
Kapitel 1: Nur noch ein Wenig warten
Der Bauerngockel weckte die junge Frau in den frühen, noch weitestgehend düsteren Morgenstunden. Langsam setzte sie sich auf, gähnte und rieb sich die Augen. Die Nacht war viel zu kurz gewesen. Es hatte gedauert, bis es ihr gelungen war, die Gedanken an das Geräusch abzuschütteln.
Es gab oft Nächte, in denen sie komplett wach gelegen hatte. Über alte Zeiten gegrübelt, sich gefragt hatte ob ihre Entscheidungen richtig gewesen waren.
Oder ob es eine andere Möglichkeit gegeben hätte.
Gesichter blitzten vor ihrem inneren Auge auf. Von einst geliebten Menschen, die sie im ganzen Land getroffen hatte, verbunden mit glücklichen, aber auch teils traurigen Erinnerungen. Ihr Bruder. Er stach heraus, wie ein Sensenmann zwischen Vogelscheuchen.
Sie seufzte. Mit so tiefgründigen Gedanken an einem Arbeitstag aufzuwachen zerrte an ihrer Laune, das war wahrlich keine gute Kombination.
Während sie alles Nötige für die Arbeit zusammen packte, wanderte ihr Blick und somit auch wieder ihre Gedanken. Die Hütte, in der man ihr genehmigt hatte zu hausen, war eine kleine gemütliche Bleibe mit Platz für bis zu vier Arbeiter. Doch die junge Frau hatte das Glück, dass zu Zeiten dieser Ernte keine weiteren Arbeiter in die Stadt gekommen waren, um auf den Farmen des Gutsherren Richard Faymer auszuhelfen.
So sehr es ihr Glück war, war dies aber auch ihr Pech. Sie hatte zwar in der für eine Person zu großen Hütte ihre Ruhe, doch dafür umso mehr zu tun auf der Arbeit.
Die Frau in ihren Mitte 20 erinnerte sich gut an einen Arbeiter, der früher ebenfalls für den Gutsherren gearbeitet hatte. Renos hatte sein Name gelautet, er war ihr Kontaktmann gewesen, der ihr diese Arbeit besorgt hatte, als sie neu in der Stadt war.
Er hatte Arensberg verlassen und war davon überzeugt gewesen, er sei für etwas Höheres bestimmt. Auf ihre Frage hin, nach was er denn suche, hatte er lächelnd „Es gibt Zusammenschließungen dadraußen, die für gewisse Tätigkeiten gutes Geld bieten" geantwortet. Seitdem hatte man nichts mehr von ihm gehört.
Sie kannte die Gerüchte; es hieß im Osten gab es zahlreiche Gilden für jegliche Tätigkeiten, vom Schustern bis zum Schmieden.
Doch niemand kam da einfach so rein.
Renos hatte wohl die körperlich sehr anstrengende Arbeit nicht mehr verrichten wollen und deshalb das Weite gesucht. Narr, dachte sie. Sie wusste, dass es für Bauern - egal ob normaler oder freier Bauer - nirgendwo einen besseren Deal gab als diesen.
Lumeriya bestand aus 3 Königreichen, die alle an einem Punkt in der Mitte des Kontinentes zusammen liefen. Diesen Ort nannte man den Nullpunkt, und außer trockenen Flussbetten und ausgedörrten Bäumen war dort nichts zu finden.
Arensberg war Teil des Königreiches, welches unter der Obhut von Königin Amelie II stand. Das Land war ein kühles Land, umgeben von Bergketten, Wäldern und Schnee. Arensberg war seine eigene kleine Welt, das lag einzig daran, dass die Bewohner sich autark versorgen konnten. Da sie so weit im Norden des Königreiches lagen, kamen auch keine Räuber vorbei.
Die Farmerin schmunzelte. Viel hätte es hier auch nicht zu holen gegeben, da gab es lukrativere Orte für einen Raub.
Die junge Frau hatte schon ein paar Orte dieser Welt besucht. Ursprünglich stammte sie aus einem Dorf in der Nähe der östlichen Küste. Ihr ein Jahr älterer Bruder war früh zur königlichen Armee in der Hauptstadt Artreia gegangen, um für Unterhalt zu sorgen und sie mitzunehmen, sobald seine Stelle gesichert war.
Es kam ihr schicksalhaft vor, wie nun alles geendet hatte. Ein fanatischer Bruder - besessen von Regeln und Moral - und seine verdorbene Schwester, sich selbst verbannt in die weiten Lande.
