1. Getrennt
Magie und Wissenschaft sind beide in ihrem Urkern rein. Erst wenn sie mit dem Mensch in Kontakt kommen, verderben sie.
*
„Steh auf", verlangte die Attentäterin forsch und blickte auf das Häufchen Elend hinunter, den sie versprochen hatte, in den Osten zu schaffen. Das Mädchen mit den bernsteinfarbenen Augen und bleicher Haut rührte sich nicht.
Sie befanden sich in einer der verwinkelten Seitengassen Petyrs, in der Nähe der Schwarzmarkthalle. Ein wütender Wind rüttelte an den inzwischen fest mit Brettern vernagelten Fenstern, jagte die Asche wie lästiges Ungeziefer umher und versuchte in jede noch so kleinste Ritze einzudringen. Niemand hielt sich mehr länger als unbedingt nötig draußen auf.
„Verschwende nicht meine Zeit!", knurrte Kyrie und stieß das an der Fassade kauernde Geschöpf, grob mit dem Fuß an. „Komm schon, Mädchen. Mir gefällt das auch nicht, aber Cierian hat Kat um diesen Gefallen gebeten. Und ich respektiere seinen Wunsch."
Warum auch immer er das wollte... Nach Osten, so nah an die Grenze zu Le-Zith. Sie vertraute Eskil kein Stück. Er war schon immer ein zwielichtiger Zeitgenosse, aber nach Astrias Fall hatte niemand mehr ein kontrollierendes Auge auf seine Forschungen geworfen - wer wusste schon, was dieser Lichtbringer alles in seinem Laboratorium trieb.
„Bitte nicht, Madame", mischte Kats jüngerer Bruder sich ein und hielt die Attentäterin beherzt am Ärmel fest. „Sie braucht nur noch einen kleinen Moment."
„Madame?", echote Kyrie irritiert und hob eine Braue. „Sehe ich für dich aus wie eine Adelstochter?"
„Ich wollte nur... höflich sein", stammelte der Junge defensiv und gab beinahe erschrocken den Stoff ihrer Tunika wieder frei, in den er sich bis eben gekrallt hatte. Kyrie betrachtete ihn einen Moment nachdenklich, wodurch er sichtlich errötete und beschämt den Blick auf seine Stiefelspitzen hinabsenkte. Sie konnte wirklich kaum glauben, dass dieses verunsicherte Balg und Kat aus demselben Mutterschoß entsprungen sein sollten.
„Wie auch immer", seufzte die Attentäterin und strich sich beiläufig den von ihm zusammengestauchten Stoff der Tunika glatt. „Tu etwas dagegen oder ich schleife sie an den Haaren hinter mir her."
„In Ordnung", murmelte der junge Sünder und ging vor dem Mädchen in die Hocke. Er redete beruhigend auf sie ein und nach einer Weile zeigten seine Worte die gewünschte Wirkung und das Mädchen stand auf.
„Wir sind bereit", teilte der Junge ihr unnötigerweise dann mit einem schüchternen Lächeln mit und Kyrie verkniff sich einen Fluch. Was fand Cierian nur an der Gesellschaft dieser Bälger? Sie waren Ballast, der sie verlangsamte und im Kampf behinderte. Warum wollte er sie unbedingt vor Le-Zith beschützen?
Ohne weiter auf die beiden zu achten, setzte sie sich in Bewegung. Je schneller sie diesen Auftrag abschließen konnte, desto besser.
Die Sturmzeit war so nah, dass sie kein anderes Transportmittel als ihre eigenen Füße nutzen konnten. Shae kam das sehr gelegen. Sie hatte es satt, sich auf ein anderes Wesen als sich selbst verlassen zu müssen. Als Drache konnte sie jedes Hindernis aus eigener Kraft überwinden. Das versuchte sie auch Oz zu erklären, als dieser ihr die Schutzbrille aufzusetzen versuchte. Anschließend wickelte er ihr noch ein speziell gefertigtes Tuch um Mund und Nase, an dem sie fast erstickte. Aber sie ertrug es. Für Cierian. Sie musste alles dafür tun, um möglichst schnell wieder ihren alten Körper zurückzuerlangen. Und wenn das bedeutete, mit dieser blutrünstigen Sünderin zu einem abgelegenen Grenzdorf zu reisen, wo ein heimtückischer Magier Experimente an ihr durchführte, dann war das eben so. Sobald sie ihre Klauen und Flügel zurückerlangte, würde sie einfach fortfliegen und Cierian selbst aufspüren. Es war ein simpler, aber effektiver Plan - und nichts und niemand würde sie davon abbringen.
