
Kapitel 16: Ein Platz im Wyngarten
»Ich kenne ihn. Das war Lord Arequell. Er ist einer der Stellvertreter von Lord Brezwan, Kommandant der Außengarde von Königin Amelie...« Kristoph kratzte sich am Bart. »Was macht ein so hohes Tier hier?«
»Er ist ein Wayfinder!«, rief sie erneut und Evan schloss eilig die Tür. Sie wunderte sich, dass sie das bereits zum zweiten Mal sagte und doch keine angemessene Reaktion bekam. Wenn er ein Wayfinder war, war er auf ihrer Seite, dann mussten sie nichts befürchten.
Evan drehte sich um. »Nein, ist er nicht.«
»Doch, hast du nicht sein Symb-«
Evan seufzte und setzte eine theatralische Miene auf. »War ja klar, dass du nicht richtig hinschaust.«
»Was soll das denn heißen?«, gab die Wayfinderin entrüstet von sich und Evan begann zu erklären: »Was du gesehen hast war das Emblem der Rae-vahs. Anstelle von den zwei Kurven haben sie die Unterbrechungen von unserem Symbol zu einem Kringel verbunden. Sie sagen, es zeigt den erleuchteten Wayfinder, der der sieht, was die Magie für einen Nutzen für die Menschheit haben wird.«
»Evan?«, fragte Thalina.
»Ja?«
»Woher weißt du das alles?«
Er schwieg. Dann lehnte er sich an gegen die Tür und erklärte mit gedämpfter Stimme: »Ich war mal einer von ihnen.«
»Was?!«
»Lass mich ausreden!«
Thalina schloss den Mund und ließ sich aufs Bett plumpsen. Kristoph beobachtete den Schwarzhaarigen mit gerümpfter Nase.
Als Stille einkehrte, verschränkte Evan die Arme vor der Brust und fing an, zu erklären: »Nachdem meine Familie gestorben war, hatte ich kein Ziel mehr. Ich hatte nichts, wofür es sich zu leben lohnte.« Er fuhr sich durch das dunkle Haar. »Ich bin an die falschen Leute geraten und fand mich inmitten einer fanatischen Wayfindergruppe wieder. Sie gehörten zu den Rae-vahs. Sie plünderten, raubten, mordeten. Ich... bin auf einige Dinge nicht stolz. Aber ich habe mich gebessert.«
Die Vögel zwitscherten und kündigten einen weiteren, warmen Frühlingstag an, was einen starken Kontrast zu der Stimmung im Raum bildete. Es fühlte sich an, als wäre das Zimmer kühler geworden.
Thalina schluckte. Sie hatte geahnt, dass Evan kein Unschuldslamm war, doch ihr war nicht in den Sinn gekommen, er könnte ein Feind gewesen sein. Sie versuchte sich daran zu erinnern, wo sich der nächste Dolch befand.
»Und wie willst du uns beweisen, dass du kein Doppelspion bist«, fragte sie grimmig in den Raum und beobachtete den Schwarzhaarigen scharf.
Evan seufzte theatralisch und trat vor. Er fing an, sein Leinenhemd aufzuschnüren und als sich der Stoff löste, entblößte sich ein großes Brandmal an seiner Halsbeuge.
»Was..«
»Wir hatten damals ein Tattoo. Die Wayfinder haben es mir weggebrannt, bevor ich mich ihnen anschließen konnte.« Ein Grinsen machte sich auf seinem Gesicht breit. »Aber so, wie du dich bisher verhalten hast, hast du schon vor längerer Zeit entschieden, mir zu vertrauen. Du brauchst jetzt auch kein Misstrauen vortäuschen, dafür ist es ein wenig zu spät.« Evan zwinkerte ihr zu und nahm wieder seine Position an der Tür ein.
