Die Schlüssel des Todes
Die Katakomben unter Paris, auch Reich des Todes genannt. Meine Heimat, möchte ich fast sagen und damit bestätige ich diesen Namen wohl. Es gab Zeiten, zu denen es hier vor Toten wie mir nur so gewimmelt hat. Doch die meisten von ihnen haben ihren Weg in die weitere Welt längst angetreten und nur sehr selten treffen noch Neulinge ein. Wenn überhaupt, handelt es sich dabei um Menschen, die verbotenerweise in die geschlossenen Teile dieses Ortes steigen. Zwar gibt es davon ziemlich viele, allerdings verirren sie sich bemerkenswert selten in den unterirdischen Gängen. Unter anderen Umständen wäre ich hier vermutlich sehr einsam. Ein toter alter Mann, gefangen in seinem Nachleben. Stattdessen sind da meine beiden Gefährten, die ununterbrochen diskutieren.
"Man muss das Unmögliche versuchen, um das Mögliche zu erreichen. Wir müssen die Worte einfach nochmal anders deuten."
Magali ist die wohl Ambitionierteste von uns, auch wenn wir alle nicht aussprechen, was klar in der Luft liegt. Es gibt keine Chance, die Worte ihres Schlüssels noch einmal neu zu definieren. Wir haben alles probiert.
Schlüssel. Jeder, der vom Tod zurückkehrt, erhält etwas: einen Schlüssel aus Worten, welcher den Weg in die weitere Welt leitet. Eine letzte Aufgabe, sein Rätsel zu lösen. Manche brauchen dafür Stunden, andere Wochen und wir Jahre. Ich bin mir nicht sicher, ob diese Differenzen an den Rätseln oder den Personen liegen.
Wäre ich hier allein, hätte ich sicherlich längst aufgegeben. Wir verkörpern nicht nur den Tod, wir sind auch ständig davon umgeben. Und der einzige Ausweg bleibt uns verschlossen.
Am geringsten sehe ich meine Chancen. Mir wurde nur ein Wort mitgegeben.
Schallplattenscherben.
Victor, der sich immer wieder von Magali zu neuer Hoffnung anregen lässt, wirkt nachdenklicher als sonst:
"Vielleicht sind wir ein bisschen zu logisch an das Ganze herangegangen. Wer schön sein will muss leiden. In letzter Zeit habe ich meinen Schlüssel ein bisschen anders betrachtet..."
Noch bevor er weiterspricht, geschieht etwas. Als wüsste die Luft um uns bereits Bescheid, was gleich passieren wird.
Es ist ein innerliches Zittern, welches mich erfasst, ein durch Brust und Bauch kreisendes Gefühl, das Gefühl, eine Melodie würde jeden dieser Augenblicke untermalen. Dabei ist es doch still, so still, dass die Stille allein eine Gänsehaut auf meine Arme legt. Genau dieser Unterschied zwischen Wahrnehmung und Realität lässt mich innehalten. Keine Bewegung. Um mich nur Stein und Knochen - und eine Veränderung in der Stimme des Moments.
Es gab eine Zeit, in der die Steinbrüche unter Paris eine Gefahr darstellten. Eine Zeit, in der sie einstürzten und das Leben an der Oberfläche gefährdeten. Häuser, die nicht sicher waren, auf dem durchhöhlten Untergrund. Das änderte sich, als die unterirdischen Gänge geschlossen und ausgebaut wurden. Zu dieser Zeit stapelten sich die Leichen auf den Friedhöfen in Paris. Zumindest so lange, bis sie hierhergeschafft wurden.
Schädel und Knochen, zu Wänden gestapelt, umzingeln mich jetzt und obwohl das Leben ihrer Besitzer vor langer Zeit erloschen ist, fühle ich mich beobachtet.
Endlich spricht Victor:
„Schönheit. Liegt im Auge des Betrachters, die Schönheit. Und sie bleibt dort liegen. Wird zu einem unvergessenen Bild, welches jede Handlung durchdringt und Ziel aller Wege ist. Ein Ziel, welches unmöglich erreichbar und doch so klar scheint. Der Betrachter will selbst die Schönheit werden. Wer jedoch schön sein will, muss leiden."
„Victor...", flüstere ich, doch wie in Trance spricht er weiter.
