10. Innerer Sturm
Nach Kyries Berechnungen würden sie am nächsten Tag auf einen Ausgang stoßen, also prüften sie am Abend ihre Ausrüstung nach entstandenen Schäden und legten sich früh schlafen. Zumindest war das der Plan.
Shae konnte nicht schlafen. Ihr Geist war aufgewühlt und dachte an Cierian. Angst und Wut reiften unermüdlich in ihr heran, wie ein immer weiterwachsendes Geschwür. Sie hatte sich so sehr daran gewöhnt, immer in seiner Nähe zu sein, dass diese plötzliche Abwesenheit ihr physische Schmerzen zufügte. Wenn sie tagsüber trainierte oder sich zumindest ihrem Ziel mit jedem Schritt annäherte, konnte sie diesen Schmerz ertragen, aber nachts, wenn sie hilflos ihren Ängsten ausgeliefert war, würde sie am liebsten laut schreien.
So litt sie still bis Kyrie Oz weckte und sie endlich weiterzogen und der Schmerz wieder mehr in den Hintergrund rückte. Wie hatte sie es nur so lange allein in ihrer Geburtsgrotte ausgehalten? Damals hatte ihr die Enge Sicherheit suggeriert, jetzt erstickte sie fast daran.
„Bei den Sieben", knurrte Kyrie plötzlich und blieb stehen. Sie hatten eine weitere Kammer erreicht, die offensichtlich von Schmugglern als Lagerplatz umfunktioniert worden war. Überall standen gestapelte Kisten und Eichenfässer herum. Aus einem der von dort abzweigenden Gängen schimmerte endlich Tageslicht hervor. Und dort lehnte auch eine blutrote Gestalt in Gesellschaft der wundersamsten Geschöpfe, die Shae je erblickt hatte. Eidechsen nur ... riesig. Fast drei Meter hoch und sich deshalb leicht gebückt haltend müssend.
„Das ging schnell", murmelte Kyrie und ließ geschmeidig eine Klinge aus ihrem wallenden Ärmel aufblitzen.
„Die kannst du ruhig stecken lassen", wehte eine melodische Stimme zu ihnen hinüber, sanft und lieblich wie ein Windspiel.
„Ist die Kunde meines Verrats etwa noch nicht bis zu dir vorgedrungen?", erkundigte sich die Attentäterin verächtlich. „Etzgi wird wohl nachlässig."
„Doch, allerdings", erwiderte das feindliche Kind der Sünde bedächtig und trat näher. „Nur kann mir das keiner nachweisen. Was mich angeht, sind wir immer noch Schwestern."
„Du willst helfen, Kiana?", fragte Kyrie sie spöttisch.
„Vielleicht bist du ja nicht das einzige Kind in Sünderrot, das sich Cierians Überleben wünscht", erwiderte Angesprochene süffisant.
„Vielleicht will ich deine Hilfe aber nicht."
„Vielleicht bleibt dir gar keine andere Wahl, als sie anzunehmen. Deine Verbündeten schwinden Schwester, kaum jemand hat den Mut sich offen gegen Le-Zith stellen", erinnerte Kiana ihre Klingenschwester überaus freundlich.
„Vielleicht könnten wir mal aufhören in Rätseln zu sprechen", mischte Oz sich verdrießlich ein. „Etzgi hat uns gerade erst verraten, warum sollten wir da ausgerechnet einer weiteren Spionin Kaenas vertrauen?"
„Das ist doch alles unwichtig!", fand Shae entrüstet und zog die Aufmerksamkeit der drei menschlichen Anwesenden auf sich. „Das Einzige, was im Moment von Bedeutung ist, ist herauszufinden, was das für scheußliche Kreaturen sind!"
„Was? Die Sandläufer?", fragte Kyrie und hob erstaunt eine Braue an. „Sind das nicht sogar Verwandte von dir?"
„Wie kannst du es wagen?!", zischte Shae erbost. „Diese seltsamen Kreaturen haben absolut gar nichts mit mir gemein!"
„Allein von ihrer Physiologie her, unterscheiden sich Drachen eigentlich kaum von anderen Echsen", behauptete die verbündete Attentäterin mit einem gefährlichen Funkeln in den mandelförmigen Augen. „Ihr seid quasi Cousinen."