Thalina war unwillkürlich an die Dolch-Situation im Wald erinnert. Sie musste sich eingestehen, dass sie den Dolch nicht gezückt hatte, weil er es war, sondern nur, weil jemand sie unerwartet aus ihrem Schlaf gerissen hatte.
Sie stellte fest, dass er recht hatte. Doch diese Genugtuung würde sie ihm nicht geben. Nicht, wenn er sie so selbstsicher angrinste. Sie griff unter das Kissen in der Suche nach ihren Dolchen, welche sie niemals aus den Augen gelassen hätte, wenn das Vertrauen in auch nur einem von beiden Männern nicht dagewesen wäre.
Kristoph, dessen Blick die ganze Zeit schweigend zwischen den beiden hin und her gesprungen war, meldete sich nun zu Wort: »Wir verschwenden unsere Zeit. Wenn sich Lord Arequell an mich erinnert, kommen wir hier nicht mehr weg.«
Evan seufzte und wandte sich ihm zu: »Du bist ein erwachsener Mann, du kannst hingehen, wo du willst. Sie können dich nicht festhalten.«
»Wenn ich keine Straftat begangen hätte, vermutlich.«
»Was?«, stieß Thalina aus und der Lord erklärte: »Ich habe meinen Vater um mindestens 60 Gold bestohlen... Was meinst du, woher ich sonst das ganze Geld hatte, welches uns durch den Winter brachte?« Sein düsterer Blick legte sich zum ersten Mal an diesem Tag direkt auf die Wayfinderin und sie erinnerte sich an den Vorfall des Vortages. Seine Lippen auf ihren, der abfällige Kommentar.
»Ich habe selbst gearbeitet, du brauchst mich nicht so anzusehen«, knurrte sie und Kristoph gab ein entrüstetes Geräusch von sich.
»Leute...«
»Das, was du verdient hast«, sagte der Lord sarkastisch betont, »hat nichtmal die Hälfte von unseren Ausgaben gedeckt.«
Thalina sprang auf. Heiß pulsierte das Blut in ihr. Sie funkelte den Lord mit zusammengekniffenen Augen an und rief: »ACH?! Ist auch schwer zu schaffen, wenn du über die Hälfte wegsäufst!«
»Leute wir müssen los«, versuchte Evan wieder zum Wesentlichen zu kommen, doch es half nichts, Thalina fuhr fort: »Fast den ganzen Winter über hast du vor dich hingegammelt und keinen Finger gerührt. Wären die Wayfinder nicht, wäre ICH nicht, würdest du deinen Arsch gar nicht hochkriegen! Du hast nichts geleistet, alles was du hast, hast du wegen deinem Titel. Du weißt nicht, was es heißt, zu arbeiten. Du wärst ohne deinen Titel schon verhungert! Du solltest zurück zu deinen Eltern rennen, dann bist du wenigstens nicht vollkommen nutzlos!«
Nun war es der Lord, der aufsprang und auf die Wayfinderin großen Schrittes zuging, seine Hand drohend in der Luft schwebend.
»Tus. Tus und du wirst es bereuen«, fauchte sie wutentbrannt. Sie spürte das Adrenalin unter ihrer Haut kribbeln. Ziemlich gut im Faustkampf war sie nicht, doch mit diesem arroganten Lord würde sie auf jeden Fall fertig werden. Verzweifelt versuchte ihre Lunge, genügend Luft in ihren Körper zu pumpen, als sie sich auf den Schlag vorbereitete.
Ein großer Körper schob sich in ihr Blickfeld. Evan hatte beide Hände auf Kristophs Schultern gelegt. »Wir gehen jetzt.« Sein Ton war bitterernst. Die Temperatur im Zimmer war gefühlt um einiges gestiegen. Eine Weile verharrten alle, bis Thalina sich schließlich abwandte und anfing, ihre Sachen zusammenzupacken. Er war es nicht wert.
