Epilog ϟ GOING ON
Bruises - Lewis Capaldi ♪♫
4 Jahre später
Es war voll, es war stickig, es war laut. Viele Menschen wuselten überall herum, die aufgeheizte Luft hing dick unter der Decke und erschwerte das Atmen und die Rufe des Abschieds, die Gespräche und die Willkommensschreie rollten mit mächtiger Gewalt an den steinernen Wänden hoch und brachen wie eine Flutwelle auf die Massen und mich herab.
Mit gehobenem Kopf trug ich meinen Rucksack über den vollen Bahnsteig, meine Schritte in der Geräuschkulisse nicht auszumachen. Ein Schaffner kreuzte meinen Weg und ich lächelte ihn freundlich an.
Das Handy hielt ich dicht an mein Ohr geklemmt, um durch den Lärm etwas verstehen zu können.
"Ja, ich bin sicher angekommen", sagte ich. "Nein, in London. Ich bin auf dem Weg zu Alia ... Natürlich hab ich dich vermisst! Aber wir sehen uns doch nachher."
Weil heute das letzte Wochenende der Osterferien war, war es sehr voll. Überall wuselten Muggel herum, weswegen meine Gestalt kaum auffiel.
Gut gelaunt wich ich einem Gepäckwagen aus und achtete darauf, dass sich mein dunkler Reiseumhang nicht zwischen meinen Beinen verfing.
"Ich bin noch auf dem Gleis ... Ja, Kings Cross, wo sonst. Siehst du, ich hab dich gleich angerufen."
Die Schiebetür glitt auf und ich trat auf den Vorplatz des Bahnhofs. Als ich durch den Schatten des Gebäudes lief, wurde es kurz kalt um mich, direkt darauf jedoch angenehm warm.
Ich war nun auf der anderen Seite Kings Cross' angekommen und schlug meinen Weg zu Alias und Lewis' Wohnung ein.
"Keine Ahnung, was wir zu Hause haben. Ich war die letzten zwei Wochen nicht da, du bist die Person, die zu Hause gewesen ist!"
Lachend über die Antwort verdrehte ich die Augen.
"Du bist ein Idiot! Ach komm schon, du kannst auch mal kochen! ... Du kochst überhaupt nicht ständig, meistens gibt es bei dir Toast oder bestellte Pizza."
Ich bog in eine kleine Gasse und achtete darauf, dass niemand hin sah. Mit einem leisen Plopp apparierte ich ein ganzes Stück weiter nördlich. Es gab ein lautes Knacken, doch die Verbindung hielt.
Mir wurde laut eine Beleidigung ins Ohr gebrüllt, ich solle nicht ständig während des Telefonierens apparieren, gefolgt von einem langen Stöhnen.
"Also kochst du? ... Danke! Du bist das Beste, was mir hätte passieren können. Nein, echt. Das brauche ich heute ... Ja, hab dich auch lieb. Bis heut' Abend."
Zeitgleich mit dem Auflegetaste drückte ich die Klingel und sogleich ertönte das altbekannte Surren. Noch bevor ich im zweiten Stock angelangt war, hörte ich bereits, wie die Tür aufgerissen wurde. Zwei helle Stimmen und lautes Hundegebell hallten durch den Flur.
"Hallo?" Als ob sie nicht genau wussten, dass ich es war.
"Halau! ǀHawe ǁae-e ta ge mû ro tama hâ! Matisa?"
"Auntie Kassy!"
Auf der vorletzten Treppe schmissen sich Deyana und Bahiyah an meine Beine. Lachend beugte ich mich zu ihnen runter und hob sie hoch. Augenblicklich hörte ich Alia von oben meckern.
"Quinn, Bee! Ihr seid barfuß! Ich hab gesagt, ihr könnt die Tür öffnen, nicht raus laufen!"
"Jetzt sei doch nicht so streng", rief ich zurück und hob jeden der beiden mit einem Arm hoch. "Uff, seid ihr schwer geworden!"
Ich setzte die Dreijährigen am Fuße der Treppe ab und scheuchte sie in die Wohnung. Alia stand in der Tür und hielt Bailey zurück. Ich beugte mich hinunter und strich ihr durchs weiche Fell.
"Dich hab ich ja auch ewig nicht mehr gesehen", freute ich mich und erhielt ein freudiges Kläffen als Antwort.
"Fast vier Monate her", stimmte Alia zu.