„Viele von ihnen haben gelitten", er nähert sich einem der Totenschädel, streicht sanft darüber und fährt fort, „und seht euch an, wie wunderschön sie sind."
Ich folge dem Muster aus Knochen, einem der vielen Kunstwerke in den Katakomben. Überall wurden die Gebeine der Verstorbenen nicht einfach gestapelt, sondern wie ein Mosaik zusammengesetzt. Doch auf einmal scheinen sie einzustürzen, ins Nichts zu verschwinden und einem Tor aus Dunkelheit Platz zu schaffen. Schwindel erfasst mich, der Blick in die Leere ist beengend, denn die Schwärze drängt mich zurück, als würde sie sagen: das hier ist nicht dein Weg.
„Seht ihr das Licht?", fragt Victor. Mein Kopfschütteln bemerkt er nicht, während er unaufhaltsam auf das Tor zugeht. Direkt davor bleibt er stehen.
„Auf Wiedersehen."
Dann ein Schritt, ein Schritt hält die Zeit an, hält sie an, drängt sie vorwärts, nimmt sie ganz für sich ein. Das Tor schließt. Es verschwindet, bis die Knochen wieder erscheinen.
„Ist er ... ist er gerade gestorben?", fragt Magali.
„Nein,", antworte ich, „gestorben ist er vor langer Zeit. Jetzt hat er seinen Weg in die weitere Welt angetreten."
Eine Weile bleiben wir stumm.
„Das Gefühl – es ist noch nicht gegangen, oder?", fragt Magali.
„Nein,", antworte ich, „ich kann es auch noch spüren. Es ist nicht vorbei."
Magali sieht mich lange an, dann sagt sie:
„Ich habe Angst, dorthin zu gehen, wo Victor jetzt ist. Diese Dunkelheit..."
„Ich weiß", sage ich. Ich sollte ihr Mut machen, doch ich kann es nicht. Alles, was ich sagen würde, wäre wie eine Lüge. Da ist keine Sicherheit, ob der Ort, an dem sich Victor nun befindet, so ist, wie das Licht, was er gesehen hat oder wie die Dunkelheit, die wir sahen.
Magali spricht noch einmal.
„Etwas, was er gesagt hat, schien wichtig. Ein Ziel, welches unmöglich erreichbar und doch so klar scheint. Unmöglich. Das Wort gehört eigentlich zu mir. Zu meinem Schlüssel."
Magali tritt an die Stelle, an der Viktor vor ein paar Minuten verschwunden ist.
„Mir ist so vieles unmöglich. Aber was davon soll ich versuchen? Soll ich versuchen zu leben? Oder zu sterben? Aber wie? Beides ist schon geschehen, unwiderruflich. Aber Beides ist nicht mein Ziel. Seit ich gestorben bin war es mein Ziel, in die weitere Welt zu gelangen. Und auch das war mir unmöglich, bisher. Ist das nun anders? Was ist, wenn ich das Unmögliche erreiche? Wird es möglich? Und habe ich dann nicht viel eher das Mögliche erreicht?"
Sie stockt, als hätte sie etwas verstanden. Und in der Sekunde verwandelt sich der Boden unter ihren Füßen in Schwärze.
„Geh nicht!", rufe ich, einem Impuls folgend. Geh nicht in diese Dunkelheit, fall nicht darauf herein, so wie Victor, lass mich nicht allein. Was ist, wenn ich meinen Schlüssel nicht finde? Wenn ich zurückbleibe, weil dieses Gefühl nicht mir galt, weil meine Zeit noch nicht gekommen ist.
Magali schwebt über ihrem Tor, die Gesetze der Menschen gelten für uns Tote nicht, sie könnte noch bleiben.
„Bis bald", sagt sie.
Dann sinkt sie herab, in die Finsternis.
Geh nicht, denke ich noch einmal, bevor ich Schwindel und Angst überwinde, springe und ihr folge. Lass mich nicht allein. Die Worte fliegen durch mich hindurch, immer wieder, als eine getroffene Entscheidung.
Man muss das Unmögliche versuchen, um das Mögliche zu erreichen.
Ich bin dem falschen Schlüssel gefolgt. Falsch, so fühlt es sich auch an.
