1. 𝓕𝓪𝓵𝓵𝓮𝓷𝓭𝓮 𝓐𝓼𝓬𝓱𝓮
In jedem von uns steckt ein Fünkchen Magie. Die Kunst, diese zum eigenen Vorteil zu nutzen, liegt in der Natur eines Magiers.
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Schafe waren die wohl mit Abstand dümmsten Tiere unter dem ewig grauen Himmel.
Ächzend und stolpernd suchte sich Cierian einen Pfad durch das Dickicht aus Dornen und abgestorbenem Gestrüpp. Vertrocknete Zweige und Ranken griffen wie Finger nach seinem dunklen Haar und seiner Kleidung und erschwerten ihm ein rasches Vorwärtskommen. Um ihn herum ragten knorrige, vom ständigen Mangel an Sonnenlicht gezeichnete Bäume empor, ihre Äste verkrüppelt und von Ascheflocken befleckt. Das triste Grau war allgegenwärtig.
Cierian beugte sich herab und strich durch die Asche. Der Hufabdruck war gut erkennbar. Noch.
Er musste das dumme Tier finden, bevor die Dämmerung einsetzte; sonst würde es den Raubtieren dieser Gegend zum Opfer fallen.
Allmählich verlor Cierian, dessen Körper mittlerweile vor Schweiß triefte, jegliche Orientierung. Seine Beine brannten unerbittlich, aber er zwang sich weiterzugehen. Seit Stunden folgte er den Hufspuren in der Asche.
Als er auf eine Lichtung gelangte, hielt er inne und gestattete seinen Lungenflügeln ein paar gnädige Atemzüge.
»Warte nur bis zur nächsten Wintersonnenwende ... Da endest du als saftiger Festtagsbraten«, schwor er sich und blinzelte gegen das tiefe Orange an, das matt durch die von Aschewolken verhangene Himmelsdecke hindurchgelangte.
»Wenn mir ein anderer Schaffresser nicht zuvorkommt«, fügte er seufzend hinzu und kratzte sich im Nacken.
Plötzlich hörte er ein entferntes Blöken und blickte sich aufmerksam um; knochiges Geäst wucherte so weit sein Blick reichte. »Bei den Sieben Sünden, wo steckst du bloß?«, rief Cierian entnervt. Doch die launenhaften Götter seiner Religion lachten vermutlich nur über seine mürrische Beschwerde oder ignorierten sie.
Das tote Unterholz knirschte unter seinen Stiefelsohlen, als er den Weg fortsetzte. Die zurückgebliebene Asche, die vom Himmel fiel, seit der Feueratem der Drachen den Himmel fast ein ganzes Jahr lang in ein flammendes Inferno verwandelt hatte, machte die Welt kälter und farbloser.
Rasch bestieg er den grauen Kamm eines Hügels und spähte umher. Doch abgesehen von ein paar düsteren Erhebungen sah er nur das schwindende Licht der langsam anbrechenden Dämmerung.
Einen Moment lang rang er noch mit sich, dann schloss er die Augen und konzentrierte sich. Er tastete mit seinem Geist nach der verdorbenen Quelle seiner Macht und spürte, wie sich die zähe, giftige Substanz ihren Weg durch seine Adern bahnte. Als er die Lider erneut aufschlug, war seine Sicht geschärft.
Am Abhang eines kleinen Hügels in unmittelbarer Nähe entdeckte er ein Wesen, das dem Erscheinungsbild eines Schafes ziemlich nahekam.
»Na warte«, zischte er und sprang. Wieder nutzte er seine Macht, ließ seine Verdorbenheit diesmal hinab in seine Beine strömen: Der schwarze Magiestrom überzog gehorsam sein Innenskelett, damit beim Aufkommen kein Knochen zersplitterte. Übelkeit überkam ihn wie immer, wenn er Gebrauch von seinen Fähigkeiten machte, als er wieder festen Untergrund berührte. Seine Sicht verschwamm, durch die körperlichen Nachwehen seiner Machtquelle, und es brauchte einen Moment, bis sich seine Sinne wieder normalisierten.