"Das merk ich", grinste ich und zeigte auf ihren Bauch. "Er lässt sich aber ganz schön Zeit - war der Termin nicht eigentlich vor zehn Tagen?"
"Ja, aber was will man machen. Ich kann ihn ja nicht rauszaubern."
"Schlag das mal Liv vor, vielleicht denkt sie sich was aus."
Lachend folgte ich Alia in die Wohnung der Familie und schloss die Tür. Die Zwillinge schossen auf höhe unsere Beine durchs Haus und suchten alle Dinge zusammen, die sie mir zeigen wollten.
"Lewis ist beim Training?"
"Wo sonst", grinste Alia. "Die CM steht vor der Tür, ich befürchte schon fast, ich krieg ihn nicht mal vom Feld weg, wenn ich in den Wehen liege. Willst du was trinken? Oder was essen?"
"Nein, danke. Ich krieg gleich garantiert noch überall genug. Ich muss nur aufpassen, dass ich nachher noch Hunger habe. Stell dir vor: Ich habe Saiph eben erfolgreich dazu bekommen, mich heute Abend zu bekochen."
"Das gibt's ja gar nicht!", lachte meine beste Freundin. "Saiph und Kochen! Wie geht es ihr?"
"Ach, sie ist immer noch nicht ganz über die Trennung hinweg. Ziemlich anhänglich, manchmal habe ich das Gefühl, sie behandelt mich wie ihn. Aber gut, ich denke, das legt sich demnächst."
"Auntie Kassy!", rief Bee und stürzte auf mich zu. "Schau, was ich gemalt habe!"
Ich ließ mir geduldig erklären, was genau dort künstlerisch gestaltete worden ist und lobte auch das Bild meines Patenkindes Quinn, von dem sie fest behauptete, es stellte den Familienkniesel Peezle dar.
Derzeitig kämpft Alia sich ins Schlafzimmer und holte einen großen braunen Umschlag, ähnlich dem, den ich mit nach New York genommen hatte. In ihm befanden sich Einladungen für die Hochzeit von ihr und Lewis.
Die beiden waren seit über vier Jahren verlobt, konnten und wollten aber aufgrund Alias Schwangerschaft nicht heiraten. Jetzt waren die Zwillinge alt genug und die beiden beschlossen, der beste Moment sei in wenigen Wochen, kurz nach der kommenden Geburt ihres dritten Kindes.
Lewis steckte mit der CM Hals über Kopf in Arbeit und Alia war nicht nur überfällig, sondern auch noch mit Haushalt und vier anderen auf sie angewiesenen Lebewesen beschäftigt. Ihr ursprünglicher Plan war gewesen, die Einladung per Post zu versenden (und zwar schon vor Monaten, ihr Vorteil war, dass schon so gut wie alle Bescheid wussten), doch dann kam mir eine Idee.
Als einer Alias Brautjungfern und ihre Trauzeugin hatte ich angeboten, mich um die Versendung zu kümmern. Und zwar persönlich.
Ich war die beiden vergangenen Wochen der Osterferien in den USA gewesen, um den ersten Schüleraustausch zwischen Ilvermorny und Hogwarts zu organisieren. Im gleichen Zuge hatte ich Teddys und Toris Einladung persönlich vorbeigebracht. Da wurde mir bewusst, wie viele meiner Freunde, mit denen ich überwiegend in Briefkontakt stand, ich lange nicht mehr besucht hatte und wie wichtig mir dies eigentlich war. Wie viel Spaß es machte.
Also schickte ich einen Brief mit meiner Idee an Alia und sie bereitete alles vor.
"In dem zweiten Umschlag hier drin sind die, die du in die Eulerei bringen kannst. Wenn du keine Lust hast, schick alle per Post. Aber sonst ist noch eine Liste mit der Reihenfolge der Adressen drin, die den kürzesten Weg bildet. Du kannst ihr folgen, musst du aber nicht."
"Das ist großartig, Alia. Danke."
"Du bist großartig, das entlastet mich wirklich. Kommst du morgen wie geplant zum Frühstück?"
"Aber natürlich." Ich hob die spielende Bee von meinem Schoß und stand auf, "Ich mach mich auf den Weg, ich brauche bestimmt den ganzen Tag. Bis morgen. Und danke nochmal."
Ich umarmte Alia, verabschiedete mich unter Protest und beinahe-Tränen von den Zwillingen (denen Alia seit fünf Minuten erklärte, dass ich morgen wiederkam) und begann mit meinem selbstauferlegten Auftrag.
