●S T A T I O N 3: U N S●
S T A T I O N 3: U N S
Sie sieht mich so hoffnungsvoll an, dass ich letztlich mit dem Kopf nicke, immer noch nicht dazu bereit meinen Speichel zu vergeuden, der ohnehin knapp ist.
Sie lächelt wieder und zieht meinen Blick somit auf die kahle Stelle in ihrem Mund.
Schwarz.
»Sag mal, ist dir nicht heiß? Deine Haare stören dich doch bestimmt, immerhin sind sie so lang«, sie deutet auf meine Haare und will nach einer Strähne greifen, doch ich halte sie panisch auf.
»Nein! Nein. Sie stören nicht. Es ist alles gut«, erkläre ich hastig und halte meine Hände in einer beschwichtigen Geste nach oben.
Das Kribbeln auf meiner Kopfhaut wird mit einem Schlag wieder präsenter denn je.
Tiefe lodernde Verzweiflung erfüllt mich, kriecht in mich und lässt alles in mir kalt und heiß zugleich werden. Das Bedürfnis den Tränen zu erlauben in diese Welt zu gelangen und sie mit all ihrer Grausamkeit kennenzulernen, steigt mit einem Mal in mir auf.
Das einzige wozu Judenkinder in der Lage sind, ist weinen!
Haben sie zu uns gesagt und uns mit ihrem hämischen Gelächter gefoltert.
Judenkinder. Was ist daran so schlimm? Was ist an uns so schlimm?
Wir die wie alle anderen aussehen, wir die wie alle anderen Luft zum atmen und Nahrung zum Leben benötigen.
Wir die wie alle Menschen auf dieser Welt lachen, weinen, schreien, lieben und hoffen.
Dies alles verbindet uns und doch sind wir anders.
Judenkinder weinen, weil sie nichts anderes kennengelernt haben.
Judenkinder weinen, weil die Welt grausam ist.
Judenkinder weinen, weil man ihnen keinen Grund zum lachen gibt.
Ja, wir weinen. Aber wir weinen nicht unserer wegen, Nein. Wir weinen um die Welt, weil sie sich nicht selber aussuchen kann, was auf ihr zugeht und vor allem was mit ihren Kindern geschieht.
»Hey, was ist mit dir?«
Ich spüre heiße Tränen auf meinen Wangen, die mir letztlich doch aus dem Körper entschlüpft sind. Ihre Neugier war doch stärker als mein Wille sie zu beschützen und aufzusparen. Sie hätten zu etwas schönerem fließen sollen, sie hätten Tränen der Freude sein sollen.
»Nichts. Mir ist nur etwas schlecht vom langen fahren«, sage ich und wische mir das kostbare Wasser von den Wangen. Sie beobachtet mich misstrauisch und verzieht die Stirn. Ich versuche mich an einem Lächeln, doch es missglückt mir kläglich.
Wir Judenkinder sind nach alldem nicht länger in der Lage zu lächeln. Ich bin nicht länger in der Lage zu lächeln. Früher fiel es mir leicht, doch heute ist alles was ich empfinden kann reine Bitterkeit. Bitterkeit schmerzt mehr als die Zurückweisung der anderen uns gegenüber.
Ein lauter Schrei lässt mich heftig zusammenzucken und nach der Ursache suchen.
Sämtliche Gespräche die von den Älteren und Kindern geführt wurden, brechen ab und alle schauen zu der jungen Frau mit der riesigen Wölbung die nun ihren Bauch ausmacht. Ein weiteres Mal stößt sie einen gellenden Schrei aus und verzieht schmerzerfüllt ihr fahles Gesicht. Schweiß tritt ihr auf die Stirn und ihr Mann, der sie stützt blickt sie panisch an, in seinem Gesicht der Ausdruck von purer ungefilterten Angst.
»Hilfe! Helft ihr! Bitte!«, bettelt er und sieht sich im Waggon um. Im ersten Moment noch sitzen alle wie versteinert rum, bevor sämtliche Männer, die sich in ihrer Nähe befinden, eilig zurückweichen.
»Aus dem weg!«, brummt eine Stimme neben mir und eine ältere Frau mit einem grimmigen Zug um ihren mit Falten verzierten Mund erhebt sich umständlich, bevor sie mir einen eisigen Blick zu wirft.
»Wirst du mir wohl helfen?«, blafft sie mich unverhohlen an.
Ich starre sie erschrocken an, unfähig mich zu bewegen, bevor Frieda mir einen sanften Stoß verpasst. Schnell rapple ich mich in eine stehende Position auf, um ihr anschließend meine Hand hinzuhalten, die sie weg schlägt und sich auf meine Schulter stützt. Kurz taumeln wir, bevor sie mit mir an ihrer Seite auf die junge Frau zuhumpelt, die heftig atmet und gequält stöhnt. Als wir vor ihr zum stehen kommen hockt sich die alte wieder auf den Boden und hebt ohne zu zögern die Röcke der schwangeren hoch, um sich mit ihren Fingern vorwärts zu tasteten. Mein Gesicht brennt vor Scham, während ich sowohl fasziniert als auch fassungslos dabei zusehe, wie die Alte unter den Rock späht.
»Du bist überfällig, meine Liebe. Dein kleiner Satansbraten kann es scheinbar kaum noch erwarten auf die Welt zu kommen«, sagt sie und sieht sich im Waggon um.
Alle sitzen schweigen auf ihren Plätzen und schauen wie gebannt auf die sich ihnen bietende Szene. Kinder drängen sich an ihre Mütter, Männer die mit abgewandten Gesichtern an den Wänden stehen und die Alten, die alle auf einen Haufen zusammengepfercht sind. Der Gestank der uns allen immer wieder in die Atemwege kriecht und die dünne Luft, machen das ganze nicht besser.
»Werdet ihr euch wohl rühren und Handtücher rüberreichen?«, donnert die Alte und alle erwachen aus ihrer Starre. Die Koffer die an die eine Wand geschoben wurden, werden eilig herbei gezogen und durchwühlt, auf der Suche nach sauberen Stoffen.
»Und du musst atmen. Atme gleichmäßig, der Muttermund ist noch nicht allzu weit geöffnet, als das ich dir sagen könnte, du sollst pressen«, weist die Alte die Frau an.
Diese jedoch antwortet nur mit einem lauten schmerzverzerrten Laut.
In wenigen Sekunden liegen mehrere Handtücher und Kleidungsstücke bereit dafür verwendet zu werden.
Ich schleiche mich wieder zurück auf meinen Platz, als die knochige Hand der Alten mein zartes Handgelenk packt und mich erstaunlich stark zu sich zurückzieht.
»Du bleibst schön hier, ich werde Hilfe brauchen, wenn das Kind auf die Welt kommt. Mach dich nützlich und halte eine Plane oder Decke vor uns.« Sie nickt auf eine der vielen Stoffteile, die uns gereicht wurden. Mit zittrigen Händen greife ich danach und halte sie schützend vor die Frau. Flink breitet die runzlige Frau mehrere Tücher um den Schoß der Mutter aus und späht immer wieder prüfend unter ihren Rock.
Ihr schwerer Atem ist das einzige Geräusch das konstant durch die Stille schneidet, begleitet von ihrem weinen. Sie wird Mutter. Sie wird Leben schenken und dafür zum wichtigsten Menschen dieses kleinen Wesens sein.
Sie wird geliebt werden und das obwohl sie ein Judenkind auf die Welt bringt.
Es wird eins von uns werden.
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