Ein friedlicher Ort
„Wer bist du?", fragte das kleine Mädchen im violetten Kleid.
„Das weiß ich nicht mehr so genau. Aber mein Name war mal Alma. Wie heißt du?", erwiderte das Mädchen im roten Kleid.
Zusammen saßen sie auf einer ruhigen Blumenwiese. Die Sonne schien und es war angenehm warm. Von weitem konnten sie Vogelgezwitscher hören. Ein Baum ganz in der Nähe spendete den Mädchen Schatten.
„Ich hatte so viele Namen. Ausgesucht habe ich mir davon keinen. Bei meiner Geburt nannte meine Mutter mich Alessa. Er ist nicht mein Lieblingsname, aber er passt am besten zu mir." Alessa seufzte bedrückt und spielte mit dem Gänseblümchen in ihrer Hand. Verständnisvoll nickte Alma dem anderen Mädchen zu und strich über ihr blutbespritztes, rotes Kleid. Die Sonne wärmte ihre kalte, graue Haut nur wenig.
„Ich habe nie eine Mutter gehabt. Nur einen Vater, aber der hat sehr gemeine Dinge mit mir gemacht."
„Ich weiß, was du meinst. Meine Mutter hat auch furchtbare Sachen getan. Deshalb habe ich mir immer einen netten Papa gewünscht, der mich rettet." Gemeinsam legten sie sich ins Gras, spürten die tröstliche Gegenwart der anderen neben sich. Eine warme Sommerbrise wehte über sie und in der Ferne konnten sie Kinder lachen hören.
„Ich wünschte, uns hätte jemand gerettet!", meinte Alma verbittert und versengte das Gras in ihrer Nähe. Ihre angeborenen, übersinnlichen Fähigkeiten waren ungezähmt und stark mit ihren verletzten Gefühlen verbunden. Es erschienen Wolken am Himmel und ließen sie für einen Moment frösteln.
„Vielleicht haben wir die schlimmen Dinge, die uns passiert sind, verdient. Vielleicht war es unsere Schuld.", flüsterte Alessa gebrochen, in ihren Augen sammelten sich Tränen. Angewidert warf sie das hübsche Gänseblümchen von sich. Die kleine, weiße Blume landete unsanft im Gras und verwelkte dort langsam.
„War es wirklich unsere Schuld?", fragte Alma skeptisch, drehte ihren Kopf in Richtung des anderen Mädchens. Alessa starrte stur in den wolkenreichen Himmel, mied Almas Blick.
„Ich weiß es nicht. Habe es nie gewusst. Aber wieso haben unsere Eltern diese schlimmen Dinge getan, wenn wir es nicht verdient hätten? Sie sind immerhin unsere Eltern.", Alessa strich über ihre langen, dunklen Haare. Ruß ließ sie dunkler erscheinen, als sie tatsächlich waren. Sie konnte sich nicht mal mehr an ihre richtige Haarfarbe erinnern, zu lange war der Ruß ein Teil von ihr. Alma drehte sich nun vollends zu ihr um und stützte den Kopf auf ihren Ellbogen. Auch auf ihren Armen wurden dunkelrote Blutspritzer sichtbar. Doch beide ignorierten ihr ramponiertes Äußeres, denn es offenbarte nur ihr grausames Schicksal.
„Ich habe mich dasselbe gefragt. Jahrelang während meiner Gefangenschaft. Aber irgendwann ist dieser unschuldige fragende Teil von mir gestorben. Alles, was übrig blieb, war Wut, Hass und dieser entsetzliche Durst nach Rache. Es interessiert mich ganz einfach nicht mehr. Ich will sie nur für ihre Taten leiden sehen." In Almas Stimme war mehr als nur Wut zu erkennen. Da war noch etwas, etwas Kleines und so unglaublich Menschliches, dass niemand diesem blutbesudelten Mädchen mit den toten Augen zugetraut hätte. Dieser Unterton konnte nur von jemanden wahrgenommen werden der dasselbe durchgemacht hatte. Alma war emotional schwer verletzt worden. Tiefer als die körperlichen Wunden reichte das Gefühl von Verrat und verlassen werden. Alessa nahm Almas Hand und meinte traurig:
„Ich denke, manche Menschen sind böse. Sie sehen nicht, was vor ihnen ist. Sie sehen nur, was sie sehen wollen." Alma drehte sich wieder auf den Rücken und seufzte gequält. Der Zorn war noch nicht aus ihrem Blick verschwunden, richtete sich allerdings keineswegs gegen Alessa, nur gegen ihre Peiniger.
„Ich wünschte nur, mein Vater hätte mich gesehen. Keine Marionette. Keine Gebärmaschine. Keine Waffe, sondern mich. Seine einzige Tochter."
„Meine Mutter wollte sogar, dass ich ihren Dämonengott auf die Welt bringe. Sie hat sich nicht dafür interessiert, dass ich nur ein Kind war. Ich glaube ja, sie war verrückt." Alessa schnaubte verächtlich.
