie ihr eigenes Spiegelbild darauf erkennen hatte können, tauchte sie verspielt eine Klaue ins Wasser uns zerteilte es. Sie hatte ganz instinktiv gewusst wie man flog, niemand hatte ihr etwas beibringen müssen.
Nur noch wenige Schritte trennten Shae vor dem Abgrund. Statt einer sanften Brise, herrschte hier das absolute Chaos - Meereswasser, Sturmwinde, Blitze und Ascheregen verbündeten sich zu einem gemeinsamen mächtigen Feind - sie erreichte den Rand und sprang.
Shae versank. Ihre menschlichen Lungen füllten sich unerbittlich mit Wasser. Nichts als Leere und Dunkelheit umgab sie, kein Sonnenstrahl durchbrach das schwarze Wasser, kein tröstlicher Gedanke überkam sie. So ging es also zu Ende, als Drache geboren würde sie in dieser schwächlichen Gestalt die Welt der Lebenden verlassen. Ihr Verstand begann bereits zu verblassen. Doch dann sah sie plötzlich den Schemen eines Drachenkörpers über die Wasseroberfläche gleiten, so unfassbar frei und ungestüm. Es war wie ein Faustschlag in die Magengrube, wie ein Schrei aus weiter Ferne - das konnte nicht ihr Schicksal sein! Sie konnte nicht einfach sterben! Cierian ... Oz ... jemand musste sie doch retten, sie beschützen ... Nein, nicht irgendjemand, ein Hütedrache, geboren um die zu beschützen, die ihr am Herzen lagen. Der Tod musste warten.
Mit Händen und Füßen um sich schlagend, versuchte sie zurück an die Oberfläche zu gelangen. Stück für Stück näherte sie sich ihrem Ziel, näherte sie sich der Rettung ihrer Freunde, zähnefletschend, flügelschlagend, mit ausgefahrenen Klauen durchbrach sie den Wasserspiegel und schoss in den Himmel hinauf als wiedergeborener Drache.
Ihr Verstand brauchte einen Augenblick, um mit ihrer alten Gestalt zu synchronisieren. Kurz war sie zerrissen und haltlos und tapste vollkommen orientierungslos durch ihr eigenes Unterbewusstsein, dann setzten ihre Instinkte ein. Und noch etwas Anderes kam zurück ... sie konnte ihn fühlen. Noch deutlicher als damals in den Höhlen - Cierian! Sie würde durch diesen Sturm fliegen, ganz egal was es sie kostete ... Ich werde zu Cierian zurückkehren, schwor sie, breitete die Flügel aus und begann ihren Angriff aufs offene Meer.
Oz hatte aufgegeben sich gegen den ihn umschlingenden Schleim zu wehren. Er war gefangen. Gefangen im Schleimkokon seiner eigenen Verdorbenheit.
Idiot, hörte er eine Stimme in seinen Gedanken widerhallen, die verdächtig nach Kat klang. Für jedes Problem gibt es eine Lösung, du wirst sie aber kaum finden, wenn du dich weiter feige hinter deiner eigenen Unzulänglichkeit versteckst! Benutze gefälligst deinen Kopf!
Mühsam versuchte er seine Gedanken zu ordnen und dachte an seine vorangegangenen Lektionen zurück.
Konzentration. Das war der Schlüssel.
Konzerntrier dich, Oz.
Leichter gedacht als getan.
Wasser. Er musste an Wasser denken. Er wusste, dass viele sich die Quelle als sprudelnden kleinen Bach vorstellten. In seiner frühen Kindheit hatten Kat und er gemeinsam mit Jonna an den grasbewachsenen Ufern eines solchen Bachs gepicknickt, weit im Osten von Le-Zith, wo der Himmel noch manchmal aufklarte. Damit verband er warme Sonnenstrahlen und Kinderlachen - kein verdorbenes Gebräu das seinen Verstand attackierte. Es war mehr wie damals als sie unter dieser Brücke gehockt waren und der kalte Regen fiel.
Und dann passierte es. Oz spürte wie er ruckartig nach vorn gerissen wurde und auf Händen und Knien landete. Dicke schwarze Tropfen klatschten um ihn herum auf Schotter und Kies, rann seine helle Haut hinunter ... infizierte ihn.
***
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