
Kapitel 6: Zwielichtige Begegnungen
Eine ganze Weile war Thalina tief in Gedanken versunken, sodass sie die Morgendämmerung gar nicht bemerkte. So viele Dinge waren passiert. Sie hatte gehofft, bei dem Alchemisten ein paar Antworten zu finden, stattdessen hatte sie mehr Fragen denn je. Was sollte sie in Artreia? Warum hatte der Alchemist sie kontaktiert? Er kannte ihren Namen, also muss er genau sie kontaktiert haben wollen, und dennoch kam ihr alles wie ein großes Missverständnis vor.
Wenn Ramin mit diesem, wie hieß er noch gleich... Jorngar reden wollte, hätte er einen seiner Vögel losschicken können oder gleich selbst zu ihm reisen können. Warum sollte sie das nun erledigen? Sie wusste nicht einmal, was sie ihm sagen sollte.
Falten bildeten sich auf ihrer Stirn. Der Alchemist hatte gesagt, Jorngar würde ihr alles erzählen. Ihr blieb nichts anderes übrig, als darauf zu vertrauen, dass sie das Richtige tat. Umso schneller sie diesen alten Mann fand, desto eher konnte sie zurück nach Arensberg.
Obwohl der Abschied von allen nur wenige Tage her war, kam es ihr vor, als sei eine Ewigkeit vergangen. Sie versuchte, sich Sophias Gesicht vor Augen zu rufen. Es kostete ein wenig Anstrengung, doch letzendlich schaffte sie es. Die vollen, geschwungenen Lippen, das braungoldene Haar. Die grünen Augen, welche tief in ihre Seele zu sehen vermochten.
In dem Moment brachen die ersten Sonnenstrahlen durch die hohen Baumkronen. Der Himmel war klar, nur vereinzelte Wolken hingen am Horizont. Ein weiterer warmer Herbsttag. Thalina würde Tage dieser Art genießen, so lange sie noch da waren. Lächelnd sah sie der Sonne entgegen und erinnerte sich an das Schauspiel aus letzter Nacht. All diese Farben am Himmel! Es war wunderbar gewesen. Bewies das die Existenz der Götter? Letzte Nacht war sich Thalina dessen sicher gewesen, doch nun bröckelte ihr Glaube wieder.
Sie war nie besonders gläubig erzogen worden, doch sie hatte gelernt, den Glauben anderer zu respektieren und sich der Gesellschaft anzupassen. Ibraim hatte immer gesagt, es gäbe eine plausible Erklärung für alles. Gab es auch eine dafür?
Thalina war den ganzen Tag durch Waldgebiete geritten. Ihr Hintern tat weh, ihr Rücken schmerzte ebenfalls. Die Sonne hing tief über den Hügeln und kündigte das Ende des Tages an.
Als der Weg eine großzügige Biegung machte, verlangsamte Thalina ihre Stute. Dunkle Rauchschwaden stiegen zwischen den Baumkronen empor und mischten sich mit den Sonnenstrahlen.
Es wäre ein wundervoller Anblick gewesen, läge da nicht der Geruch von verbranntem Menschenfleisch in der Luft. Thalina stieg ab und lenkte die Stute tiefer in den Wald.
Bereits nach einigen Schritten konnte sie das Lager erkennen. Drei Zelte rahmten den Wegrand, der Weg selbst war versperrt. Brennende Menschen hingen an riesigen Holzpflöcken. Die schwarzen, verrußten Menschenkörper waren unverkennbar.
Sie blieb stehen. Schreie zerissen die Luft. Aber sie waren nicht echt. Es waren Geräusche, die vor einiger Zeit schon verklungen waren, doch hatte man eine Verbrennung miterlebt, bekam man das Geschrei und Leid nie wieder aus den Ohren.
Thalina war geradewegs in ein Wegelagerercamp gelaufen.
