Kapitel 47
[Der Wandel der Zeit]
~Ich hatte immer schon große Ziele, aber jetzt will ich nur mehr eines...überleben~
Stille. Sie erfüllte die Luft wie ein Schleier, der alles hinter dichten Wolken verbarg. Als würde hinter der Fassade eine andere Realität warten, deren Türen noch nie geöffnet wurden, weil der Nebel zu dicht war. Als würde man durch ein Labyrinth irren, aber die Mauern waren zu hoch, man konnte nicht über sie sehen. So war Stille.
Erdrückend, als würde ein tonnenschwerer Lastwagen auf einem liegen, aber man hatte keine Chance ihn von sich herunter zu bewegen.
Schwer, der Schleier drückte einen zu Boden, als würde man wie Atlas den Himmel tragen, damit man nicht darunter zerquetscht wurde.
Aufmerksam, als würde die Stille jeden versuch bemerken, den man machte um sie zu bezwingen und irgendwie verhindern, aber man wusste nicht wie.
So war die Stimmung zwischen Eirene und Casmiel gerade. Sie blieben stumm, ließen das Schweigen über sich ergehen obwohl sie eigentlich ein Gespräch anfangen wollten, weil diese Stille sie wahnsinnig machte, vor allem Casmiel. Normalerweise liebte er es, wenn er in seinen Gedanken versinken konnte, ohne das er sich auch noch auf ein Gespräch fokussieren musste, aber irgendwie störte es ihn jetzt. Er hatte keine Konzentration übrig, seine Gedanken überschlugen sich und egal wie sehr er versuchte sie wieder zu ordnen, es funktionierte nicht. Sie wirbelten umher, stießen gegen seinen Schädel und hämmerte auf seinen Schläfen herum, sodass er das leichte Pochen vernahm und er wollte eigentlich überall sein außer in seinen Gedanken, die seinen schlimmsten Alptraum darstellten. Die Kontrolle zu verlieren.
Das einzige was ihn davon abhielt seine Maske abzusetzen war Eirene. Sie ging neben ihm her und schien nun weniger Probleme zu haben nach zu kommen, da er sein Tempo verringert hatte. Damit konnte er leben, schließlich konnte er Eirene nach allem was sie getan hatte nicht einfach alleine lassen. Sie hatte so viel für ihn getan, seine Eigenarten einfach akzeptiert und begleitete ihn noch immer ohne sich zu beschweren.
Für Casmiel war sie die wahre Heldin. Sie war nicht in der Öffentlichkeit, denn Eirene hasste es im Mittelpunkt zu stehen. Das hatten sie und ihr Bruder Edgar wohl gemeinsam, denn auch er blieb lieber unter sich. Sonst glichen sich die Geschwister in keiner Weise. Sie waren wie weiß und schwarz und doch waren sie Geschwister. Denn selbst schwarz und weiß hatten etwas gemeinsam. Sie waren beide keine Farben.
Aber das war nicht der Grund, weshalb Eirene die Heldin war. Sie war nur im Hintergrund, löste aber so vieles aus. Ohne sie, hätte Casmiel schon längst seine Sachen gepackt, besser gesagt ab dem Moment, an dem Azrael ihm verkündet hatte das er, Casmiel Tripe, ein Teil der Prophezeiung war, obwohl er das schon vermutet hatte. Er hätte Dolores mitgenommen, seinen Mantel um seine Schultern geworfen und wäre gegangen ohne auch nur einen Blick zurückzuwerfen.
Aber Eirene hatte etwas verwendet, sie hatte ihn verwendet. In ihrer Nähe fühlte er sich wohl. Ein Gefühl, das man normalerweise nur hatte, wenn man nach einer langen Reise Zuhause ankam. Wenn die Familie einen in die Arme schloss, alle das fröhliche Wiedersehen feierten und wenn alle sich freuten, das du wieder da warst. Zuhause.
Aber Cas hatte nie so etwas gehabt. Ein Zuhause war ihm fremd, genauso wie gute Eltern und eine normale Vergangenheit. Genauso wie es ihm unbekannt war, wie man unbekümmert oder gar naiv sein konnte, weil er in einer Welt aufgewachsen war, die ihm gezeigt hatte, das Vertrauen Schmerzen verursachte. Viele Schmerzen und diese wollte Casmiel vermeiden.
Er hatte genug Schmerzen für mehrere Leben erfahren und alles was er wollte, war ein ruhiges Leben ohne Schmerz und dieses Leben konnte er sich nur mit einer Person vorstellen. Eirene Rebecca Helenko.