„Bist du in Ordnung?", fragte Oz besorgt neben ihr. Durch die Brille und das Tuch hatte sie Schwierigkeiten, sein Gesicht auszumachen. Kyrie hatte sie unbemerkt aus der Sündenstadt geschmuggelt, aber darin lag nicht die eigentliche Herausforderung. Shae wusste, dass sich genau in diesem Moment vor ihren Augen eine schier endlos reichende Staubwüste erstreckte, doch durch den immer noch wütenden Aschesturm, sah sie kaum weiter als ihr ausgestreckter Arm reichte.
„Shae?", bohrte er nochmals unsicher nach und legte den Kopf schief.
„Mir geht es gut", versicherte das Drachenmädchen mürrisch und tastete nach dem Seil, welches fest um ihre Taille geschlungen war. Eine Sicherheitsmaßnahme, der sie nur äußerst widerwillig zugestimmt hatte. Ihr missfiel es, derart offensichtlich an die Attentäterin gebunden zu sein. Doch nun musste sie zugeben, dass es keine unbegründete Vorsichtsmaßnahme war.
Oz hatte ihr versichert, dass sein Bruder alles versuchen würde, um Cierian zu befreien. Doch sie war kein naives Drachenjunges mehr. Er hatte sie schon einmal belogen, diesmal würde sie auf ihre eigenen Instinkte vertrauen.
„Bist du sicher? Seit unserem Aufbruch bist du unglaublich still", warf er ihr so leise vor, dass seine Worte drohten im Sturm völlig unterzugehen. Doch Shae war trotz dieser menschlichen Hülle immer noch ein Drache und ihre Sinne waren geschärft.
„Wenn du fröhliche Lieder auf deiner Reise hören möchtest, wärst du besser bei Toivo geblieben", antwortete sie schnippisch und blinzelte gegen die herumwirbelnden Staubkörner an.
„Ich mache mir auch Sorgen um ihn", beteuerte er daraufhin betroffen.
„Ja? Doch das bringt ihn nicht zurück, oder?", fragte sie wütend und ballte die Hände zusammen. Ignorierte den aufkeimenden Schmerz, als ihre kümmerlichen Menschennägel kleine blutige Halbmonde in ihre Haut hineindrückten.
„Nein, aber..."
„Hört auf rumzutrödeln!", fauchte eine sichtlich verstimmte valerische Attentäterin von weiter vorn und das Seil um Shaes Hüfte spannte sich. „Wir müssen uns beeilen - für die Durchquerung der Wüste bleibt uns nur ein kleines Zeitfenster."
Also marschierten sie weiter durch die Asche. Fast einen ganzen Tag ohne Pause, vielleicht auch länger, wer konnte das schon genau sagen? Erst als die Temperaturen drastisch absanken, suchte Kyrie nach einem Steinvorsprung, unter dem sie etwas Schutz fanden.
Das Drachenmädchen saß Schulter an Schulter mit dem jungen Magier, aber diesmal vermied er jeden Blickkontakt zu ihr. Ihr kam das nur gelegen. Sie wollte auch gar nicht mit ihm reden. Sie wollte Cierian.
„Also", begann Kyrie mit abfälliger Stimme und zog die Beine an, um ihr Kinn darauf abzulegen; wobei widerspenstige Locken, aus der Verborgenheit ihrer Kapuze rutschten und ihre linke Gesichtshälfte verhüllten. „Du bist also Vales Ersatz, ja?"
„Wenn du damit meinst, dass ich den momentanen Titel des Auserwählten trage, dann ja", antwortete Oz unglücklich und schob sich zeitgleich die eingeaschte Schutzbrille ins dunkle Haar.