Als sie knapp eine Woche später endlich die Sarethen überquert hatten, war es, als läge ein komplett anderes Land vor ihnen. Vielleicht lag es auch daran, dass der Frühling nun vollends eingekehrt war- Bäume, Büsche, Gräser, alles strahlte in sattem, hellen Grün.
Rote und orangene Blumen sprossen aus den Wiesen, Kirschbäume trugen wunderschöne, weiße Blüten, die einen starken Kontrast zu dem tiefblauen Himmel bildeten.
Vögel flogen trällernd umher, auf der Suche nach Nahrung für ihre Jungen. Bienen summten fröhlich, während sie die Pollen weitertrugen.
Eine kühle Brise kam auf und wehte sanft durch Thalinas Haare. Ihr Blick war auf ein riesiges Tal unter ihnen gerichtet. Sie erblickte runde Zinnen, von hellem Gestein. Die Hausdächer zierten rote Ziegel und im Vergleich zu den dunklen Bauten im Norden wirkte diese Stadt viel fröhlicher, einladender.
Die blauen Flaggen bewegten sich träge in der Brise - Franz' Wappen, das Bild einer großen Galleone, faltete und knitterte sich, streckte sich im Wind aber niemals ganz aus.
König Franz besaß den größten Zugang zu Häfen und Schiffen. Er hatte sogar eine Insel namens Tanglym besiedelt, einige Wochen Reise von hier entfernt. Die Wayfinderin senkte den Blick erneut.
Dort unten lag Kirchhain. Eine schöne Stadt, die Grabstätte ihres Vaters. Dennoch eine Stadt, zu der er kaum Verbindungen gehabt haben konnte. Eine Stadt, die nur seinen Tod markierte, nichts weiter.
Thalina wurde klar, dass es sich als außerordentlich schwer erweisen würde, denjenigen zu finden, der ihn getötet hatte. Doch sie musste es wenigstens versuchen, das war sie ihm schuldig.
Erschöpft von den Strapazen der Reise liefen sie in Kirchhain ein. Selbst der Boden auf dem Marktplatz besaß hellen, beigen Stein, so wie die Häuser.
Sie fanden zwei Zimmer im Norden der Stadt. Thalina konnte von ihrem Dachfenster aus den Kirchturm der benachbarten Kirche erkennen. Und den danebenliegenden Friedhof, über dem die Sonne unterging.
Der Friedhof, an dem laut Jorngar ihr Vater vergraben lag.
Die Wayfinderin riss ihren Blick vom Fenster und wandte sich an die beiden Männer, die in ihrem gemeinsamen Appartement dabei waren, ihre Sachen auszupacken.
»Ich gehe jetzt zu meinem Vater.« Sie nahm ihren Umhang, warf ihn sich um und trat zur Tür. »Sollen wir mitkommen?«, fragte Evan. Kopfschüttelnd verließ sie den Raum.
Kühle Luft schwang ihr entgegen und zog an ihrem Umhang, als sie sich auf den Weg zum Friedhof machte. Erinnerungen an ihren Vater drangen an ihr Bewusstsein..
»Papa, Papa! Schneller, ja!«
Die Welt drehte sich, verschwamm vor ihrem Auge. Sie spürte den Wind in ihren Haaren, den warmen Körper ihres Vaters am Oberkörper.
Kichernd klammerte sie sich an ihm fest, während er sie trug, sich um die eigene Achse drehte, mit ihr mit dem Wind tanzte.
Er blieb stehen und sie nahm einen tiefen Atemzug. Es roch nach Salz und See, Wind und Weite, Gischt und Götter. Es war herrlich. Ein Gefühl von Zuhause, von Zugehörigkeit durchströmte sie.
»Öffne die Augen, mein Schatz«, brummte seine warme Stimme.
Ein Bild von absoluter Schönheit eröffnete sich vor ihr. Der Himmel war ein Regenbogen aus Blau, Lila, Pink und Orange. Die fast schon rote Sonne hing tief über dem weiten Horizont, das tiefblaue Wasser glitzerte magisch. Die Wellen tosten, wirbelten und tanzten.