Jeder Zauber hat seinen Preis, hatte sein ehemaliger Mentor zu sagen gepflegt, doch wollte er sich jetzt nicht mit Sentimentalitäten herumschlagen, viel lieber würde er im Augenblick ein gewisses Schaf zur Schlachtbank führen.
Als seine natürliche Sehkraft wiederhergestellt war, ließ er den Blick wandern; das dämliche Tier musste hier irgendwo sein ...
Mehrere Gesteinsbrocken boten gute Verstecke, sodass er beschloss, sie näher in Augenschein zu nehmen. Leichtfüßig hüpfte er auf einen der Steine, um die Spalten der Gesteinslandschaft näher zu erforschen, was sich als keine besonders kluge Entscheidung herausstellte - der Stein, präziser gesagt dessen fragiler Untergrund, gab unter dem plötzlichen Zusatzgewicht nach. Cieran versuchte noch, das Gleichgewicht zu halten, doch der Boden war zu instabil. Mit einem letzten, verzweifelten Schritt taumelte er vorwärts, seine Fingerspitzen streiften Fels, doch der gab ebenfalls nach. Er stürzte haltlos in die Tiefe – seinem vermutlich sicheren Ende entgegen ...
Der Aufprall nach dem ungeplanten Fall war hart, und ihm schwindelte, weswegen er sich reflexartig eine Hand ins Gesicht presste.
Kurz darauf hörte Cierian ein irritierendes Rascheln. Überrascht zog er die Hand weg und sah Wasser, das in schmalen Rinnsalen an von Efeu überwucherten Steinwänden hinab in eine darunter ruhende Grotte floss.
In gekauerter Position strich er behutsam mit den Fingerspitzen durch das weiche Moosbett, auf dem er gelandet war. Sein Glück. Das Sternenmoos hatte sich über die Zeit überall hier unten angesiedelt und seine grünlich-weißen Fasern tauchten die Höhle in ein schummriges Licht. Das weiche, aber zugleich feste Gewebe hatte ihn gerettet. Die leuchtenden Pflanzen verliehen sogar diesem düsteren Ort etwas Friedliches.
Cierian legte den Kopf in den Nacken und starrte hinauf zu der Öffnung, durch die er soeben gestürzt war. Er hätte sich glatt den Hals brechen können.
Wieder dieses Geräusch. Wie ein Scharren. Suchend schaute er sich um und erstarrte, als er den Verursacher entdeckte. Ein mit schneeweißen Schuppen überzogenes Wesen drängte sich in der hintersten Ecke der Höhle gegen die Efeuwand. Der lange Schwanz zuckte nervös über den Boden, was das irritierende Scharren erklärte.
Drache.
Cierians Hand schnellte zu seinem Stiefel und zog sein Jagdmesser halb heraus, als das Wesen plötzlich losjapste: »Ich schmecke bestimmt ganz fürchterlich!«
Cierian hielt in der Bewegung inne und hob stattdessen eine Braue. »Wie bitte?«
Seine letzte Begegnung mit diesen Wesen lag schon eine Weile zurück und obwohl Drachen von Geburt an das Wissen ihrer Vorfahren abrufen konnten, und dadurch so gut wie jede menschlich gesprochene Sprache beherrschten, war Cierian nicht an eine artübergreifende Kommunikation gewohnt. Im Gegenteil, in der Vergangenheit wurde ihm meistens begrüßungslos gleißender Feueratem entgegengespien. Doch dieser Drache hier wirkte um einiges harmloser und beinahe ... verängstigt.
»Ich meine, ich weiß natürlich nicht, was Menschen verzehren, aber ich glaube dennoch, ich würde dir nicht sonderlich gut bekommen«, meinte die Kreatur kleinlaut und blinzelte ihn unsicher an.
»Wieso glaubst du, ich würde dich essen wollen?«, fragte er verdutzt. Irgendwas an der sanftmütigen Aura dieses Drachens ließ seine Anspannung schmelzen.