„Warum du?", wollte sie ungeduldig wissen und betrachtete ihn skeptisch. Shae gefiel nicht, wie sie ihn beäugte. Wie einen Gegenstand, dessen Nützlichkeit sie noch abwog. Doch Oz war kein Gegenstand, sondern Teil ihrer Herde. Ein verlorenes Schaf, ohne Klauen und Zähne, welches sie beschützen musste.
„Wie meinst du das?", fragte Oz derweil überfordert zurück.
„Irgendwas muss dich doch dazu qualifizieren", behauptete Kyrie überzeugt und pustete sich eine Locke vom Nasenrücken. „Ich kenne Kaena schon sehr lange - selbst ihre auswechselbaren Strohpüppchen, sucht die Ordensmutter mit Bedacht aus. Verrat mir Ozwald Laer, was macht dich besonders?"
„Gar nichts", antwortete Oz überraschend überzeugt. „An mir ist gar nichts besonders. Ich bin nur der miserable Schüler, der keinen Zugang zu seiner Machtquelle findet. Ziemlich erbärmlich, oder?"
„Und Eskil soll diese Verbindung erzwingen? Das ist vielleicht ein mieser Plan. Ein richtiger Cierian Vale-Plan", murmelte Kyrie zerknirscht und wandte endlich ihren stechenden Blick von ihm ab.
„Aber mir bleibt nichts anderes übrig", argumentierte Oz und ein frustriertes Funkeln glomm in seinen goldbraunen Seelenspiegeln auf, die Shae stets an die herabfallende Laubblätter erinnerten, die an friedvollen Herbsttagen bis zum Grund ihrer Grotte hinab gesegelt waren und wunderbar nach feuchtem Wald gerochen hatten. „Solange ich in diesem Schwebezustand verharre, bin ich für alle nur eine Belastung. Ich muss meine Quelle unter Kontrolle bekommen, und zwar schnell."
Seine Quelle unter Kontrolle bringen. Das war leichter gesagt als getan. Oz setzte schwerfällig einen Fuß vor den anderen. Es war nicht das erste Mal, dass er während einer Sturmzeit reiste. Das Leben als Dieb hatte ihn in ständige Bewegung gezwungen, wohin es Kat und ihn verschlug, spielte dabei nur eine untergeordnete Rolle, solange sie niemals lange an einem Ort verweilten. Nein, das stimmte so nicht ganz. Auch schon vor dieser Zeit hatte er wie ein Flüchtiger gelebt. Seit seine Mutter ihn eines Nachts aus dem Kinderbett gezerrt und fortgelaufen war.
Er hob den Blick und starrte in den Wirbelsturm aus herum wehenden Ascheflocken und Staubkörnern. Doch diese Reise würde anders verlaufen. Diesmal lief er nicht weg, diesmal lief er auf etwas zu.
Hinter ihm erklang ein Knurren und er warf einen knappen Blick über die Schulter. Dem Drachenmädchen setzte die Sturmzeit mehr zu, als er es je für möglich gehalten hätte. Er sah die Anspannung in ihren Augen und verspürte sofort den Wunsch, sie schützend in den Arm zu nehmen. Aber er unterließ es, seit Cierians Festnahme hatte sich ihr ganzes Wesen verwandelt. Ihre neugierige Naivität war erloschen und etwas anderes erwacht - ein raubtierhafter Instinkt, der sie unentwegt vorantrieb und auf eine günstige Gelegenheit lauern ließ. Und ihre auserkorene Beute war offenkundig Kyrie. Die Attentäterin, der sie zu folgen verdammt war. Sobald sie sich ihrer durch einen Vorwand entledigt hatte, war sie frei und konnte zu Cierian. So oder so ähnlich mussten die Gedanken in ihrem Kopf herumspuken. Und ihm fiel nichts ein, um sie eines Besseren zu belehren. Was sollte er auch sagen? Vertrau auf Kats Plan? Dem Plan, den sein Bruder nicht für nötig gehalten hatte, offenzulegen? Die Wahrheit war doch, dass sie keine Ahnung hatten, wie diese sogenannte Rettungsmission verlaufen würde. Und statt alles zu riskieren, um seinen Mentor, Shaes Familie, vor einer grausamen Hinrichtung zu bewahren, marschierten sie in ein abgelegenes Grenzdorf, um sich verrückten Experimenten zu unterziehen. Aber wieso? Wieso ging er dann trotzdem weiter? War ihm eine konstante Machtverbindung wirklich wichtiger als Cierians Leben?