Für sie war er vielleicht ein sinkendes Schiff, das sie versuchte wieder zu flicken, aber es wurden einfach nicht weniger Löcher, die die Wellen in das alte Holz rissen. Doch für Cas war sie ein sicherer Hafen, der ihn immer Willkommen heißen würde und er konnte sich ein Leben ohne diesen Hafen, ohne diesen sicheren Ort nicht mehr vorstellen, weil er sonst sein einziges Zuhause verlor, das er jemals gehabt hatte.
Jeder braucht ein Zuhause und manche machen es sich zu einer Lebensaufgabe ihr Zuhause zu finden. Casmiel hatte es gefunden. In Eirene.
Dolores hatte ihm die Augen geöffnet. Sie hatte ihm gezeigt, das Cassiopeia nicht seine Seelenverwandte gewesen ist, auch wenn er es sich so lange eingeredet hatte. Er wollte nur weiteren Schmerzen entgehen indem er die Suche einfach aufgab, aber das hatte er nie. Jedenfalls sein Unterbewusstsein nicht denn er hatte sie gefunden. Eirene.
Er war sich sicher das sie es war, die seine Seele als Einzige flicken konnte, denn das tat sie bereits indem sie ihn nicht wie einen Fehler behandelte, egal wie viele er machte.
Sie war für ihn da, wenn jeder andere ihm den Rücken kehrte. Wenn jeder auf seinen Trick herein fiel und seine Arroganz ernst nahm. Er spielte seine Rolle so perfekt, das selbst Theseus, der sich scheinbar bestens mit dem Menschen auskannte, sie nicht durchschauen konnte obwohl Casmiel geradezu nach Hilfe schrie, wenn er in der Nähe war. Denn er wollte das Theseus ihn bemerkte, er wollte das er verstand, das nichts okay war und das er sich selbst auch wünschte, er wäre der Held, für den jeder ihn hält. Doch das war er nicht und das wusste er auch.
Doch Theseus war, obwohl er es niemals zugeben würde, ein Kämpfer. Vielleicht war er ein Pazifist, aber wer sagte das ein Kämpfer nur mit seinen Fäusten in den Ring treten konnte?
Theseus bewies, das es noch viele andere Waffen gab und er nutzte diese. Denn Theseus größte Waffe war sein Glaube. Theseus glaubte nicht daran, das Casmiel das Arschloch war, das er jedem vorspielte. Er glaubte daran, das er ihn ändern konnte und zu dem größten Helden der Weltgeschichte machen konnte. Sein Glaube konnte Dörfer bewegen, Berge versetzten und sogar Welten drehen. Das machte Theseus zu einem solch besonderen Kämpfer, den Casmiel mehr als alles andere respektierte.
„Du denkst an Theseus, nicht wahr?" fragte Eirene belustigt, als sie ihn mit ihren schokoladefarbenen Augen musterte, die Casmiel wärmten, obwohl es eiskalt war und er seinen dunkelblauen Mantel fest um seine dürre Gestalt gewickelt hatte.
„Was? Woher weißt du das?" stellte er ihr die Gegenfrage leicht lachend. Eirene schien ihn schon länger zu beobachten, denn sie schien sein gesamtes Gesicht nun zu kennen und jede noch so kleine Regung zu bemerken.
„Naja. Immer wenn du an Theseus denkst, oder über ihn redest, sticht dein kleines Grübchen deutlich hervor weil du so verzwickt nachdenkst, als würdest du versuchen seine Schritte zu verstehen. Aber das tust du nicht, oder? Du verstehst Theseus nicht, egal wie viele Gedanken dich über ihn quälen" beantwortete sie seine Gegenfrage und Casmiel sah ein wenig verträumt auf den Boden.
Konnte sie tatsächlich sein Gesicht lesen? Konnte sie wissen, an was oder wen er dachte nur weil sie ein kleines, unscheinbares Grübchen bemerkt hatte?
Er traute Eirene zu, das sie intelligent war. Vielleicht ein wenig naiv und sehr hoffnungsvoll, aber dennoch nicht gerade dumm. Es gab verschiedene Arten von Intelligenz und Eirene hatte bestimmt auch etwas von diesem wertvollen Kuchen abbekommen, Cas war mehr als überzeugt davon.
„Ich...nein. Ich verstehe Theseus nicht. Ich verstehe einfach nicht, wie er trotz all den Jahren noch einen Sinn zu Leben findet" meinte er nur ehrlich. Eigentlich wollte er es abstreiten. Behaupten, er würde genau wissen wie Theseus war. Doch er sah keinen wirklichen Sinn hinter dieser Lüge und Eirene hatte die Wahrheit verdient. Viel mehr als die Wahrheit, sie hatte sein Vertrauen verdient.