Sie glaubte, geradewegs in die geheime Welt des Meeres zu blicken. Wesen darin zu sehen. Kleine Nixen, Meerjungfrauen, die zusammen ein Fest veranstalteten.
»Wooooooow«, entrang es dem kleinen Mädchen, in dessen runden Augen sich das Bild wie ein Gemälde spiegelte.
»Zweifle nie an dir selbst. Wenn die Sonne es schafft, jeden Tag aufs Neue zu strahlen, obwohl sie jeden Abend im Wasser versinkt, dann kannst auch du alles schaffen, was du willst. Der Wille des Menschen ist grenzenlos.«
»Ich will eine Elfenkriegerin sein!«, rief das Mädchen begeistert und rutschte aufgeregt auf dem Rücken ihres Vaters hin und her.
Der Vater drehte seinen Kopf, sodass sie sein warmes Lächeln sehen konnte. »Aber du bist doch schon eine. Die Schönste von allen.«
Ihr Blick auf die untergehende Sonne geheftet, blinzelte sie und eine heiße Träne rollte über ihre Wange. Vater. Ihr Herz stach und ließ ihre Lippe beben.
Thalina betrat den Friedhof. Als wäre sie schon hiergewesen, stapfte sie zu einem kleinen Tempel ohne Tür. Auf dem hellen Türrahmen war kaum erkennbar die Wayfinderrune eingraviert.
Sie ließ sich auf die einzige Holzbank fallen und starrte hinab zu einem großen Grabstein, der in den Boden eingelassen war.
Dem, der mutig den Herausforderungen des Lebens trotzt, soll für immer ein Platz im Wyngarten gesichert sein.
In Gedenken an die ehrenvollen Krieger, die im Dienste der Gerechtigkeit ihr Leben lassen mußten.
Fast schon hungrig durchsuchte Thalinas Blick die Liste der Namen darunter.
A. E. Pathfin, I. Wayseyk, M. Parfeyn, T. Parfeyn, W. Warfyn...
... D. Warefeyn. Das war er. Der Name ihres Vaters.
Daniel Waresteyn. Oder, in Wirklichkeit, Warefeyn.
Thalina spürte das Brennen hinter ihren Augen erneut und ließ zu, dass die Trauer sie überrollte.
***
Evan und Kristoph hatten sich zum Abendessen in einer anderen Schenke anstelle des Gasthauses niedergelassen, denn man sagte das Essen sei fürchterlich dort.
Für eine so kleine Stadt wie Kirchhain herrschte reges Treiben - Krüge wurden auf den Tisch geknallt, schallendes Gelächter und das übliche Stimmengewirr waren zu vernehmen. Ein köstlicher Duft von Met und kohlegebratenem Fleisch ließ Evan das Wasser im Mund zusammenlaufen.
Er beobachtete, wie Kristoph ein Stück Rind auf seinen Löffel schob, nur um es dann wieder lustlos in die Suppe fallen zu lassen.
»Wenn du in sie verliebt bist, wirst du besser bei ihr ankommen, wenn du ihr das persönlich sagst.«
Kristoph ließ seinen Löffel fallen und er landete mit einem dumpfen Klimpern in der Schüssel. Seine blauen Augen durchstachen ihn. »Kümmer dich um deine eigenen Angelegenheiten«, blaffte er und versuchte, seinen Löffel aus der Suppe zu fischen.
Evan verging das Schmunzeln. Er lehnte sich über den Tisch. »Es ist nicht mehr nur deine Angelegenheit. Jedes Mal, wenn du«, er tippte mit dem Finger gegen Kristophs Schulter, »deiner schlechten Laune Luft machst, ziehst du uns mit runter. Wenn du schon wie ein verbitterter, alter Mann deine Zeit damit verschwenden willst, was auch immer in dich hineinzufressen, dann tu' das im Stillen und nerv uns nicht damit.« Er nahm einen Schluck von dem wirklich guten Bier rechnete eigentlich damit, dass der Lord aufstehen und gehen würde, doch stattdessen saß er nur da und starrte auf seine Suppe.