Sechs Stunden, einen Haufen Snacks und drei Liter Tee später trat ich zurück auf die Straße. Zach und Olivia wohnten am dichtesten an der Winkelgasse, wo ich jetzt noch die restlichen Briefe zur Eulerei bringen wollte.
Die beiden hatten mich in ihrer neuen WG rumgeführt, dann (wie alle anderen) mit Tee abgefüllt und schließlich hatten wir uns verquatscht, sodass ich mich beeilen musste, damit die Eulerei nicht schloss.
Ich lief die letzten Meter durch Londons Straßen, tauschte schnelle Sätze im Tropfenden Kessel aus und betrat schließlich Eeylops streng riechendes und dunkles Eulenkaufhaus. Dort zog ich den zweiten Umschlag aus dem ansonsten leeren großen heraus und öffnete ihn.
Einige Namen kamen mir bekannt vor, andere nicht. Viele vertraute wohnten wirklich weiter weg, wenige Namen aus London hatte ich noch nie gehört. Nach und nach sortierte ich die Briefe und zog schließlich die letzten drei heraus. Der oberste schnürte meine Lungen zu.
Ich wusste nicht, auf was ich länger starrte: Shawns Namen oder seine Adresse.
Es wäre ein Leichtes gewesen, den Brief einfach in den Schnabel einer Eule zu geben, mich umzudrehen, zu gehen und mir einzureden, er würde ohnehin nicht zur Hochzeit kommen. Wieso hatte Alia ihn überhaupt eingeladen?
Was mich jedoch zögern ließ, war meine Neugier. Die Adresse stimmte nicht mit der seiner damaligen Wohnung überein. Ein Umzug war nichts Ungewöhnliches, nach all der Zeit und dem, was passiert war. Doch warum ausgerechnet nach Brixton? Ich kannte die Gegend, weil jeder sie mied.
Ich ließ die Einladung in meine Umhangtasche gleiten.
Schnell verschickte ich die anderen Briefe, bezahlte den Mitarbeiter, der schon ungeduldig auf seinen Feierabend wartete, und erschrak mich fast vor der mich draußen erwartenden Helligkeit, trotz der Uhrzeit. Drei Schritte südlich und ich war disappariert.
Zugegeben hatte ich die Gegend durch das Meiden nie selbst gesehen. Aber ich verstand, wieso einige einen Boden um das Viertel machten. Tagsüber war es doch ganz okay, aber der Gedanke, hier nachts alleine rumzulaufen, verschaffte mir eine Gänsehaut, obwohl ich Wege hatte, mich zu verteidigen.
Ich suchte mir eine Karte und navigierte mich durch heruntergekommene braune Backsteinhäuser. Ab und zu wich ich herumliegendem Müll aus, verscheuchte tollwütige Katzen und hielt die Luft an, wenn der Geruch eines offenen Gullys unerträglich wurde.
Schließlich erreichte ich das Ende einer Sackgasse und blickte auf eine zerkratze Metalltür, auf dessen Briefschlitz drei Hausnummern geklebt waren.
Eine davon gehörte Shawn.
Zögernd zog ich meinen Zauberstab, sammelte die übriggebliebene Kraft meiner langen Reise zusammen und konzentrierte mich. Als ich die Augen wieder öffnete, lag der Kompass in meiner Hand, die Nadel deutete ruhig auf die kaputte Lampe zwischen Tür und Fenster.
Er war tatsächlich da drin. Da drin.
Das Haus war klein, ebenfalls aus dem dunklen Stein gemauert. Über dem durchlöcherten Regenschutz über der Tür schien ein Teil der Wand angesengt zu sein.
Bevor ich es mir anders überlegen konnte, steckte ich den Kompass weg und klingelte bei der Hausnummer, von der der Brief behauptete, es sei die richtige. Von der Alia anscheinend wusste, dass es die richtige war. Woher hatte sie überhaupt Shawns Adresse?
Das Geräusch kratzte in meinen Ohren. Nach einigen Sekunden, in denen niemand öffnete, wollte ich erneut klingeln, beten, dass auch dann niemand öffnete und den Brief einfach durch den Briefschlitz stecken, doch kurz vor der Umsetzung meine überzeugenden Plans wurde die Tür doch einen Spalt breit geöffnet.