„Noch ein Wort aus deinem Mund und ich schwöre beim Blut meiner Vorfahren ..."
„Könntet ihr nur ein einziges Mal diese kindlichen Sticheleien sein lassen und fokussiert bleiben?", bat Oz die beiden Frauen verdrießlich und wandte sich dann wieder der wartenden Fremden im Sünderrot zu. „Also, warum sollten wir deine Hilfe annehmen?"
„Wie ich bereits sagte, viele Verbündete bleiben euch nicht mehr. Le-Zith' Schatten wird immer länger und wenn wir nicht aufpassen, wird er uns alle eines Tages verschlingen. Wie es von Kora prophezeit wurde."
„Wer ist Kora?", wollte Shae verdrießlich wissen.
„Die letzte Hohepriesterin von Petyr", antworteten Kyrie und Oz synchron.
„Dieselbe Frau, die das Erscheinen des Erwählten voraussagte?"
„Genau die", bestätigte Kiana dem Drachenmädchen. „Deshalb ist Cierians Überleben auch unerlässlich."
„Ich dachte, Oz sei jetzt der Auserwählte?", bohrte Shae nochmals irritiert nach. Warum waren diese verschiedenen Menschenbezeichnungen nur alle so kompliziert?
Eine peinliche Pause entstand, die Kiana schließlich mit einem schwachen Räuspern durchbrach: „Nun, nach seinem angeblichen Ableben, hielt Kaena es für notwendig die Position neu zu besetzen. Jeder Umbruch, jedes Aufbegehren, braucht eine Galionsfigur und ein von Le-Zith' veraschter Toter spricht nicht unbedingt für den unbesiegbaren Helden aus der Weissagung."
„Dann ist diese sogenannte Prophezeiung nichts weiter als eine plumpe Lüge?", fragte das Drachenmädchen entrüstet. „Damit es jenen wie euch leichter fällt, die Leichtgläubigen und Verzweifelten zu manipulieren?"
„Schafe brauchen Führung", behauptete die Frau namens Kiana, „sonst wird sich niemals eine Armee aus der gefallenen Asche erheben und sich geschlossen gegen Le-Zith stellen."
„Schafe brauchen keine Führung", knurrte Shae zornig. „Sie brauchen Schutz, eine Familie. Jemanden, bei dem sie sich sicher und geborgen fühlen und der die hungrigen Wölfe auf Abstand hält. Egal wie schön du sie verpackst, eine Lüge bleibt eine Lüge."
„Menschen brauchen schöne Lügen. Egal ob es dabei um Götter oder Helden geht, es ist um einiges einfacher im Namen eines anderen zu töten, als für sich selbst. Denn dann muss man nie die ganze Verantwortung für sein Tun übernehmen, man tötet für seine Liebsten, seine Überzeugungen, seine Götter. Glaube mir, davon kann jedes Kind der Sünde ein Lied anstimmen."
„Aber warum willst du ausgerechnet uns helfen?", fragte Oz dennoch voller Argwohn. „Wenn es dir nur um Cierians Überleben geht, hättest du dich lieber seinem Rettungstrupp nach Osten anschließen sollen. Wir befinden uns auf einer vollkommen anderen Mission."
„Es geht nicht nur darum, dass er überlebt. Was Cierian Vale mehr als alles andere in der letzten Schlacht um Astria gefehlt hat, waren fähige Verbündete. Gleichgesinnte, denen er blind vertrauen konnte und keiner weiteren Institution Rechenschaft schuldeten. Der Magiezirkel von Astria, wie Nobel dessen Motive im Urkern vielleicht gewesen sein mochten, bestand größtenteils aus miteinander konkurrierenden Ignoranten an der Schwelle zum Wahnsinn, wo jedes Individuum vorrangig seine eigenen Ziele voranzutreiben versuchte. Selbst sein eigener Mentor, der begnadete Protektor Vine Toivo, bildete da keine Ausnahme. Dieser immer weiter ausartende Konflikt gegen Le-Zith, fand seinen Nährboden hauptsächlich im verletzten Stolz alter Magistra."