»Was hast du sonst mit dem Messer vor? Dich am Hintern kratzen?«
Cierian wog die Situation noch ein letztes Mal ab und schob schließlich sein Messer zurück in die eingenähte Halterung seines Stiefels, bevor er fragte: »Du bist ein seltsames Exemplar deiner Art, huh?«
»Ach ja?« Das Wesen legte den beschuppten Kopf schräg.
Er konnte die Unschuld und das Vertrauen in den Augen des fremden Geschöpfes spüren – ein Vertrauen, das Cierian regelrecht erschütterte. Wann hatte ihn das letzte Mal jemand so angesehen?
»Ehrlich gesagt, weiß ich das nicht«, sprudelte es aus dem Drachen hervor. »Ich bin noch nie einem anderen Exemplar von mir begegnet.«
»Verstehe.« Cierian stand auf und klopfte sich den Dreck von der Hose. »Und gehe ich richtig in der Annahme, dass du auch nicht vorhast, mich zu fressen?«
»Schmeckst du denn gut?«
Er schnaubte belustigt. »Ja, ohne Frage. Du bist eine richtige Rarität.«
»Rarität«, wiederholte es – sie, der Stimme und Statur nach zu urteilen – und umkreiste ihn neugierig. Das Drachenmädchen hatte die Größe eines heranwachsenden Pferdes, demnach handelte es sich wohl um ein Jungtier. »Was bedeutet das?«, forschte sie wissbegierig nach.
»Es bedeutet, du bist ein ... Einzelstück. Es gibt wohl nichts Vergleichbares auf der Welt.«
Das Wesen war mit einem Schlag direkt vor ihm und blies ihm seinen warmen fischigen Atem ins Gesicht.
»Also können wir uns darauf einigen, dass ich dich nicht töte und du mich nicht?«, wollte Cierian diplomatisch von ihr wissen.
»Einverstanden!« Kleine Rauchwölkchen quollen zustimmend aus den Nüstern hervor.
»Tja, du kennst nicht zufällig einen Weg, wie ich hier wieder herauskomme, oder?«, erkundigte sich Cierian und ließ seine Augen erneut durch die Höhle wandern. Nichts als feuchter, nackter Stein.
»Hier raus?«
»Ja, aber ich sehe schon. Ich werde wahrscheinlich schwimmen müssen. Diese Grotte dort ... führt die ins Meer?«
In ganz Nemerits erstreckten sich kilometerweite unterirdische Seenlandschaften, die durch teilweise überflutete Tunnelsysteme netzartig miteinander verbunden waren und einige Tunnel zweigten zum Meer ab.
»Ins Meer?«
Der Drache, Cierian kategorisierte sie aufgrund ihrer weißleuchtenden Schuppen als Perlmuttschuppe ein, wirkte verwirrt. »Meer ... Wasser, nicht wahr? Das Meer besteht aus Wasser.«
»Äh ... Ja.« Cierian runzelte die Stirn. »Warst du denn noch nie am Meer?«
»Nein.« Der Drachenkörper rollte sich im Moos zusammen, dadurch schimmerten die weißen Perlmuttschuppen leicht grünlich. »Ich habe diesen Ort noch nie verlassen.«
»Warum nicht?«
»Weil ...« Der Schwanz begann wieder nervös zu rotieren. »... es beängstigend ist, nicht zu wissen, welche Gefahren dort draußen auf einen lauern.«
Cierian lachte freudlos. All die Jahre, in denen er im Auftrag des Magiezirkels durchs Land gestreift war, hatte ihn eine Sache gelehrt; Drachen kannten keine Furcht, keine Gnade. Und nun das.
»Wie auch immer ...«, murmelte er und konnte fühlen wie seine Wangenmuskulatur sich anspannte, als ein bitteres Schmunzeln seine Mundwinkel flüchtig aufwärts wandern ließ. Er hatte dieses Leben hinter sich gelassen. Der Zirkel war zerstört worden und die wenigen überlebenden Mitglieder in alle Windrichtungen zerstreut. Es lag nicht länger in seiner Verantwortung, diesen Drachen zu beseitigen.