Die Sicherheitskette in der Innenseite spannte sich (wo war ich hier gelandet?) und ein sehr helles, braunes, fast grünes Auge erschien in der Öffnung. Ich trat einen Schritt zurück.
Das war nicht Shawns.
Das Auge wurde zu einem Schlitz, doch mit einem Mal zog sich sie dunkle Augenbraue nach oben, die Kette wurde gelöst und die Tür aufgerissen.
"Kassy?!"
Meine Augen wurden groß. Wäre sie mir auf der Straße begegnet, hätte ich sie nicht erkannt. Die blonde Färbung war zur Hälfte ausgewachsen und unterlag dem natürlichen dunkelbraun. Sehr hohe Schuhe, eine Netzstrumpfhose und ein extrem kurzer Lederrock ließen ihre Beine lang erscheinen und kaschierten ihre eigentlich geringe Körpergröße. Oben trug sie nichts weiter als ein kleines Bikinioberteil und eine dunkle Pelzjacke. Unzählige Armbänder, große Ohrringe und extrem viel Make-up ließen sie unidentifizierbar werden.
Ich erkannte Julia nur an ihrer Stimme.
"Ist Shawn da?", hörte ich mich vorsichtig fragen. Ich hoffte, mein Schock stand mir nicht ins Gesicht geschrieben.
Julia legte den Kopf schief und dachte nach. "Ich hatte die Anweisung, dir nicht die Tür zu öffnen, falls du jemals vorbeikommen solltest, aber das ist auch schon wieder zwei Jahre her, und er hat sowieso nicht wirklich damit gerechnet, dass du irgendwann vorbeikommst, als er das gesagt hat, also denke ich, das ist okay."
Jetzt konnte ich nichts mehr verstecken.
"Haha, guck dir mal dein Gesicht an", kicherte Julia. "Ich scherz doch nur mit dir, er wusste genau, was er gesagt hat, als er es gesagt hat. Komm rein."
Sie zog mich durch die Tür und mir wehte eine Alkoholfahne entgegen. Julia schloss sie und sofort überlief mich eine Gänsehaut, die nicht nur dem extremen Temperaturabfall zu verschulden war.
Wir stiegen eine enge, knarzende Treppe hoch und kurz dachte ich, sie würde uns beide nicht halten. Schon vom Flur aus konnte ich durch die offene Wohnungstür in einen kleinen Durchgang blicken. Er wirkte düster und warm, was wohl an den Bergen von Klamotten lag, die überall verstreut waren.
Julia bedeutete mir mit zwei Zeigefingern und einem aufgeregten Knicks in die Knie zu warten. Dann flitzte sie um die Ecke.
Ich hörte leises Gemurmel und ein tiefes Stöhnen, welches mir durch Mark und Bein fuhr. Shawns Stimme würde ich überall erkennen.
Kurz darauf erschien er am Ende des Durchgangs mit völlig verstrubbelten Haaren, müden Augen, einem dreckigen T-Shirt und zu großer Jogginghose.
Er schaute mich an, blieb stocksteif stehen und riss seine kleinen Augen auf. Dann drehte er sich zu Julia um und holte Luft, aber Julia war schon erneut um die Ecke verschwunden.
Eine Weile sagte keiner von uns ein Wort.
Letztendlich nahm ich all meinen Mut zusammen und zog den Brief aus einer meiner Umhangtaschen. Ich streckte ihn Shawn entgegen und zwang ihn so, bis an die Tür zu kommen und nach dem Umschlag zu greifen. Er achtete darauf, dass sich unsere Hände nicht berührten, doch den Schauer, der mich durchlief, konnte er nicht verhindern.
Durch mein Studium der dunklen Künste und ihrer Verteidigung hatte ich viele Dinge lernen dürfen. Ich spürte sofort, dass von Shawn nicht nur eine Menge dunkler Reize ausging, sondern auch jede Menge ungebrauchte Magie.
"Das ist eine Einladung zu Lewis' und Alias Hochzeit", erklärte ich.
Shawn riss den Umschlag auf und warf ihn achtlos zu Boden. Seine Augen überfolgen den Text und sprangen danach zurück zu mir.
"Was machst du dann hier?"
Mir gefror das Blut in den Adern und mein Herz setzte kurz aus. Oft hatte ich mir vorgestellt, wie ein Wiedersehen mit Shawn aussehen könnte. So komisch wie mit Melody? So falsch wie mit Theo? So emotional wie mit Mum und Dad?