Sie trat instinktiv ein paar Schritte zurück. Sie war zu nah. Der Farmerin schlug die Hitze des Feuers entgegen und die karamellfarbene Stute tänzelte nervös. Jetzt, nachdem die Schreie in ihrem Kopf verblassten, hörte sie die Stimmen. Harsche Laute, wildes Brüllen und Gelächter. Sie waren nicht weit. Thalina trat noch einen Schritt zurück und zuckte schlagartig zusammen, als ein lautes Knacken ertönte. Das Geräusch hallte in den Wald hinein, Vögel stoben in die Luft und Thalina wünschte sich, sie könnte jetzt auch fliegen.
Die Stimmen der Wegelagerer verstummten sofort. »Oh ... oh nein...« Thalinas Hände zitterten. Sie musste sofort weg hier! Panisch wollte sie sich auf die Stute schwingen, doch ihre Hände waren so schwitzig, dass sie abrutschte. Rufe wurden laut und in den Augenwinkeln sah sie, wie sich etwas bewegte.
Mit aller Kraft schwang sie sich auf das Pferd und gab ihm die Sporen. »Lauf! Bei den Göttern, bitte lauf!«, rief sie, ihre Stimme unter dem Brüllen der Wegelagerer beinahe untergehend. Die Stute galoppierte so schnell wie nie zuvor, Thalina hatte alle Schwierigkeiten, in ihrem Sattel zu bleiben und nebenbei die Äste aus dem Weg zu schlagen. Blut rauschte ihr durch die Adern, ihre Hände zitterten so sehr, dass sie immer wieder den Halt in der Mähne verlor und drohte, zur Seite zu kippen. Die Zügel befanden sich schon lange nicht mehr an ihrem Platz. Der Wind pfiff mit ohrenbetäubender Lautstärke an ihren Ohren vorbei und so konnte sie unmöglich sagen, ob sie die Wegelagerer abschüttelte oder nicht.
Doch irgendwann war die Stute erschöpft und verlangsamte ihren Schritt. Thalina drehte ihren Kopf, neigte ihn, sodass der Wind sie nicht davon abhielt, die Banditen zu hören. Doch alles, was sie hörte war ihr eigenes Atmen und das Schnaufen der Stute.
»Wir haben's geschafft ... Glaube ich...« Sie tätschelte der Stute den Hals.
Erst, als die Abenddämmerung in vollem Gange war, machte sie Rast. Ihr tat alles weh, sie hatte sich ihre Handflächen an einigen Ästen aufgeschürft. Und erst, als sie sich auf dem Boden niederließ, merkte sie, wie kalt es geworden war. Aber sie konnte kein Feuer entzünden und damit riskieren, dass die Wegelagerer sie fanden. Suchten sie noch nach ihr? Bei allen Göttern, sie hoffte es wirklich nicht.
Ihre Stute hatte sich neben ihr auf den Boden gelegt, und wenn diese nicht gewesen wäre, hätte sie die Nacht vermutlich nicht überlebt.
Am nächsten Morgen war Thalinas Laune nicht die Beste. Sie hatte überlebt und war auch nicht im Schlaf von den Wegelagerern angegriffen worden, doch sie war von der Nacht fürchterlich unterkühlt.
Sie lief einige Runden um das Lager, um ihre Durchblutung in Gang zu bekommen und gegen das Zittern anzukämpfen. Es kam ihr komisch vor, wie sie noch nicht einmal eine Woche lang unterwegs war und dem Tod schon zwei Mal entronnen war.
Das Leben in Arensberg kam ihr auf einmal weniger langweilig sondern viel sicherer vor. Sie hatte vergessen was es hieß, zu überleben. Dass 'leben' und 'überleben' nicht das Selbe waren.
Die karamellfarbene Stute stupste sie mit der Nase an und sie seufzte. »Ja, lass uns auf den Weg machen.« Sie nahm die Zügel in die Hand und stapfte los, während die dunklen Wolken am morgendlichen Himmel die Sonne verdeckten.
Die Schritte hinter ihr nahm sie erst nach einer ganzen Weile wahr. Mittlerweile saß sie wieder auf der Stute und steuerte über Steppen und Hügel. Die Landschaft hatte sich verändert, was zumindest hieß, dass sie nicht im Kreis gelaufen war. Die Moosseite der Bäume sagte ihr, dass sie immer noch gen Süden ritt.