Er watete knietief ins eisige Wasser. Seine Stiefel füllten sich, und er spürte, wie sich die Kälte augenblicklich gierig in seinen Beinen ausbreitete, ihn ganz erfüllte und frösteln ließ. Er überlegte, Gebrauch von seiner Verdorbenheit zu machen, entschied sich aber dagegen. Das Gift in seinen Adern brauchte keinen weiteren Nährstoff. Sonst würde es nicht mehr allzu lange dauern, bis es seinen Verstand infiltrierte. Schon jetzt kratzte der Wahnsinn manchmal nachts an der Türschwelle seiner Geisteskraft. Er musste vorsichtiger werden.
»Ist es schön?«
Cierian, der unbewusst einen Arm gehoben und die dunklen Verfärbungen darauf angestarrt hatte, sah auf. »Was?«
»Das Meer. Ist es schön?«
Auf sein Gesicht stahl sich diesmal ein ehrliches Lächeln. »Auf diesem verruchten, kaputten Kontinent, ist das Meer wohl das Einzige, was man noch ungelogen als schön ansehen kann.«
Während er sprach, glitt er tiefer in die Grotte hinein. Als das Wasser ihm bis zur Brust stand verweilte er, um sich an die beißende Eisigkeit zu gewöhnen. »Es würde dir bestimmt gefallen«, waren seine letzten Worte, bevor er kopfüber ins Wasser eintauchte und verschwand.
Seine Lunge hielt ungefähr fünf Minuten ohne Sauerstoff durch, dann musste er seine verdorbene Quelle anzapfen, wenn er nicht ertrinken wollte.
Und auch so würde es hart werden. Zwar hatte er eine überflutete unterirdische Abzweigung entdeckt, die der Richtung nach stimmen könnte, aber er könnte genauso gut in sein eigenes Verderben treiben.
In diesem Augenblick blitzte etwas Weißes und Schnelles unter ihm auf. Die Perlmuttschuppe bewegte sich geschmeidig wie ein Fisch durchs Wasser und benutzte ihren wedelnden Schwanz als zusätzlichen Antrieb.
Das Drachenmädchen machte kehrt und wirbelte freudig um ihn herum. Ihr Anblick erinnerte ihn an die Seeotter, quirlige Wasserbewohner, die in den Kanälen seiner Heimatstadt gerne Fangen gespielt hatten.
Na, wenigstens eine hatte ihren Spaß.
Cierian hob eine Braue und ... verkrampfte. Er krümmte sich, während er seinen Unterarm umklammerte. Wasser drang ungehindert in seine Lunge ein, als der Schmerz ihn zu überwältigen drohte. Was nutzte es, einer der wenigen Magiebegabten unter dem ewig grauen Himmel zu sein, wenn man aufgrund der Nachwirkungen der verbotenen Quelle jederzeit draufgehen konnte? Er biss sich auf die Lippen, schmeckte Blut. Nun, die Quelle war nicht grundlos verdorben. Er hatte sich damit abgefunden, entweder wahnsinnig zu werden oder jung zu sterben. Und Letzteres war bestimmt nicht die schlechtere Option.
Auf einmal spürte er einen Druck. Etwas bohrte sich in seinen Rücken und versuchte, ihn vorwärtszuschieben. Cierian schloss halb die Lider und fuhr geistesabwesend mit den Fingern über einen schuppigen Hals. Der Anfall war vorüber, aber nun drohte die gewohnte nachfolgende Erschöpfung, seine Sinne zu überwältigen. Der Geschmack von Staub, Essig und schwarzem Morast breitete sich in seiner Mundhöhle aus. Das altbekannte Aroma von verdorbener Magie.
Er würde in die Dunkelheit abdriften.
Verdammte Schafe. Hätte er sich lieber dafür entschieden Gemüse anzubauen.