Der Löffel war vermutlich an den Boden der Schüssel gesunken.
»Oder du kannst dich dafür entscheiden, endlich einmal darüber zu reden und uns einen Teil der Last tragen zu lassen.«
»Last?«, echote der Lord und sein Blick zuckte eine Sekunde lang zu dem Wayfinder.
»Na, wenn man jemandem erzählt was einen belastet, wiegt es nicht mehr so schwer. Ich weiß nicht genau, wie es funktioniert, aber es funktioniert.« Er riss sein Brot in Stücke, um eines davon anschließend in seine Suppe zu tauchen.
Endlich ertönte Kristophs Stimme, zwar leise aber verständlich: »Ich ... kann nicht.« Er fing an, das Brot dazu zu benutzen, den Löffel vom Boden der Schüssel hinaufzubefördern, was sich als Schweres herausstellte, da es sich mit Suppe vollsog und dann zu weich wurde. Doch Kristoph bewies Geschick und hielt mit einer Andeutung eines triumphierenden Zucken seiner Mundwinkel den nassen Löffel in der Hand.
Evan musterte die blonden Locken, die sich über die Suppe senkten. Was trägst du nur für eine Last mit dir, fragte er sich in Gedanken und nahm noch einen Schluck seines Bieres. Er hatte mitbekommen, dass der Lord Thalina im Wald geküsst hatte. Und auch wenn er eben den Verdacht geäußert hatte, Kristoph stünde auf sie, glaubte er es selbst nicht. Der Lord hatte sich ihr gegenüber nie besonders interessiert gegeben, er hatte ihr keine heimlichen Blicke zugeworfen, keine tiefgründigen Fragen zum Leben und ihrer Einstellung dazu gestellt.
Ihr nicht.
Nachdenklich kaute er auf seinem Brot herum, den Blick immer noch auf seinen Gegenüber gerichtet.
»Du starrst mich an«, stellte Kristoph fest, seinen Blick immer noch seiner Suppe zugewandt. »Und du zwingst dich dazu, es nicht zu tun«, gab der Wayfinder zurück.
Der Lord zuckte nur mit den Schultern und löffelte wieder in seiner Suppe, diesmal aber schob er sich endlich das Stück Rind in den Mund.
***
Thalina wischte sich ihre Tränen und die triefende Nase an dem Ärmel ihres Umhangs ab. Ihre Hände zitterten. Sie bedauerte sich selbst, sie bedauerte das Leben. Und sie bedauerte ihre Entscheidungen. Die Entscheidungen, die ihr ihr eigenes Glück verwehrt hatten, zum Wohle anderer.
Sieh, wohin es uns gebracht hat, Vater. Du bist tot und ich unglücklich und mit Reue erfüllt.
Langsam erhob sie sich. Sah ein letztes Mal zu dem Grabstein. Wünschte ihm Lebewohl und verließ die Kapelle.
Sie sog die kalte Luft tief ein, und eine Erinnerung an Salz und Meer drohte sie erneut zu verschlingen, doch sie konzentrierte sich darauf, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Schritt für Schritt.
Der Wille des Menschen ist grenzenlos.
Sie hatte den Friedhof beinahe verlassen, da fing ihr Runenkompass an, auszuschlagen. Doch diesmal zeigte die Nadel nicht in eine Richtung, sie zuckte zwischen zwei Richtungen hin und her, hin und her. Vor ihr, neben ihr. Vor ihr, neben ihr.
Die Wayfinderin runzelte die Stirn und sah zu Boden. Die Sonne war bereits untergegangen, und so war es schwer, etwas zu erkennen. Kurz sah sie sich um, entschuldigte sich bei den Göttern, nahm eine Kerze die an einem der Gräber gestanden hatte, und kniete nieder.