Und dabei war sie nicht die Einzige, die sich auf diesem Pfad befand, der keiner war. Thalina hatte sich noch nicht umgedreht. Es war eine Mischung aus Angst und sturer Gleichgültigkeit.
Hätte ihr Verfolger sie töten wollen, wäre das schon längst passiert. Weglaufen konnte sie sowieso nicht, sie hörte, dass es zumindest ein Reiter sein musste, vielleicht auch zwei. Das Schnaufen des Tieres hinter ihr war unverwechselbar gewesen.
Vielleicht warteten sie auch nur auf den richtigen Moment, um sie zu töten und auszurauben. Doch welchen Eindruck mochte sie auf andere schon machen? Sie besaß nur ihre arme Bauernkleidung und einen mittlerweile zerfetzten Umhang. Ihre Stiefel waren von Schlamm und Matsch besudelt und durchgeweicht.
Was, wenn es welche von seinen Wachen waren? Unmöglich... oder? Es war Jahre her, niemand würde sie mehr erkennen. Abgesehen davon befanden sie sich immer noch im nördlichen Königreich. Seine Wachen könnten hier nichts ausrichten, zumindest nicht auf legalem Wege. Doch wäre das genug, um ihn aufzuhalten? Vermutlich nicht.
Sie fröstelte. Hoffentlich erreichte sie Artreia bald, sie musste ins Warme. Oder wenigstens etwas Warmes essen. Doch dafür musste sie anhalten und absteigen und sich ihrem Verfolger stellen, der so offensichtlich hinter ihr hertrottete wie ihr fetter Kater zuhause in Arensberg. Thalina hoffte, Sophia würde sich gut um Zen kümmern.
Jetzt reicht's. Wir brauchen beide eine Pause. Mit einem Ruck hielt Thalina ihre Stute an. Diese spürte ihre Nervosität und tänzelte noch ein paar kleine Schritte weiter. Laut seufzend drehte sie sich dann zu ihren Verfolgern um mit den Worten »Wer, verdammt, seid ihr und warum verfolgt ihr-«. Die Worte blieben ihr im Halse stecken, als sie ein stattliches schwarzes Ross und einen einzelnen, gut gekleideten Mann vorfand, welcher sie überrascht anstarrte.
Seine Miene verdunkelte sich binnen Sekunden. »Wie wagst du es mit mir zu sprechen, Bauersweib!«, donnerte seine Stimme Thalina mit einer Kraft entgegen, die sie unterschätzt hatte.
Bei ihrem Verfolger handelte es sich um einen blonden jungen Mann, der ungefähr in ihrem Alter sein musste. Zweifellos deutete seine Kleidung auf adlige Herkunft hin. Doch das verunsicherte die Farmerin nicht. Im Gegenteil, es machte sie noch misstrauischer. Jemand mit Adelstitel alleine, abseits des Weges und vor allem in dieser Gegend?
Es konnte sich nur um eine Falle handeln. Ihr Blick durchforstete die Umgebung. Der Wald lag scheinbar verlassen hinter ihm. Es befanden sich nur wenige Büsche nahe genug, in denen man sich verstecken könnte und auch nicht jeder von diesen besaß noch seine bunten Blätter. Doch dann wäre das jetzt der Moment, an dem sie rauskommen würden, oder?
Die Farmerin versuchte, ihre Möglichkeiten zu durchdenken. Niemals würde ihre Stute mit dem jungen Ross mithalten können, also war weglaufen keine Option.
Um den Mann von ihren Blicken abzulenken, erhob sie ihre Stimme: »Wer... seid Ihr?« Sie würde den Schein wahren und wenigstens kurz sein Spiel weiterspielen, bis sie sich einen Fluchtplan überlegt hatte. Warum war noch keiner seiner Banditenfreunde zu ihnen gestoßen?
»Ich bin Kristoph, Lord von Rychwald. Und für deine Respektlosigkeit sollte ich dich köpfen lassen!«
Nein, das war nicht der Lord von Rychwald. Sie hatte ihn einmal gesehen.