Und dann umgab sie ihn; eine undurchdringbare Finsternis. Es gab kein Oben und Unten mehr, sondern nur eine ihn einhüllende, erstickende Dunkelheit. Das war sie, die Quelle seiner Macht. Er trieb auf einem rauchartigen formlosen Strom zur dunkelsten Ecke seines Verstandes. An den Ort, an dem der Wahnsinn lauerte und es kaum erwarten konnte, sein Bewusstsein zu verschlingen. Dann würde er zu einem gefallenen Magier werden, zu einem jener Monster, die er sein halbes Leben lang gejagt und getötet hatte. Die Sieben Gottheiten waren wirklich Arschlinge, da sie ihm ein solch grausames Schicksal in die Wiege gelegt hatten. Mit einer Machtquelle geboren zu werden, war wahrhaftig ein Fluch.
Auf einmal sah er Licht. Winzige, für das menschliche Auge kaum wahrzunehmende funkelnde Partikel umschwebten ihn. Dieser Anblick kam ihm entfernt bekannt vor ... Sterne. Die Partikel erinnerten ihn an die Leuchtkraft der Sterne, die man nur noch in den klarsten Nächten in der Valeria Wüste betrachten konnte.
Ihm war, als triebe er im nächtlichen Firmament; weit über den Aschewolken, dort, wo der Himmel noch unverdorben sein musste.
Vorsichtig streckte er die Hand aus, und sofort umschwirrten die Lichtpunkte sie wie Glühwürmchen. Seine Mundwinkel zogen sich aufwärts. Wer hätte gedacht, dass solche Schönheit innerhalb seiner verdorbenen Quelle existierte?
Geh nicht, bat eine Stimme eindringlich in seinem Kopf.
Bitte ...
Ich war so lange allein ...
Geh nicht fort ....
Cierian kräuselte die Stirn. Was für eine komische Bitte. War dem Sprecher denn nicht gewahr, dass er gerade starb?
Geh nicht ...
Also wirklich. Nicht einmal in Ruhe abzukratzen, war ihm vergönnt.
Bitte nicht ...
Als hätte er eine Wahl.
Bitte!
Die Partikel strahlten heller und heller. Cierian kniff die Augen zusammen. Aus dem anfänglich sanften Sternenlicht formte sich eine kleine Sonne. Ihr Schein flutete explosionsartig die Finsternis in seinem Unterbewusstsein, und der zähe Rauch, der ihn bisher getragen hatte, löste sich auf.
Geh nicht fort!
»Ist ja gut«, sagte Cierian beschwichtigend zu dem kleinen Himmelskörper. Seine Stimme hallte durch diese Endlosigkeit, obwohl er natürlich nicht wirklich sprach. Er wusste, dass all das nur in seinem Kopf stattfand. Es ein Trugbild seines inneren Wahnsinns war. »Ich gehe nirgendwo hin.«
Versprichst du es?
»Meinetwegen. Aber lass dieses Gejammer sein – das ist ja unerträglich.«
Cierian schloss die Augen. Aber auch noch hinter geschlossenen Lidern fühlte er das Licht und die Wärme auf seinem Gesicht. Es war ... kein übles Gefühl.
Danke.
Cierian öffnete ein Auge. Die kleine Sonne war zusammengeschrumpft. Sie besaß jetzt höchstens noch die Größe einer Faust und umschwirrte ihn wie ein nerviges Insekt.
Nimm meine Hand.
Aus dem Augenwinkel bemerkte er, wie der Rauch erneut auf ihn zukroch.
Beeil dich! Nimm meine Hand!
Diese Sonne war nicht die hellste Leuchte.
»Du hast gar keine Hand«, murmelte er leise.
Schnell!
Vorsichtig streckte er einen Arm aus und umschloss die kleine Sonne mit seinen Fingern. Der wabernde schwarze Rauch kreiste ihn ein. Bald würde er ihn verschlucken. Bald würde er wieder in der altbekannten Finsternis versinken ...
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Cierian fühlte sich, als wäre eine wild gewordene Schafsherde über ihn hinweg getrampelt, nachdem er aus der Ohnmacht erwacht war und heftig blinzelnd die Augen aufschlagen hatte. Aber da waren keine Schafe. Nur ein aufgedrehtes Drachenmädchen, das aufgeregt im feuchten Sand herumsprang.