Endlose Szenarien, die in meinem Kopf stattgefunden hatten, doch in keinem einzigen war mir in den Sinn gekommen, dass er mich gar nicht sehen wollte.
Ich begann meine Entscheidung, vorbeigekommen zu sein, zu bereuen.
Was hatte ich erwartet? Dass er mich aufnahm wie ein vermisstes Tier? Immerhin war ich diejenige, die weggelaufen war. Bewusst. Und ich hatte mich den gesamten Weg hier her darauf vorbereiten können. Er nicht. Er wurde von hinten kalt erwischt.
Es war egoistisch von mir, einfach aufzutauchen. Es gab einen guten Grund, weswegen Alia die Einladung in den zweiten Umschlag gelegt hatte.
"Ich bin Alias Trauzeugin", sagte ich trotzdem und versuchte, so normal wie möglich zu klingen. "Ich habe den meisten ihre Einladungen persönlich vorbeigebracht. Um Freunde zu sehen und so."
"Tja, ich bin aber nicht dein Freund." Er klang nicht mal wütend, sondern einfach erschöpft. Als verschwendete ich seine Zeit, was wahrscheinlich genau der Fall war. "Vielen Dank und auf Wiedersehen, Kassy."
Er war im Begriff die Tür vor meiner Nase zuzuschlagen, doch in letzter Sekunde schob ich den Fuß zwischen Holz und Türrahmen. Ich biss die Zähne zusammen, als mein Schuh eingequetscht wurde.
Shawn starrte wortlos auf die Blockade und blickte mich herausfordernd an, ohne die Klinke loszulassen oder den Druck zu verringern.
"Ihr habt einen Brandfleck über der Haustür."
Wieso versuchte ich es so verbissen? Weil es nicht so lief, wie ich es mir gewünscht hatte? Weil ich nun von hinten kalt erwischt wurde? Die Wahrheit war, ich wusste es einfach nicht. Ich wusste nicht, weshalb ich Shawn dabei stoppte, dass einzig Richtige zu tun und mich aus seinem Leben zu stoßen.
Er kannte mich vermutlich wie immer besser als ich selbst: Ich wollte das hier gar nicht.
"Stell dir vor." Immer noch müde.
"Wieso macht ihr ihn nicht weg?"
"Haben schon alles versucht." Etwas wütender.
Ich zog die Augenbrauen hoch. "Drachenblut?", fragte ich leise.
In Shawns Augen schloss eine Flamme des Schmerzes und er ließ die Tür los. Sie schwang langsam und knarzend wieder auf.
"Es gibt genau einen Grund, weshalb du noch hier bist", sagte er, wieder müde und verletzt. "Und der macht mich fast stolz, aber geh bitte."
"Ich wollte dich sehen. Das ist der Grund." Ich schluckte. Die Kälte kroch unter meinem Umhang die Arme hinauf. "Ich wusste nicht, dass Alia dich einlädt und als ich die Adresse gesehen hab, bin ich neugierig geworden. Ich wollte ... dich sehen."
"Nein", widersprach Shawn und trat die Tür ein Stückchen weiter auf. "Du bist hier, weil du einmal in deinem Leben egoistisch genug warst, dein eigenes Bedürfnis über das Wohl anderer zu stellen. Was mich zugegeben stolz macht, denn anscheinend habe ich dir doch etwas beibringen können."
"Shawn, ich ..."
"Kein Shawn, ich, bitte. Versuch es gar nicht erst, Kassy. Ich gehöre zu der Sorte, die weder verzeihen noch vergessen."
"Den Brief, den ich dir geschickt habe ..."
"Ist angekommen", sagte Shawn stumpf. "Hab ihn einmal oder so gelesen, kann mich kaum noch erinnern, was drin stand. Ist auch egal. Jetzt geh bitte, wir haben hier Arbeit zu tun."
Er verschränkte die Arme, die deutlich an Muskelmasse verloren hatten. Allgemein wirkte er schwächer. Die Narben in seinem Gesicht hatten zugenommen, aber kürzliche Verletzungen wies er nicht auf.
Es war eine Weile her, als mir das letzte Mal die Worte fehlten. Über die Jahre mit Hogwartsschülern aller Altersklassen hatte ich gelernt, mir in Sekunden eine passende Antwort zu überlegen. Jetzt war es wieder Shawn, der meine Gedanken rasen, mein Inneres zittern und meine Hände schwitzen ließ.