Er war ein großgewachsener und trotzdem dicker und auch stolzer Mann, der viel auf seinen Adelstitel gab und das die Leute im Lande auch spüren ließ. Seine Haare hatten eher einer Sahnehaube auf einer Torte geglichen.
Doch dieser Mann sah ihm nicht ähnlich. Er war ja nicht einmal alt genug. Mit seinen hellblonden, lockigen Haaren und den tiefblauen Augen sah er fast wie ein Racheengel aus.
»Sprich, Weib!«, schrie er und sie merkte erst jetzt, dass sie ihm seine Frage nicht beantwortet hatte. Aber sie war ihm keine Rechenschaft schuldig.
Sein respektloser Ton machte es nicht besser. Sie befand sich auf dem Weg in die Hauptstadt, mit nichts mehr als dem Wort eines vermutlich verrückten Alchemisten als Befehl, mit Verpflegung für nur wenige Tage und feuchtkalten, hinübergekommenen Kleidern.
Wahrlich nicht der beste Moment, sich von einem Lord oder eher Betrüger beleidigen zu lassen. Patzig erwiderte sie, nach einem abwertenden Blick auf ihn: »Und welche Wachen wollen mich gefangen nehmen, Lord?« Ihre Stimme triefte vor Sarkasmus.
Sein Kopf lief rot an und er zückte sein Schwert. Das war eine sehr dumme Idee gewesen, doch in gewisser Weise verschaffte seine Wut ihr Genugtuung. Wo waren ihre Schwarzsteindolche?
Sein Ross machte einen Satz nach vorne und schon spürte sie die kalte Klinge an ihrer Kehle. Ihre Überlebenschancen waren binnen weniger Sekunden drastisch gesunken.
Sein zornentbrannter Blick fixierte sie. »Ich brauche keine Wachen um meine Befehle durchzuführen, ich mache das selbst.« Seine eisblauen Augen schienen, sich einen Weg in ihre Seele zu bahnen und ihre Genugtuung verpuffte.
Ihr Herz pochte unruhig. Die Schwarzsteindolche lagen noch beim Alchemisten. Thalina hatte ihm nichts entgegenzusetzen. Trotz ihres eigenen Zornes senkte sie den Blick und gab nach. »Vergebt mir, Mylord.«
Der Druck auf ihre Kehle verringerte sich. Er würde sie wohl nicht töten. Vorerst nicht. Warum nicht? Er könnte ihre Vorräte nehmen und die Stute verkaufen. Wenn er Geld benötigen würde - was wohl nicht der Fall war, wenn es sich wirklich um einen Lord handelte - wäre das jetzt seine Gelegenheit.
Doch er tat es nicht.
Der Mann hatte immer noch seinen eisernen Blick auf sie gerichtet. Er löste in ihr eine Gänsehaut aus. Dies war jemand, den sie nicht aus den Augen lassen durfte.
Endlich begann er zu sprechen und es klang eher wie ein Zischen: »Du wirst mich nach Artreia geleiten. Dort werde ich über dein Schicksal entscheiden.«
***
Die Dunkelheit kam früher, als Thalina gehofft hatte. Den ganzen verbliebenen Nachmittag waren sie stumm nebeneinander hergeritten. Jedes Mal, wenn sie ihn zu mustern versuchte, bombardierte er sie mit Todesblicken. Selbst nachdem sie sich nun unterwürfig zeigte, war er immer noch aufgebracht. Die junge Farmerin bekam den Verdacht, es verbarg sich noch etwas anderes dahinter. Womöglich der Grund seiner alleinigen Anwesenheit. Konnte es sein, dass er ein Gefangener der Wegelagerer gewesen war und es geschafft hatte, zu entkommen?
Thalina wagte es nicht, noch einmal hinüber zu sehen, doch sie erinnerte sich daran, dass alles an ihm unversehrt ausgesehen hatte. Seine Kleidung war makellos gewesen, nicht mal sein Gesicht besaß einen Kratzer. Abgesehen davon - wie hätte er ein Pferd, dazu noch eins so edler Abstammung unbemerkt klauen können?