Ächzend setzte er sich auf. Sein Körper fühlte sich schrecklich steif an.
»Du bist wach!«, schrie der Drache begeistert und schlitterte auf ihn zu; nasser Sand peitschte ihm ins Gesicht.
»Ja«, gab er murrend zu und wischte sich mit dem Handrücken die kleinen Körner von der Haut. »Was ist passiert?«
»Ich ... bin mir nicht sicher.« Die Perlmuttschuppe tapste aufgeregt auf und ab, rotierte um sich selbst und schlug hektisch mit den sehnigen Flügeln. »Du lagst im Sterben, und ich habe mir so sehr gewünscht, nicht allein zurückgelassen zu werden. Und dann war da dieses Licht, und ich bin einfach immer weiter darauf zu geschwommen, und jetzt sind wir an diesem wundervollen Ort, und du lebst!«, beendete sie ihre wirre Aufzählung und jagte im nächsten Augenblick einer brechenden Welle hinterher.
Fassungslos fasste Cierian sich an den Hinterkopf und dachte nach. Offenbar hatte er keine schweren Verletzungen davongetragen, höchstens ein paar blaue Flecken und kleinere Schürfwunden. Und noch offensichtlicher würde er nichts Brauchbareres aus diesem Drachen herausbekommen, weshalb er auf die Beine kam und sich nachdenklich umsah. Er erkannte die Küste, in der Ferne zeichneten sich die schattenhaften Umrisse der Hafenstadt Regis ab, und dahinter erblickte er die gewaltige Gebirgskette Menelflor, die Schutzpatronin dieses Landstrichs, die die Gegend vor dem Einfluss Le-Zith' abschirmte. Noch, dachte Cierian und schluckte schwer. Dieses Drachenmädchen ahnte noch nicht, wie grausam diese Welt außerhalb ihrer Grotte sein konnte. Sie war noch genauso unschuldig wie ein frischgeschlüpftes Entenküken und auch wenn er Drachen im Allgemeinen nicht sonderlich leiden konnte, wollte er sie zumindest davor warnen: »Wenn ich Flügel hätte wie du, würde ich so weit wie möglich von hier fortfliegen und mir irgendwo auf einem friedvollen Kontinent ein Plätzchen Erde suchen.«
»Was ist mit diesem Kontinent?« Das Drachenmädchen hörte auf, den Wellen nachzujagen, und kam neugierig näher.
»Auf diesem Kontinent passieren viele schlimme Dinge«, erklärte Cierian, bückte sich und hob einen vom Wasser glatt gespülten Stein auf. »Du solltest fortfliegen.«
Er rieb den Stein zwischen den Fingern, sodass die Sandkruste abfiel und eine blauschimmernde Fläche zum Vorschein kam. »Ich würde es tun.«
»Aber ... « Das Wesen ließ geknickt die langen Ohren hängen. »Hier ist doch meine Heimat, hier gehöre ich hin.«
»Hier ist niemandes Heimat, glaub mir.« Er ballte die Hand um den Stein und ließ ihn im nächsten Moment über die Wasseroberfläche schlittern, bis die Schwerkraft ihn erfasste und unbarmherzig abwärts zog. »Aber es ist deine Entscheidung, wo du dein Leben verbringen möchtest.«
Ein kühler Nordwind fuhr ihm unter die durchnässte Kleidung und Cierian beschloss, dass die Zeit für den Abschied gekommen war. Es war sinnlos weiterzusuchen; Die Nacht war angebrochen und dieses dämliche Schaf verloren. »Leb wohl, kleine Rarität.«
Mit diesen Worten wandte er sich von ihr ab.
»Shailiha«, sagte das Wesen, und er hielt nochmals inne.
»So lautet mein Name. Shailiha.«
»Cierian«, gab er seinen eigenen Namen preis und ließ zu, dass die Nacht ihn verschluckte, als er seinen Heimweg zwischen den an den Strand grenzenden Bäumen suchte.
Shailiha folgte ihm nicht. Sie blieb allein am Strand zurück und blickte immer noch auf die Stelle, wo der Stein im Meer versunken war.
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