Aber Shawn war nicht Melody, weswegen ich immer noch Luft bekam.
Ich schielte auf meine Uhr. "Gib mir ... eine Stunde."
Shawns matte Augen folgten, blieben jedoch an meinem Handgelenk hängen. Etwas hinter den glasigen Pupillen regte sich. Er erkannte die Uhr, die er mir zum siebzehnten Geburtstag geschenkt hatte.
"Bitte. Ich will nur eine Stunde, um zu sehen, was ich angerichtet habe."
Eine Stunde, um die Frage zu beantworten, die mich seit vier Jahren verfolgte: Hatte ich die richtige Entscheidung getroffen?
All die Zeit hatte ich mir eingeredet, dass die Antwort Ja lautete, aber jetzt, wo ich ihn tatsächlich wiedersah, war ich mir nicht mehr sicher.
Und das war der Grund. Nicht, weswegen ich gekommen bin, sondern weswegen ich nicht ging.
Denn leise, unterdrückt, weggesperrt, hörte ich etwas rufen, seitdem er in den Gang getreten war. Und mit jeder Sekunde, in der ich Shawn ansah, wurden die Rufe lauter. Jetzt, wo er wieder vor mir stand und seine Gegenwart auf mich ausübte, bemerkte ich, dass da noch etwas war. Was ich nicht für möglich gehalten hatte.
Und in Shawns Gesicht konnte ich erkennen, dass es ihm ähnlich ging. Wir hatten uns verändert und ewig nicht gesehen, doch das machte unsere gemeinsame Zeit nicht ungeschehen. Manche Dinge veränderten sich nicht und ich würde wohl für immer in der Lage sein, zu erahnen, was Shawn durch den Kopf ging.
"Eine Stunde. Danach siehst du mich nie wieder, das verspreche ich dir."
Vielleicht war es gut und würde besser werden. Vielleicht war es schlecht und machte alles schlimmer. Was auch immer es war, ich wusste nur, dass ich Shawn nicht wieder zurücklassen konnte.
Zögernd blicke Shawn über seine Schulter und starrte einige Sekunden etwas an, das nur er sehen konnte. Als er sich wieder umdrehte, waren seine Lippen zu einer Linie gepresst.
"Theoretisch stehe ich noch in deiner Schuld", murmelte er kaum hörbar. "Ich schulde dir noch ein Butterbier."
Meine Gedanken schossen zurück in den Moment, in dem unsere Butterbier-Versprechen ihren Anfang gefunden hatten, doch mir fiel nicht ein, was Shawn meinte.
"Nach meiner Zauberkunstprüfung habe ich dir gesagt, wenn ich ein O bekomme, bekommst du zwei Butterbiere. Das haben wir nie geschafft."
Sein Mund verzog sich zu einem leichten Lächeln und ich erkannte, dass er seine Waffen niedergelegt hatte. Seine Mauern standen noch; hoch; und ich hatte nicht vor, anzugreifen.
Ich wollte klopfen und schauen, ob Shawn aus der Tür trat.
"Das passt doch", gebe ich zu. "Eins für mich und eins für dich."
"Gut, ich mag es nämlich nicht, in anderer Leute Schuld zu stehen."
Ich nickte.
"Eine Stunde", ging er sicher.
"Keine Sekunde länger."
Was auch immer Julia gerade tat, sie gab keinen Ton von sich. Shawn drehte seinen Kopf nach links, seine Augen suchten etwas in dem Chaos auf der Fläche einer alten Holzkiste, die wie eine kleine Bergspitze aus dem Haufen Schuhe herausragte.
Er fand es nicht. "Ich geh mir noch schnell was anderes anziehen, ja?"
Kurz stach mir etwas in die Magenkuhle. Shawn klang genau wie immer, als lägen keine fünf Jahre zwischen uns. Es schenkte mir Hoffnung.
"Mach das. Ich gehe sonst natürlich auch so mit dir raus. Ist nur die Frage, ob du in diesem Aufzug gesehen werden willst."
Shawn biss sich auf die Zunge und verkniff sich ein Grinsen. "Bin gleich wieder da", murmelte er und verschwand um die Ecke.
Jetzt hörte ich Julia, wie sie und Shawn leise zischten, aber ich verstand nicht annähernd ein Wort. Nervös trat ich mit einer Schuhkante auf die des anderen und verbot mir, meine Unterlippe zu terrorisieren.