„Magali!", rufe ich, doch sie ist fort. Als hätte das Tor uns an zwei verschiedene Orte geführt, als wollte es mir sein wahres Geheimnis nicht verraten.
Also schwebe ich in der Dunkelheit. Ohne Ausgang. Allein. Und alle Kraft, die ich je besaß, ist verschwunden, selbst jene Kraft, Angst zu haben oder Trauer zu verspüren. Selbst dieses Gefühl, welches mich seit Victor seinen Schlüssel verstanden hat, erfüllt. Es ist ebenfalls gegangen. Fast bin ich mir unsicher, ob ich selbst noch existiere. Da ich nichts, fast nichts. Nur das Wissen um ein Falsch.
Und einer Melodie.
Sie kommt mir bekannt vor, vertraut, ich folge ihr durch die Dunkelheit gleitend. Immer weiter bewege ich mich auf sie zu und mit jedem Ton tauchen Bilder vor meinem inneren Auge auf.
Wie hell das Licht des Tages jetzt meine Erinnerung durchflutet, wie ich vergangene Sommertage als ein einziges Flimmern aus Wärme und Sonne und dem Geruch einer menschenvollen Stadt sehe. Erinnerungen an das Leben.
Wie kristallklar Gefühle in mich zurückkehren, gute Gefühle, Glück.
Dann sehe ich ihn. Erst ist es nur ein Holzkasten, dann erkenne ich den Plattenspieler. Einmal nur, einmal habe ich solch ein Gerät gesehen. Zu meinen Lebzeiten gab es so etwas nicht. Doch in den verbotenen Teilen der Katakomben geschehen unglaubliche Dinge. Normalerweise sind es andere Geräte, aus denen nicht nur Musik sondern auch Bilder kommen, die dorthin mitgebracht werden. Einmal jedoch war es ein Plattenspieler. Dieser Plattenspieler.
Vielleicht ist es doch nicht falsch, hier zu sein. Vielleicht ist es meine Bestimmung. Ich beobachte die Schallplatte, wie sich dreht und mir Wachträume in den Kopf zaubert.
Eine Schallplatte. Schallplatte...
Es wird mir klar. Das hier ist meine Chance. Meine Chance, den Fehler rückgängig zu machen. Doch will ich das? Will ich die Erinnerungen, das neu gefundene Glück zerstören? Kann ich das?
Die Melodie ist so warm, sicher, leicht...
Ich denke an Magali. Bis bald, hat sie gesagt. Was, wenn ich sie nicht wiedersehe? Sie und Victor?
Meine Augen richten sich weiter auf die Schallplatte. Was ist aber, wenn ich sie wiedersehe? Sie beide?
Innerhalb einer Millisekunde entreiße ich dem Apparat die Platte. Die Musik verstummt und ein zerbrechendes Geräusch durchfährt die Atmosphäre, als ich die Quelle meiner Erinnerung zerstöre. Stattdessen erfüllt mich wieder das Gefühl, dieses innerliche Zittern, als wäre ich nun selbst die Quelle einer ganz neuen Melodie. Und vor mir, in der Dunkelheit, öffnet sich ein Tor. Warmes, unendliches Licht. Bevor ich darauf zugehe, in die weitere Welt zu meinen Freunden, blicke ich noch einmal auf die Scherben in meinen Händen. Schallplattenscherben.
Mal wieder etwas verspätet ist die Kurzgeschichte zum FortunaAward nun also auch auf meinem Profil öffentlich. Wie jedes Mal: schaut bei _MaliaFox_ vorbei. Dort findet sich das Awardbuch samt allen anderen Teilnehmergeschichten. Diesmal handelte es sich um einen Wettbewerb etwas anderer Art... Jeder musste drei Zahlen nennen. Diese standen jeweils für einen Neologismus, ein Sprichwort, ein Zitat und einen Ort. Die Aufgabe war es nun, sie alle in einer Geschichte unterzukriegen. Ich habe (wie man der Kurzgeschichte eigentlich auch entnehmen kann) das hier gezogen:
- Neologismus: Schallplattenscherben
- Ort: Knochenreich, Katakomben unter Paris
- Zitat: "Man muss das Unmögliche versuchen, um das Mögliche zu erreichen." - Hermann Hesse
- Spruch: "Wer schön sein will muss leiden."
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