Direkt vor ihr lag ein Grab, dessen Inschrift 'Angregor Faegonius' zeigte und das Datum deutete darauf hin, dass er vor mindestens fünfzig Jahren gestorben sein musste.
Der erste Runenstein befand sich direkt auf Angregors Grab. Er war zwischen Blumen und Zweige gebettet und sie zögerte einen Augenblick. War der Runenstein teil der Bestattung? Wie eine Blume, die man auf das Grab legte?
Ehrfürchtig entnahm sie ihn und sobald sich ihre Finger um den Stein legten, fing er an fröhlich zu glimmen. Thalina versteckte ihn schnell in ihrem Umhang und hoffte, dass niemand das blaue Leuchten in der Dunkelheit gesehen hatte.
Der zweite Runenstein befand sich hinter dem Grabstein neben Angregors Grab. Es war namenlos. Warm pulsierten die Runensteine gegen ihren Oberkörper und erinnerten sie an einen warmen Rücken der ihr Halt gab. Ihr ein Gefühl von Zuhause verschaffte.
Diesmal waren es ausschließlich positive Gefühle, die in ihr hoch stiegen. Sie wärmten sie und ließen sie Hunger spüren. Wann hatte sie das letzte Mal etwas gegessen?
Natürlich traf sie in der Schenke ein, in der Evan und Kristoph gerade mit schelmischem Grinsen im Gesicht anstießen.
»Thalina! Komm, setz dich zu uns!«, wurde sie lallend von Evan begrüßt.
Und auch wenn sie der Aufforderung folgte, bewahrte sie einen gewissen Abstand. Kristoph wirkte zum ersten Mal seit Langem wieder einigermaßen glücklich und Thalina fragte sich, ob Evan vielleicht mit ihm gesprochen hatte.
Kristoph war für die Wayfinderin ein Rätsel. Sein ganzes Verhalten war undurchschaubar, sie konnte sich keinen Reim darauf machen. Sie glaubte nicht, dass er Interesse an ihr hegte. Warum also hatte er sie geküsst? Merkte er mittlerweile, dass er nur ein Mitläufer war und sich überflüssig fühlte, was sich dann in Aggression äußerte?
Thalina musste zugeben, dass auch wenn sie ganz Arensberg mittlerweile so sehr vermisste, dass sie manchmal dachte ihr Herz müsse reißen, sie das Reisen genoss. Sie mochte es, unabhängig zu sein, von Ort zu Ort zu wandern und neue Leute kennenzulernen, Abenteuer zu erleben.
Evan hatte sich ebenfalls verändert, er war nicht mehr das selbstgerechte Arschloch, für das sie ihn gehalten hatte. Er besaß ein Herz und war vernünftig. Er wusste, worauf es ankam.
Die Wayfinderin sah zu ihm und er schenkte ihr ein nicht mehr ganz so perfektes Zwinkern, das eher einem Blinzeln ähnelte.
Kristoph merkte gerade an, wie viel besser das Essen auf einer Burg im Vergleich zu Tavernen und Schenken schmeckte. Sie wünschte sich, er würde mit ihr reden, ihr sagen was ihn bedrückte. Es war fast als könne sie den Grund greifen, nur damit er dann sobald sie ihn berührte, zu Staub zerfiel.
»Ich habe auf dem Friedhof zwei Runensteine gefunden«, sagte sie dann, als die beiden verstummt waren.
»Ooooooh«, machte Evan, »has du sie wieder eingepflanzt?« Die Wayfinderin schüttelte den Kopf und hielt instinktiv eine Hand an ihren Bauch. »Nein. Wir sollten das Morgen zusammen machen.« Sie kniff die Augen zusammen. »Wenn ihr euren Rausch ausgeschlafen habt.«
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