„Du willst uns also helfen, damit wir Cierian helfen können", fasste Shae in ihrer kindlichen Art knapp zusammen und die Sünderin nickte. „Genau deshalb bin ich hier. Sind wir hier."
„Du willst uns deine Sandläufer überlassen?", vermutete Kyrie und legte nachdenklich den Kopf schief, sodass ihre Locken spielerisch über ihre linke Gesichtshälfte fielen.
„Es gibt kein zuverlässigeres Transportmittel durch den Sturm."
„Auf keinen Fall werde ich auf den Rücken eines dieser zu groß geratenen Frösche steigen", wehrte Shae sofort ab. „Kein Drache würde das."
„Du bist doch auch schon auf einem Kamel geritten", argumentierte Oz, „da gibt es doch fast keinen Unterschied."
„Doch den gibt es", fand Shae stur und funkelte die Echsen dermaßen finster an, als empfände sie allein dessen Existenz schon als persönliche Beleidigung.
Der junge Magiebegabte seufzte und wandte sich Hilfe suchend an Kyrie: „Was meinst du?"
„Auf den Echsen würden wir unser Ziel weitaus schneller erreichen. Wir könnten Pfade einschlagen, die für andere so gut wie unpassierbar sind und somit möglichen Verfolgern leicht und effizient aus dem Weg gehen."
Eine der rotbraunen Echsen direkt neben Kiana, schnupperte auf einmal interessiert und streckte seinen langen Hals dem Drachen entgegen.
„Sieh nur Shae", versuchte Oz erneut dessen Unmut zu besänftigen. „Ich glaube, er mag dich."
Diese fletschte sofort angriffslustig die Zähne und stieß ein drohendes Knurren hervor. Der Sandläufer erschrak daraufhin und breitete seinen Kragen aus, eine Hautmembran, die ihn auf Feinde schlagartig größer und bedrohlicher erscheinen ließ. Bei Shae funktionierte dieser natürlicher Verteidigungsmechanismus absolut lehrbuchhaft, von der plötzlichen Aufblähung überrascht, taumelte sie verschüchtert zurück, stolperte und landete unsanft mit dem Hintern zuerst auf dem kalten Steinboden.
Kyries dreckiges Lachen echote sofort hundertfach von den Wänden wider, was das Drachenmädchen noch weiter in Rage versetzte.
Oz seufzte und bot ihr eine ausgestreckte Hand an. „Kannst du es zumindest versuchen? Für Cierian?"
Schweigend musterte sie die ihr dargebotene Hand.
„Je schneller wir Eskil ausfindig machen, desto eher kann er eine Methodik für deine Rückverwandlung entwickeln. Wiegt das nicht eine kleine Kränkung auf?"
Das Mädchen bleckte erneut die Zähne, bevor sie ohne seine Hand zu ergreifen aufstand und hinüber zu den Echsen trat. Es waren wirklich abscheuliche Kreaturen. Sie standen aufrecht, die Hinterbeine deutlich länger als die Vorderbeine. Der Äußere zweite Zehe ragte grotesk hervor und diente vermutlich als Waffe. Jeder Zentimeter der Sandläufer waren mit kleinen, rauen Schuppen bedeckt, die im schwachen Laternenlicht orangebraun schimmerten.
„Na schön", willigte Shae schließlich ein und ballte die Hände, spürte wie die kümmerlichen Überreste ihrer Klauen, blutige Halbmonde in ihre Handinnenflächen hineinritzten. „Ich werde diese Schmach erdulden. Vorerst."
„Mehr können wir wohl nicht verlangen", beschloss die Attentäterin zynisch und wendete ihre Aufmerksamkeit wieder ihrer Klingenschwester zu. „Bist du dir auch ganz sicher? Kaena könnte dir das als Verrat anlasten."
„Meine Schwester, so sicher war ich mir noch nie bei einer Sache. Und nun geht mit dem Segen der Sieben und erfüllt Koras Prophezeiung."
Rasch banden sie sich die Tücher um und setzten die Schutzbrillen auf.
„Nehmt auch die", sagte Kiana und überreichte jeden von ihnen ein Paar dicker Lederhandschuhe, an denen jeweils ein kleines knöchernes Röhrchen befestigt war.