War das hier wirklich eine gute Idee gewesen?
Ich erhielt keine Zeit mehr, darüber nachzudenken, da Shawn den Gang zurückkam und sich im Gehen einen alten Umhang überzog.
Ich wollte gar nicht über die Antwort der Frage nachdenken. Ich hatte aufgehört, Menschen nach ihrem ersten Eindruck zu beurteilen. Blicke täuschten und man konnte nie wissen, wie eine Person wirklich war, bis man ihre Geschichte kannte.
Das ihr war Shawns Geschichte und ich hatte mir soeben eine Stunde Zeit erspielt, sie zu ergründen.
"Was hältst du von dem Oblivion an der High Street?", schlug ich den einzigen magischen Pub vor, den ich kannte, der sich annähernd in dieser Gegend befand. "Ich hab gehört, dort soll es gut sein. Kriegt das Butterbier direkt aus Upper Flagley."
"Wir werden um diese Uhrzeit die Einzigen ohne Alkoholproblem sein", murmelte Shawn mehr zu sich selbst und griff nach seinem Zauberstab und einem Schlüsselbund, "aber mir soll es recht sein."
Ich wurde stutzig. Langsam begann ich zu glauben, ich bräuchte länger als eine Stunde, um zu verstehen, was in den letzten vier Jahren passiert war. Wieso trug er seinen Zauberstab nicht bei sich?
Ohne sich von Julia zu verabschieden (zumindest nicht offiziell, vielleicht hatte er es bereits getan) trat Shawn zu mir auf den Flur und zog die Tür hinter sich zu. Ich folgte ihm die schmale Treppe nach unten, zurück auf die Straße. Die plötzliche Hitze ließ mich spüren, wie kalt es in dem Gebäude tatsächlich gewesen war.
Ohne Worte einigten wir uns darauf, zu Laufen. Shawn nickte mit seinem Kopf nach links. "Wir müssen in diese Richtung."
Dann realisierte er die Intelligenz seiner Aussage und spiegelte mein zurückhaltendes Lächeln. Natürlich mussten wir in diese Richtung, schließlich befanden wir uns in einer Sackgasse.
Vielleicht war es die Sonne, doch plötzlich erschien etwas Glanz in Shawns Augen.
Langsam lief er mit seinen Händen in den Hosentaschen los. Ich folgte seinem schlendernden Gang.
"Und ... was machst du jetzt so?", fragte ich nach einer Weile der Stille.
"Ach, dies und das", wich Shawn eindeutig aus. "Du?"
"Dies und das", antwortete ich schulterzuckend. "Arbeiten und sowas."
Shawn nickte und senkte den Blick wieder auf den Boden.
"Wie kommt es, dass du mit Julia zusammen wohnst?"
Erst nachdem ich sie ausgesprochen hatte, bereute ich die Frage. Es war unhöflich. Und klang kindisch. Ich meinte es nicht so, doch das ließ es nicht weniger so wirken. Er konnte mit wem auch immer zusammenwohnen.
"Das ist ... eine lange Geschichte. Und du? Wohnst du alleine?"
"Nein, schon etwas länger Zeit nicht mehr. Ich lebe zusammen mit meiner Schwester."
"Oh, mit Saiph? Das klingt cool."
"Ist es eigentlich auch. Außer dass es echt verdammt schwierig ist, sie zum Kochen zu bewegen. Es hat mich heute Morgen alle Nerven gekostet, sie zu überzeugen."
Shawn schmunzelte und ich schickte ein Stoßgebet zu Merlin, dass Saiph in der momentanen Sekunde nicht dabei war, die Küche abzufackeln.
Weitere Minuten des Schweigens vergingen. Wir bogen auf die Bedford Road ab.
"Alia ist wieder schwanger, oder?" Shawn kickte einen Stein zur Seite, der fast einen Passanten am Bein erwischte.
"Ja, fast im zehnten Monat. Wird ein Junge."
Ich lächelte leicht. Shawn versenkte seine Hände tiefer in den Taschen.
"Teddy hat es mir erzählt", erklärte er.
"Du stehst noch in Kontakt zu ihm?"
Es sollte nicht so überrascht klingen, doch das tat es. Eigentlich war ich sehr gut darin, meine waren Gedanken und Gefühle vor anderen zu verstecken - die Tätigkeit an Professor Goldsteins Seite wirkte dem alles andere als entgegen -, aber bei Shawn hatte ich es nie gemusst.