Ein weiterer unentschlossener Schritt und... der junge Magiebegabte rutschte ab. Die beiden Seile um seine Hüften spannten, während er vollends sein Gleichgewicht verlor und mit dem Gesicht voran in der Sandasche landete.
„Was ist passiert?", schrie Shae irgendwo schräg über ihm.
„Es ist nichts", erwiderte Oz Asche hustend und versuchte sich mit den Armen hoch zu stützen. „Ich bin nur... Was bei den Sieben?"
Er bekam seine Hände nicht mehr aus dem Sand. Er steckte fest.
„Nicht bewegen!", orderte Kyrie alarmiert. „In dieser Gegend wimmelt es nur so von Treibsandoasen. Je mehr du dich bewegst, desto schneller sinkst du ab."
„Oh, na dann", feixte Shae. „Vielen Dank für die Warnung!"
Treibsandoasen?!, durchzuckte es Oz angstvoll und er versuchte weiterhin krampfhaft, seine von der nassen Sandasche gefangenen Unterarme, zu befreien - doch wie Kyrie prophezeit hatte, wurde der Griff dadurch nur noch eisiger.
„Ich sagte, nicht bewegen!", wiederholte die Attentäterin genervt und wandte sich im nächsten Moment an Shae: „Das Seil, Drachenmädchen! Zieh."
„Mein Name ist Shae", erwiderte sie, packte mit beiden Händen die Verbindung zu Oz und zog, wobei sie die Fersen in den Sand presste, auf der Suche nach Halt, der ihr allerdings verwehrt blieb. Zentimeter um Zentimeter verlor sie an Abstand. Was war bloß los mit ihr? Sie war ein Drache! Sie durfte nicht gegen eine Anhäufung Dreck verlieren! Nicht gegen den Wind! Nicht gegen die Asche! Und vor allem nie wieder gegen einen menschlichen Vollstrecker, der nur die Kräfte ihrer Art kopierte und versucht hatte ihre Familie abzuschlachten! Komm schon, Shailiha, so schwach bist du nicht! Darfst es nicht sein!
Sämtliche ihrer Muskeln überspannten und das Seil drohte jeden Augenblick zu zerreißen, doch darauf konnte sie keine Rücksicht nehmen. Ein unrealistischer Gedankte drängte sich ihr auf; wenn sie jetzt versagte, hatte sie es nicht länger verdient, in einem Drachenkörper zu leben. Dann war diese menschliche Hülle ihre gerechte Strafe!
„Gut festhalten, Mädchen", grummelte plötzlich hinter ihr eine ölige Stimme und im nächsten Moment, hangelte sich eine kleine, pelzige Gestalt an dem gespannten Seil entlang.
Verblüfft sah sie zu, wie die Gestalt zu Oz gelangte, einen gläsernen Flakon aus der Tasche fischte und eine durchsichtige Flüssigkeit großzügig über dessen Kopf träufelte.
„Luftanhalten, Junge. Das wird jetzt kein Zuckerstück werden!"
„Was...?!" Doch mehr konnte Oz nicht mehr sagen, er wurde vom Sand verschlugen, der ihn mehr und mehr in die Tiefe zog.
„Oz!", brüllte Shae entsetzt.
„Folge mir!", befahl Kyrie und sprang im nächsten Moment in den Treibsand, der sie ebenfalls binnen Sekunden vollkommen verschlang. Fassungslos blickte Shae ihr nach - nun versuchten beide Seilenden sie mit sich zu reißen. Der Halt unter ihren Füßen brach weg - der Treibsand schien sich auszubreiten. Wer war dieser Fremder und was hatte er da bloß in den Sand geschüttet?!
Verzweifelt tastete das Mädchen im Sand umher, suchte nach einer Erhebung, einem Stein, irgendwas; doch bekam nur nachgebenden Sandboden zu fassen.
Sie versank.
***
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