„Wirklich? Einen Dämonengott? Also ich glaube du hast mit deiner Vermutung recht. Sie war definitiv verrückt.", stimmte Alma zu und lachte. Alessa stimmte mit ein und genoss das Geräusch ihres eigenen Lachens. Wie lange war es her, seit sie es das letzte Mal gehört hatte?
„Ja, oder? Es gibt einfach zu verrückte Dinge in der Welt."
„So wie uns? Sind wir nicht auch ein bisschen verrückt?" Almas Lachen war zu einem einfachen Lächeln abgeklungen. Sie erwartete eine Antwort.
„Ich denke schon, Alma. Ich denke, wir sind verrückt. Aber das ist nicht unsere Schuld. Jeder, mit unserer Geschichte wäre wahnsinnig geworden." Sie nickte bedächtig und lächelte Alma weiterhin an.
„Ich denke du hast Recht. Denkst du, wir können wieder heil werden?", fragte Alma und ohne es zu wollen, mischte sich etwas Hoffnung in ihre sonst so hasserfüllte Stimme.
„Ich weiß es nicht. Aber es wäre schön, zu lachen und zu spielen. Es wäre schön, wieder ein normales Kind zu sein."
Gemeinsam sahen sie in den Himmel und ohne es zu wissen dachten sie beide daran wie es wäre ein normales, kleines Mädchen zu sein.
„Also was machen wir nun?", fragte Alma ihre neue Freundin herausfordernd.
„Denkst du, ich habe alle Antworten? Ich weiß nur, wir könnten zurückgehen und jede Menge Menschen verletzten."
Alma lachte auf. „Du hast meine Gedanken gelesen!" Alessa zuckte entschuldigend mit den Schultern.
„Tut mir leid, das passiert manchmal ganz automatisch."
„Schon in Ordnung, Alessa. Ich versteh das. Diese Kräfte kann man manchmal einfach nicht kontrollieren. Aber ja, ich denke ich habe meine Folterer immer noch nicht genug leiden lassen. Ich spüre immer noch Wut in mir. So viel Wut und Rachedurst." Alessa drückte Almas Hand sanft und drehte ihren Kopf in deren Richtung. „Ich weiß. Ich fühle genauso. Aber hörst du das?"
Das Kinderlachen wurde für einen Moment lauter und verebbte dann wieder zu einem Hintergrundgeräusch.
„Die Kinder lachen", flüsterte Alma ehrfürchtig.
„Genau. Und sollten wir nicht auch so frei und unbedacht lachen dürfen, anstatt unsere Peiniger grausam zu verstümmeln?"
Alma biss sich auf die Lippen und sah ihrer Kameradin in die Augen.
„Können wir überhaupt so lachen? Ich habe es noch nie versucht. Das Kind in mir ist schon so lange tot." Selbstsicher nahm Alessa die Hand ihrer Freundin und zog sie mit sich, als sie aufstand. Ihr violettes Kleid war ebenso rußig wie ihre Haare, doch wie die Blutspritzer auf Almas rotem Kleid sie nicht störten, so störte sie auch ihr eigenes dreckiges Kleid nicht.
„Vielleicht sollten wir es ausprobieren?"
Unsicher sah Alma in die Richtung aus der das Lachen kam.
„Du hast viel Vertrauen. Was ist, wenn sie uns nicht mögen? Was ist, wenn sie uns wieder wehtun? Ich will das nicht mehr, Alessa!"
In Alessas Augen sah sie einen sorgenvollen Ausdruck.
„Ich habe auch Angst. Sehr große Angst sogar. Aber es gab Leute, die mich geliebt haben, tatsächlich geliebt und diese Menschen haben mir gezeigt, dass man manchmal etwas riskieren muss. Wir werden es nie herausfinden, wenn wir es nicht probieren." Tränen rannen Almas bleiche Wangen hinunter. Gegenüber dem Ort, an dem Kinderlachen herrschte, konnten sie Schreie und Schüsse hören. Ein Inferno aus Grausamkeit, eine Welt in der sie für sehr lange Zeit Zuhause gewesen waren. Wolken schoben sich vor die warme Sonne und ließen alles grau und freudlos erscheinen.
Sie standen still und überlegten, sahen einander an, als hätte die jeweils andere die Antwort oder den Mut zu handeln.
„Ich bin mir nicht sicher", meinte Alessa plötzlich, „vielleicht sollten wir doch noch etwas in der echten Welt bleiben." Alma schüttelte sanft den Kopf.
„Nein, wir gehören dort nicht mehr hin. Wenn du an meiner Seite bleibst, können wir zusammen versuchen, Kinder zu sein." Sie lächelten einander an und nahmen sich an den Händen.
„Dann gibt es nichts mehr zu bereden. Ich verspreche dir, wir passen aufeinander auf und keiner wird uns je wieder so wehtun wie unsere Eltern."
„Niemals wieder.", versprachen sie sich. Schweigend gingen sie in die Richtung der Kinder, umgeben von Sonnenschein und wohlverdientem Frieden.
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