Sie spürte ein dumpfes Ziehen in der Brust. Es war eine stille Erinnerung an ihre Flucht. Sie brodelte mit all den anderen Gefühlen unter der Oberfläche, und schien nur darauf zu warten auszubrechen, sobald ihre Konzentration nachließ. Ihre Zähne knirschten. Noch ehe das Stechen sich verschlimmern konnte, riss sie ihren Blick vom Küchenfenster und schob sich ein Stück Brot in den Mund. Sie hatte damit abgeschlossen.
Zumindest bildete sie sich das ein.
Mit einem letzten prüfenden Blick verließ sie ihre Hütte.
„Thalina Waresteyn! Du bist zu spät!", donnerte eine raue, definitiv verärgerte Stimme, als sie auf die Farm trat. Mist. Die Sonne stand schon viel zu weit oben. Thalinas frühmorgendlichen, grüblerischen Gedanken hatten sie wohl mehr Zeit gekostet, als erwartet.
Eilig passierte sie das große Tor, vorbei an den zahlreichen Stallungen, und steuerte auf einen laubbedeckten Weg entlang in Richtung Felder. Dort wartete ein grimmiger Gutsherr auf sie, die Arme in die Hüften gestemmt. „Das Einzige, was ich im Tausch für mein Gästehaus, mein Wasser und mein Brot verlange, ist Zuverlässigkeit. Wenn du nicht einmal das schaffst, wozu bist du dann gut?", fuhr er sie an. Seine Stimme brummte trotz seines fortgeschrittenen Alters kräftig und gebieterisch. Mary war also nicht die Einzige. Obwohl sie mindestens 20 Jahre älter war als Richard.
Betreten sah Thalina zu Boden. Sie musste ihre Klappe halten, sonst würde er noch unangenehmer werden. Also ließ sie sich eine Weile niedermachen und begann dann – noch später – ihre Arbeit.
Zwischendurch machte sie kurze Pausen, um zu lauschen, ob das Geräusch von letzter Nacht wieder gekommen war, aber sie konnte neben den Geräuschen der Schweine, Hühner, Schafe und Kühe nichts anderes ausmachen.
Die Arbeit war schmutzig und anstrengender als sonst. Sie hatte gewusst, der fehlende Schlaf würde ihr heute zum Verhängnis werden. Warum musste sie auch so eine grenzenlose Neugier besitzen? Wäre sie doch gleich im Bett liegen geblieben. Der Nachtspaziergang hatte ihr rein gar nichts außer Zeitverlust eingehandelt.
Doch ein anderer Gedanke war lauter: Wen konnte sie auf das Brummen von vergangener Nacht ansprechen? Wer hätte etwas hören können? Thalina bezweifelte, dass Gertha, die Wirtin des Gasthauses etwas gehört hatte. Sie war die ganze Nacht beschäftigt gewesen und die Taverne war kein leiser Ort.
Es war die einzige Taverne in Arensberg und auch zugleich die mit dem besten Essen in der Gegend. Oft kamen die Bewohner ferner Höfe vorbei, nur um dort zu besonderen Anlässen zu speisen.
Dann war da noch Sophias Familie, ihr gehörte der Gemüsestand. Sie besaßen einen eigenen kleinen Gemüsegarten neben ihrer Hütte und boten auch das Gemüse der anderen Bauern an ihrem Stand an.
Da es nördlich von Arensberg riesige Wälder gab, gehörten zum Dorf auch einige Jäger, die sich um das Wild kümmerten. Dazu gehörten der Ehemann Gertha's und deren 26-jähriger Sohn, Erin. Thalina hatte auch vor, ihn zu suchen. Da er die meiste Zeit in den Wäldern verbrachte, könnte er etwas gehört haben. Ihn zum Reden zu bekommen, könnte sich jedoch als ein Schweres herausstellen.
Endlich war es soweit. Die Sonne verschwand hinter den Bäumen. Erschöpft und völlig verdreckt machte sich Thalina auf den Heimweg. Er war nicht lang, ihre Hütte befand sich in der Nähe der Farm. Sie freute sich schon auf ein angenehmes Bad, das die Erde und das Getreide von ihr waschen würde.
Ihre schulterlangen, kastanienbraunen Haare waren noch nicht gänzlich getrocknet, als Thalina sich wieder auf den Weg nach draußen machte. Sie musste sich beeilen.
Die goldene Sonne sank stetig tiefer und die Schatten der Gebäude wuchsen immer mehr an. Die Blätter der Bäume leuchteten in allen Farben des Herbstes. Eine kühle Brise streifte durch ihre noch nassen Haare, und sie bereute fröstelnd, dass sie das Bad nicht auf später verschoben hatte.