Es ergab einfach keinen Sinn und trotz der kühlen Luft breiteten sich Schmerzen in ihrem Kopf aus. Sie griff nach der Wasserflasche, die an der Seite des Sattels hing und nahm einen tiefen Schluck. Leider half das auch nichts.
Der scheinbare Lord verlangsamte seine Schritte und deutete auf eine kleine Lichtung, umgeben von kleinen Felsen. »Dort werden wir nächtigen.« Thalina nickte und ließ sich nichts anmerken, doch alles in ihr sträubte sich dagegen, auch nur ein Auge in seiner Anwesenheit zu schließen.
Vielleicht war genau das, worauf er aus war. Zu warten bis sie schlief um sich dann entweder an ihr zu vergehen oder sie zu berauben. Beides bedeutete ihren klaren Tod. Doch vielleicht könnte sie die Gelegenheit auch nutzen, um selbst zu verschwinden.
Im Dunkeln die Orientierung nicht zu verlieren war allerdings eine Kunst, die selbst sie nicht beherrschte. Die Brünette erinnerte sich daran, dass Ibraim die Sterne in diesem Zusammenhang erwähnt hatte, doch dies war bei Weitem nicht genug Wissen, um in einer kalten Herbstnacht allein loszuziehen.
Sie banden die Pferde an einen großen Baumstamm und errichteten ein kleines Feuer in der Nähe. Erst als Thalina die Wärme spürte und das gewohnte Knistern hörte, merkte sie, wie durchgefroren sie gewesen war. Ihr Körper zitterte vor Kälte und sie schlang die Arme um sich.
Abfällig musterte der Blonde sie. »Warum reist ein Bauernweib ganz alleine durch diese Gegend?« Sein Ton klang immer noch so, als unterhielte er sich mit Abschaum. Er saß einiges entfernt von ihr, auf einer ausgebreiteten Plane, auf der sie auch Platz gehabt hätte.
Thalina versuchte, ein Zähneklappern zu unterdrücken. »Warum verfolgt ein scheinbarer Lord dieses Bauernweib?« Sie konnte nicht anders.
Er gab ein »tzk« von sich, wandte sich wütend ab, öffnete seinen Beutel und holte frisches Brot heraus. Thalina lief das Wasser im Mund zusammen und nun öffnete sie auch ihre Tasche. Ihr Brot war ranzig und hart, aber es nährte sie.
»Dein Mangel an Respekt wird dich deinen Kopf kosten.« Im Schein des Lagerfeuers schienen seine goldenen Locken beinahe lebendig.
»Das haben mir schon andere gesagt, und doch sitze ich jetzt hier.« Irgendwie hatte sie es immer geschafft, sich aus der Schlinge zu ziehen. Sie würde es wieder schaffen.
Ihr entging nicht, dass er ihre Gegenfrage geschickt ignoriert und dann das Thema gewechselt hatte. Er wollte ihr den Grund seines alleinigen Streifzuges nicht anvertrauen, was sie nur neugieriger machte. Distanziert musterte sie ihn. Die blonden Locken hingen ihm tief ins Gesicht, er sah zu Boden und doch war seine Haltung aufrecht. Er war entweder ein guter Schauspieler oder doch ein Lord. Oder zumindest ein Adeliger. Er sah sie an. »Für eine einfache Bauersfrau bist du ziemlich mutig.«
Der nächste Tag kam Thalina sogar noch düsterer vor. Ihre Rationen gingen zu Neige, sie mussten unbedingt eine Wasserquelle finden. Eigentlich müssten sie heute in Artreia ankommen, doch die Farmerin beschlich ein unwohles Gefühl. Sie war schon einmal nach Artreia gereist, jedoch aus einer anderen Richtung kommend. Und doch sah die Gegend nicht ansatzweise so aus, wie sie es in Erinnerung hatte. Womöglich waren sie doch falsch gelaufen.