„Hat er nicht, naja, nicht direkt. Ich wette Theseus ist müde. Er will nicht mehr Leben, aber es gibt keinen Weg es zu beenden. Ich denke, er würde nur liebend gern einmal seine Ruhe haben, sich zurücklehnen und nicht daran denken, das er noch die Unendlichkeit vor sich hat. Aber er hat jetzt diese Prophezeiung die ihm zeigt, das es einen Grund hat, wieso er existiert. Er hat endlich verstanden, das er einen Grund hat" erklärte sie ihm ruhig. Es schien einen Sinn zu ergeben aber Casmiel konnte Theseus noch immer nicht nachvollziehen.
„Weißt du, was mich überrascht hat? Er hat noch nie getötet, jedenfalls nicht wirklich. Ich meine, wenn du ewig leben könntest, würdest du nicht alles ausprobieren in dem Wissen das es nur eine Erfahrung von vielen wäre?" fragte Cas sie und er dachte wirklich darüber nach, was er alles gemacht hätte in einem ewigen Leben.
„Nein. Ich denke Theseus ist ein anderer Mensch als du, was nicht zwingend heißen soll das einer von euch besser ist. Er ist einfach...wie soll ich sagen...bodenständig. Er könnte nicht mit dem Wissen leben, das er gerade jemandem das Leben genommen hat, das für ihn doch so wertlos ist, aber für diesen Mann oder diese Frau oder diesen Menschen war es eben wichtig. Außerdem hat er jemandem aus seinem Leben gerissen. Er hat selbst genug Erfahrungen damit gemacht, schließlich wurde ihm alles entrissen früher oder später" überlegte sie und Cas bemerkte, wie sie eigentlich mehr mit sich selbst sprach, als mit ihm. Er kannte dieses Verhalten nur zu gut von sich selbst.
„Du hast recht" erwiderte er nur ruhig, ohne den Blick von seinem Ziel zu nehmen, das gerade aus war. „Ich denke Theseus ist einfach ein Phänomen für sich und man müsste in seiner Perspektive leben, um seine Gedanken zu verstehen" beendete er das Gespräch über Theseus.
Er könnte über so viele Dinge stundenlange philosophieren, weil es so viele Abzweigungen gab, die ein explizites Thema als Grundlage hatten, sich aber so stark davon unterschieden. Das war ja das spannende an Gedanken. Sie gingen nie zur Neige. Für manche ein Fluch, für manche ein Segen aber es wurde bestimmt nie langweilig im Kopf eines Genies oder eines Kindes, das noch die seltsamsten Ideen hatte obwohl es diese nicht einmal erschaffen und erkunden konnte.
Aber war nicht genau das so besonders am Leben? Man konnte denken, sich in neue Welten flüchten und sich wegträumen von dem tristen und langweiligem Alltag, in dem man wie in einer Dauerschleife steckte. Man konnte entfliehen indem man nur in seinen Gedanken versank und sie zuließ, auch wirklich darüber nachdachte und den Ursprung suchte, für das, was das Gehirn so fabriziert hatte. Denn es musste irgendwo einen Anfang geben, den man finden musste, damit man weiter graben konnte.
Plötzlich blieb Eirene stehen und Casmiel erkannte den Grund.
Eine Waffe war auf ihn gerichtet, die Hand des Schützen zitterte, als würde er frieren doch Casmiel spürte die Gefühle, die von dem etwas Älteren Mann ausgingen. Angst.
Er hatte Angst vor dem Ding in seiner Hand, das so leicht, so schnell ein Leben beenden konnte und das nur, weil er seinen Finger etwas krümmte. Es wäre so einfach abzudrücken und die Kugel würde den Rest erledigen. Man musste nur zielen und schießen, eine sehr einfache aber effiziente Mordwaffe.
Cas musterte ihn innig, nahm jedes Detail auf und speicherte es erst einmal. Es war wichtig seine Feinde zu kennen und vor allem sich an sie zu erinnern, sollte man irgendwann ein weiteres Mal auf sie stoßen. Eine Lehre seines Vaters, die tatsächlich eine wichtige Lektion beinhielt. Kenne deine Feinde, deine Freunde aber noch besser.
„Ca...Casmiel Tripe. Ich werde dich töten!" versprach der Mann nur, seine Stimme schien eine Oktave in die Höhe geschossen zu sein und Angstschweiß tropfte perlenförmig von seiner Stirn, die scheinbar schon ganz nass war, so viel Angst hatte der Mann.
Unbeeindruckt hob Casmiel die Arme und musterte den Mann bevor er seine Lippen zu seinem typischen, charmanten Lächeln verzog und lässig erwiderte: „Nur zu."
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