Heute war eigentlich kein Markttag, aber es lebten doch genug Leute in Arensberg, dass nachmittags wenigstens ein paar Marktstände auch unter der Woche offen hatten. Als Thalina auf den Platz kam, waren nur noch zwei Stände aufgeklappt. Zum Glück war der Gemüsestand immer eine der Letzten. Sophia war gerade dabei, Kisten mit übergebliebenem Kohl zurück in ihre Hütte zu tragen.
Sie trug ihr übliches, dunkelbraunes Händlerkleid, welches ein wenig locker war aber trotzdem fließend ihren Körper hinabglitt. Sophias von der Sonne geküssten hellbraunen, langen Haare reichten fast bis zu der Kiste, die sie unterhalb ihrer Brust trug.
Ihre Augen sahen zwar gerade nicht in Thalinas Richtung, doch der durchdringende Blick, mit dem Sophia sie manchmal ansah, blieb gut in ihrem Gedächtnis bestehen. Diese grünen Rehaugen verschmolzen in einer wunderbaren Harmonie ihres Gesichtes. Alle Züge an Sophia waren weich. Sie hatte volle Lippen, um die Thalina sie beneidete und eine schmale Nase. Es lag immer ein Lächeln auf ihrem Gesicht, wie eine eigene kleine Sonne, die Arensberg zu einem helleren Ort machte.
Sophia hatte nie nach Thalinas Vergangenheit gefragt, nie diejenigen Fragen gestellt, die viele Bewohner sie gefragt hatten: 'Was hat dich so weit in den Norden verschlagen?', 'Wo kommst du her?', 'Wo ist deine Familie?'
Keine dieser Fragen hatte Thalina beantwortet.
Auch ihre damals nur kinnlangen Haare hatten die Dorfbewohner abgeschreckt. Eigentlich hatte Thalina gehofft, sie würde als Junge durchgehen, doch den Blicken der anderen nach zu urteilen war das gescheitert und die Herkunftsfrage klärte es trotzdem nicht.
Wie hätte sie denn auch darüber reden können, wenn sie es selbst nicht einmal fertig brachte, auch nur darüber nachzudenken? Sie hatte sich hier ein kleines Leben in Frieden aufgebaut, und das war alles was zählte.
Wie in allen kleineren Dörfern hatten die Bewohner Probleme mit Veränderungen, und so waren sie auch Thalina gegenüber anfangs sehr misstrauisch gewesen. Doch Sophia war an ihrer Seite gewesen. Hatte Verständnis gezeigt. Sie hatte sie sogar das ein oder andere Mal vor anderen verteidigt. „Sie hat bisher noch nichts Schlimmes getan oder? Verurteilt doch niemanden, nur weil ihr ihn nicht kennt."
Sogar jetzt, fast zwei Jahre später, gab es immer noch Bewohner, die Thalina gegenüber eine gewisse Skepsis hegten, doch vom Großteil wurde sie inzwischen akzeptiert.
Sophia kam gerade wieder aus der Vorratskammer neben ihrer Hütte, als sie Thalina auf dem Marktplatz entdeckte. Ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus, funkelte in ihren Augen und ihre Schritte beschleunigten sich. „Schön, dich zu sehen, Thalina!" Ihre Arme legten sich herzlich um sie. „Wie war die Arbeit?"
Thalina erzählte ihr von ihrem verspäteten Erscheinen und Richards nicht allzu begeisterter Reaktion darauf.
Sophia kicherte: „Du solltest es dir mit ihm nicht verscherzen, er ist alt und das macht ihn noch sturer." Ihre grünen Augen musterten Thalina und wieder fühlte die Arbeiterin sich, als könne die Händlerin direkt in sie hineinsehen. Wie war das überhaupt möglich, nachdem Sophia doch so wenig von ihr wusste?
Die beiden redeten noch eine Weile über ihre Arbeit, doch dann entschied sich Thalina, auf den Punkt zu kommen.
„Du, Sophia? Ist dir letzte Nacht etwas Komisches aufgefallen? Vielleicht ein sonderbares Geräusch von draußen?"
„Machst du Witze? Ich wohne am Marktplatz, da gibt es immer komische Geräusche nachts. Freilaufende Wildtiere, trunkene Bewohner, du kennst doch die beliebten Dorfparties." Bei dem letzten Teil zwinkerte sie ihr zu.