Wenigstens hatte sie die Nacht überlebt. Lange hatte sie ihre Augen nicht zugehabt. Sie war bereit gewesen, sich jederzeit gegen ihn zu wehren, doch zu ihrem Erstaunen war er nicht einmal in ihre Nähe gekommen.
Der Lord, der vorgab Kristoph zu heißen, hatte keinen blassen Schimmer vom Reisen, das war ihr innerhalb der letzten Stunden klargeworden. Immer wieder hatte er sich umgedreht, offenbar auf der Suche nach etwas, was ihm bekannt vorkam. Irgendwann hatte er damit aufgegeben und seither folgte er ihr nun kaum merklich.
Ein Windstoß kam auf und blies die letzten bunten Blätter von den Bäumen. Außer dem Rauschen des Windes hörte sie nur ein paar Vögel zwitschern. »Warum besitzt du einen Gaul?«, herrschte er sie in seinem üblichen Tonfall an. Er hielt sie für etwas Minderwertiges, das konnte Thalina an seinem Blick lesen. Sie war das Minderwertige, dessen Orientierung wohl sein Leben retten würde. Wenn sie es schafften.
Sie ließ die Schultern hängen. Die Kälte hatte sich durch ihren kaputten Mantel gefressen, ihr war ab und zu ein wenig schwummrig zumute. Sie wollte nicht mehr kämpfen, sie wollte sich nur noch ausruhen. Also seufzte sie und antwortete: »Man hat sie mir für die Reise mitgegeben.«
»Also wurdest du beauftragt.«
»... so könnte man es ausdrücken, ja.«
»Derjenige hatte wohl nicht genügend Geld, um einen richtigen Botschafter zu schicken.« Halbherzig zuckte sie mit den Schultern. »Was wollt Ihr in Artreia?«
Der Lord zögerte mit seiner Antwort und fast schon glaubte sie, er würde gar nicht antworten, da erhob er seine Stimme. »Politische Gründe. Nichts, was eine einfache Bauersfrau kümmern sollte.« Na, danke. Auf diese Antwort hätte sie auch verzichten können.
Die Stunden zogen sich hin und immer öfter mussten sie Rast machen und sich ausruhen. Rychwald befand sich eine ganze Ecke weiter östlich von Arensberg, und wenn man seiner Geschichte Glauben schenken konnte, hatte Kristoph sich total verlaufen. Er musste auch bereits seit Tagen in der Kälte unterwegs sein, jedoch konnte Thalina es ihm nicht anmerken.
Die Sonne brach mit wenigen Strahlen durch die dichte Wolkendecke, als sie endlich einen Bach fanden. Das vom Feuer aufgewärmte Wasser tat gut und Thalina seufzte wohlig. Der Lord hatte sich ein wenig abseits an einen Baumstamm gelehnt und die Augen geschlossen. Thalina hatte sehr wohl überlegt, sich alleine aus dem Staub zu machen, doch konnte sie nicht wissen, ob er seinen Schlaf nur vortäuschte um einen Vorwand zu haben, sie tatsächlich zu töten. Also trank sie noch etwas von dem Wasser und öffnete dann ihren Beutel. Sie hatte sich noch nicht die Zeit genommen nachzusehen, was der Alchemist alles hineingepackt hatte. Neben einem Sack Nüsse und ein paar eingewickelten Kräutern fand sie ein abgenutztes, zusammengefaltetes Papier. Als sie es öffnete, traute sie ihren Augen nicht. Ihr Blick schnellte zum Lord. Er schien immer noch zu dösen und sah dabei fast friedlich aus. Wie sehr der Schein doch trügen konnte.
Thalina hielt eine Karte in den Händen. Es war tatsächlich eine Karte! Sie zeigte nur das nördliche Königreich unter Königin Amelie II, doch das reichte um zu wissen, wo sie sich gerade befanden. Der Bach, der fröhlich an ihnen vorbei plätscherte, führte geradewegs nach Artreia. Es war nicht mehr weit, vielleicht einen halben Tagesmarsch von hier. Thalinas Puls beschleunigte sich. Behutsam packte sie ihre Sachen zusammen und hoffte inständig, dass der Lord seinen Schlaf nicht vortäuschte.
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