Sein Kopf, nach wie vor nach unten gerichtet, drehte sich leicht in meine Richtung und ein sanftes Lächeln umspielte seine Lippen.
"Klar, sonst würde Alia ja meine Adresse nicht kennen, oder?"
Die braunen Augen blickten mich neugierig aus den Augenwinkeln an.
Und in diesem Moment sah ich es.
Shawn wirkte zehn Jahre jünger, die Schatten unter seinen Augen verschwanden, ebenso die Falten auf seiner Stirn. In seinen Augen spiegelte sich eine Emotion wieder, die er anscheinend lange nicht mehr gefühlt hatte.
Und dahinter eröffnete sich das Tor zu allem. Ich konnte erahnen, was seine Geschichte war. Zumindest den Anfang - weshalb er seinen Zauberstab nicht bei sich trug, mitten am Tag schlief, warum er mit Julia in so einer Gegend wohnte und weshalb er mit Teddy all die Jahre Kontakt gehalten hatte.
Doch gleichzeitig bemerkte ich, dass mich nichts davon interessierte. Nichts davon war mir wichtig. Noch nicht.
Shawn und ich zählten, genau jetzt, nicht seine Vergangenheit. Die war nur ein Teil von ihm, aber nicht das, was ihn ausmachte.
"Wohl kaum", schmunzelte ich und blickte in den Himmel.
Die Regenwolken von dem Nieselregen heute Nachmittag klarten sich auf und die Sonne schien mit voller Kraft auf die staubigen Straßen Londons. Der Wind strich leicht durch die Bäume und brachte die Blätter zum Rascheln. Vereinzelnd zwitscherten Vögel und Hunde jagten nach Tauben.
Überall liefen Menschen, drängelten, engten ein, und riefen über die Köpfe hinweg. Ich fühlte mich etwas zurückversetzt an mein erstes Jahr auf Gleis Neundreiviertel.
Nur diesmal eröffnete sich der Himmel über mir und ich bekam frische Luft.
Ich klammerte mich nicht an einen Gepäckwagen, sondern lief aufrecht und selbstbewusst über den breiten Fußweg. Hogwarts war mein Zuhause als Lehrer, nicht als Schüler. Und Shawn war an meiner Seite.
Etwas in mir fühlte sich plötzlich wieder vollständig.
Natürlich war es seltsam, den Jungen wiederzusehen, dem ich mein Leben anvertraut hatte. Aber gleichzeitig wusste ich, dass es nicht wie bei so vielen anderen meiner Vergangenheit war, denen ich vertraut und die mich enttäuscht hatten.
Ja, ich hatte Shawn all meine Geheimnisse anvertraut. So vieles, was niemand sonst über mich wusste. Doch er hatte sie für sich behalten. Alle.
Ja, er war nicht mehr in meinem Leben. Aber er würde für immer ein Teil davon sein. Und nach wie vor bereute ich keinen einzigen Moment.
Ich machte keinen Fehler, indem ich ihm diesen Abend mit ihm teilte. Ich räumte auf. Beseitigte das Chaos, welches ich hinterlassen hatte.
Shawn war nicht Melody. Ein Fakt, den er immer für wichtig gehalten hatte. Und es stimmte. Er war besser. Deswegen war ich hier. Um es besser zu machen.
"Ich hoffe, ich verschwende deine Zeit nicht zu sehr", bemerkte ich leise und dachte fast, der Wind hätte meine Worte davongetragen.
Doch er hörte sie. Jedes einzelne. Und lächelte.
Shawn war nicht einer dieser vielen Menschen am anderen Ufer. Er stand immer noch auf meiner Seite. Meilenweit entfernt, aber immer noch auf derselben Seite.
Ich bekam Sicherheit: Ich hatten mein Vertrauen nie in den Falschen gesetzt, in keiner Sekunde. Ich hatte mit jedem Funken Vertrauen in Shawn vielleicht nicht die einfache, aber die richtige Entscheidung getroffen.
Und egal, wie sehr es manchmal wehtat: Meine Geschichte fand heute ihr Ende. Und in diesem Ende hatte ich mich selbst gerettet.
"Niemals", grinste Shawn mich durch seine verstrubbelten Haare schief an. "Weißt du, was ein guter Freund mir mal gesagt hat? Man muss jeden Augenblick nutzen, bevor die besten weg sind."
Ende
[01.09.2020]
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