„Ja nein, ich meine etwas, das du noch nie zuvor gehört hast. Eine Art tiefes Brummen, welches scheint, von überall und doch nirgends zu kommen."
Sophia runzelte die Stirn. Ihre Augen zuckten ziellos über den Marktplatz, als sie versuchte, sich zu erinnern. „Hmm. Nein, nicht, dass ich wüsste. Aber ich muss zugeben, gestern war ein harter Tag. Ich bin sofort ins Bett gefallen, nachdem ich mit allem fertig gewesen war."
Enttäuscht ließ Thalina die Schultern sinken. Dann fügte Sophia hinzu: „Vielleicht solltest du mal in der Taverne fragen, da sind die Leute ja länger wach."
„Ja, das habe ich mir auch schon überlegt. Danke trotzdem Sophia." Thalina lächelte und wandte sich zum Gehen.
Doch dann spürte sie ihre weiche Hand an ihrem Arm. Thalina drehte sich um. Ein verschmitztes Grinsen erschien auf Sophias weichem Gesicht und es schien, als würden ihre Augen einen Augenblick lang noch heller strahlen als sonst. „Wir müssen wieder etwas unternehmen! Es ist so lange her, seit ich das letzte Mal außerhalb dieser kaputten Stadtmauern war. Vielleicht so etwas wie zum Waldrand gehen und komische Beeren finden... sie naschen, im hohen Gras liegen und ihre berauschende Wirkung abwarten..." Bei den letzten Worten zog Sophia neckend eine Augenbraue hoch.
Eine angenehme Wärme breitete sich in Thalinas Brust aus. Sie erinnerte sich noch zu gut an ihr letztes Abenteuer. Sie waren vollkommen trunken von diesen Beeren gewesen und hatten den ganzen Nachmittag gelacht.
Die warmen Sommertage in diesem Jahr waren gezählt. Es wäre zu schade, sie nicht noch einmal auszukosten. „Du hast recht", meinte Thalina nach einem kurzen Augenblick. „Wir könnten übermorgen nach der Arbeit etwas unternehmen, wenn du möchtest.. An der Westmauer? Dann haben wir noch ein wenig von der Sonne."
Thalina brauchte gar nicht zu fragen, Sophias Gesicht strahlte noch mehr und sie nickte freudig.
Nach dem Gespräch war von der Sonne nur noch ein rosaroter Streifen am Horizont übrig geblieben, und obwohl Thalina lieber hätte nach Hause gehen sollen, wollte sie den Tag noch nicht enden lassen. Die Neugier nagte immer noch an ihr. Sie wollte wenigstens noch jemanden nach dem Geräusch von letzter Nacht fragen. Erneut hielt sie auf dem Weg zur Taverne inne. War es jetzt zu hören?
Nein.
Die Unterhaltung mit der Tavernenbesitzerin und Chefköchin Gertha - eine stämmige Frau mit kurzen, hellblonden Haaren und gütigen Gesichtszügen - brachte wie erwartet auch nicht das erhoffte Ergebnis. Sie hatte viel mit ein paar Reisenden aus einem größeren Nachbarsdorf zu tun gehabt. Jedoch hatte sie Thalina auf ihren Mann verwiesen. Die Jäger und somit der Mann und Sohn Gertha's waren in die Wälder gezogen, um Wild für das Erntedankfest zu jagen. Es sollte wie jedes Jahr ein großes Festessen geben.
Dann würde Thalina die Möglichkeit bekommen, sie darauf anzusprechen. Bevor sie die Taverne wieder verließ, drehte sie sich noch einmal um. Gertha befand sich bereits in den Vorbereitungen, wusch und schnitt Gemüse, lagerte Fässer vor und putzte Geschirr. Nächste Woche war es soweit. Also noch ein Wenig warten. Zu schade, dass Thalina ein sehr ungeduldiger Mensch war. Nie hatte sie ein vergleichbares Geräusch gehört, in den beinahe zwei Jahren, die sie hier schon gelebt hatte.
Die Dämmerung musste bereits vorüber sein, denn nun strömten immer mehr Bewohner in die gemütlich warme Taverne. Die Holzbänke füllten sich und Gertha verließ ihre Theke, um die Bestellungen aufzunehmen. Das war wohl das Stichwort für die Arbeiterin, zu gehen. Langsam lief sie durch das Dorf und beobachtete dabei, wie ihre Stiefel das Gras runterdrückten. Was konnte das Geräusch verursacht haben? Irgendein Wesen, das sich in den Wäldern aufhielt? Oder eine neue Erfindung aus einem benachbarten Dorf?
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