Die Attentäterin schob sich das Röhrchen unters Tuch an die Lippen und blies hinein. Eine der Echsen hob sofort den Kopf und tapste ihr gehorsam entgegen.
„Wie ihr seht reagiert jeder Sandläufer auf seinen eigenen Ton", erklärte Kiana den anderen beiden derweil. „Ohne diese Knochenpfeife wird er euch nicht länger gehorchen, also gebt gut darauf acht. Die Handschuhe und der Sattel schützen euch vor den scharfzackigen Schuppen - trotzdem solltet ihr euch sehr umsichtig bewegen. Wenn sie sich bedroht fühlen, sondern sie über die Hautporen ein Gift ab, was, wenn es durch kleine Schnittwunden über Blut in euren Körper gelangt, die Sinne benebelt und zu Krampfanfällen führen kann."
„Nett", fand Oz und streifte sich die Handschuhe über, bevor er einmal kräftig in seine Pfeife pfiff, um sich als neuer Meister vorzustellen. Die von dem Ton angesprochene Echse beugte sich sofort gefügig zu ihm herunter und der Junge tätschelte vorsichtig die angelegte Membranschicht am Hals, bevor er nach dem herabhängenden Zügel griff.
Shae missfiel das außerordentlich. Kein drachenähnliches Wesen sollte sich wie ein gewöhnliches Maultier abrichten lassen. Doch dann dachte sie an Cierian und die Wut kühlte ein wenig ab. Solange sie ihn dadurch zurückbekam, würde sie sich auch selbst als gewöhnliches Transporttier versklaven lassen. Es gab keinen Preis, den sich nicht bereit wäre zu zahlen. Also blies sie in die Pfeife und zitierte ihre Echse herbei. Es handelte sich um das gleiche Exemplar, was sie zuvor neugierig beschnuppert hatte. Das Drachenmädchen konnte immer noch dessen Unsicherheit riechen, aber auch dessen immer noch vorhandene Neugier.
Die Echsen spürten, dass sie kein Mensch war, aber sie wussten auch nicht genau, was sie war. Und so langsam begann sie es selbst nicht mehr zu wissen. Sämtliche Drachen, denen sie auf dieser Reise bisher begegnet waren, kämpften dermaßen verbissen für Le-Zith und dessen Schutz für das Reservat. Niemand schien je auch nur einen kleinen Zweifel daran zu hegen, dass es sämtliche feindliche Menschen und Magier auszulöschen galt. Kein Drache schien Frieden oder einen Waffenstillstand auch nur in Betracht zu ziehen. War sie denn wirklich die Einzige ihrer Art, die es vorzog zu beschützen statt zu vernichten? War sie wahrhaftig der einzig atmende Hütedrache unterhalb des ewig grauen Himmels? Eine kleine Rarität, wie Cierian es so passend bei ihrer ersten Begegnung formuliert hatte; ein Einzelstück.
„Shae ...", sagte Oz nachdrücklich ihren Namen.
Das Mädchen blinzelte und sah, dass Oz und die Attentäterin mit ihren Echsen bereits den Höhlenausgang erreicht hatten. Hinter ihnen wütete der Aschesturm.
„Keine Sorge", flüsterte die Sündern Kiana neben ihr und zwinkerte dem Mädchen verschwörerisch zu. „Die Sandläufer haben sich über die Jahrzehnte perfekt an die Bedingungen des Sturms angepasst - diese für uns tobende Hölle ist nun ihr natürlicher Lebensraum."
Vermutlich dachte sie, Shae wäre vor Angst wie erstarrt, nichts könnte der Wahrheit fernerliegen. Da pulsierte eine vollkommene andere Empfindung in ihr, laut und unzähmbar, genau wie der Sturm.
***
Anmerkung: seit letzter Woche gibt es in Sieben Sünder | Astrias Vermächtnis ein Glossar. Für den Fall, dass ihr gewisse Begrifflichkeiten oder Organisationen nochmal in Ruhe nachlesen möchtet🖤 selbst ich muss ab und zu in meine Notizen sehen, denn die Welt, die ich hier erschaffen habe, ist schon relativ komplex geworden🤯🤭
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro