Der Preis der Freiheit
Der Preis der Freiheit
Evelyn PoV
Als ich zwei Wochen später die Umgebung von Paris gründlich ausgekundschaftet hatte, musste ich zugeben, dass mir Frankreich eindeutig besser gefiel als Hongkong. Hier fiel man nicht ganz so schnell auf, wenn man von anderer Herkunft war und die Kultur war bei weitem nicht so kompliziert, wie es die von China war.
Und Paris konnte sich wirklich sehen lassen. Bisher hatte ich es ja nur immer auf Fotos oder in den Nachrichten sehen können, aber nun persönlich in dieser Stadt zu sein, das war schon etwas Besonderes. Paris war unglaublich inspirierend, Kunst wurde hier ganz groß geschrieben und der Eifelturm war natürlich DAS Highlight der Stadt.
Seit 14 Tagen war ich nun schon hier und dieses Mal bereitete ich das Zerschlagen des Netzwerkteils noch gründlicher vor. Ich konnte noch gar nicht richtig glauben, dass ich schon so weit gekommen war, aber die Mühe zahlte sich aus und das gab mir immerhin die Gewissheit, dass ich vor einem Jahr nicht umsonst für alle anderen gestorben war.
Ich ging durch die Straßen und beobachtete die Touristen, die ganz aufgeregt waren und sich jede Ecke von Paris ganz genau ansahen. Sie sahen so glücklich aus, dass mir wieder bewusst war, dass ich aus viel dramatischeren Gründen hier war und ich wünschte mir mehr denn je, dass alles endlich ein Ende nehmen würde.
Schon damals, als die Besessenheit von Vincent angefangen und er William kaltblütig ermordet hatte, hatte ich realisieren müssen, dass ich wohl niemals ein normales Leben führen konnte und mittlerweile war ja wohl offensichtlich, dass ich nirgends vor meinem wahnsinnigen Bruder sicher war. Wegen ihm hatte ich alles verloren und aufgeben müssen, was mich mehr als nur Überwindung gekostet hatte. Und alles, was mir noch geblieben war, war die Hoffnung darauf, dass ich ihn für seine Taten sicher hinter Schloss und Riegel bringen konnte, wie gefährlich es auch werden würde. Es war nun einmal der Preis, den ich für die ewige Freiheit meiner Freunde bezahlen musste und das würde ich tun- was es auch kostete.
Als ein paar Stunden später der Abend dämmerte, befand ich mich in meinem Hotelzimmer und hatte mir gerade eine schwarze Hose und ein schwarzes Oberteil angezogen. Heute würde ich anders vorgehen, denn ich wollte einen Kampf vermeiden und lediglich die Informationen des Netzwerkteils vernichten, während ich der Polizei die Ausschaltung der Gangster überlassen würde. Es war zwar riskant, aber ich wollte so wenig Aufsehen wie möglich erregen und das konnte ich nur auf diesem Weg.
Ich hatte auch bereits herausfinden können, dass sich das Versteck von Vincents Handlangern ganz offenbar in der Nähe befinden musste, denn alle Spuren führten zu der Kathedrale Notre Dame, die nicht allzu weit entfernt vom Hotel war. Natürlich nahm ich keineswegs an, dass die Truppe sich direkt in der Kathedrale befand, sondern vielmehr unmittelbar in Reichweite.
Als ich meine Utensilien wieder eingesteckt hatte, zog ich mir meine Lederjacke über und bereite mich innerlich auf den nächsten Schritt vor. Erneut war ich bestens gerüstet, aber da ich heute nicht vorhatte zu kämpfen, verzichtete ich dieses Mal auf eine Perücke, weshalb meine schwarzen Haare mir offen über die Schultern fielen. So war ich immerhin für eine gewisse Zeit wieder ich selbst, wenn ich das überhaupt noch nach den ganzen Ereignissen war.
Seit ich England verlassen hatte, war ich nicht mehr dieselbe. Die Schatten der Vergangenheit hatten ihre Spuren auf mir hinterlassen und mich möglicherweise für immer gezeichnet. All die tragischen Ereignisse, die sich in meinem bisherigen Leben zugetragen hatten, hatten mich zu dieser Person gemacht und ich zweifelte daran, dass ich je wieder ein normales Leben führen konnte.
Liam und Molly hatten mir beide ans Herz gelegt, nach London zurückzukehren, sollte meine Mission von Erfolg gekrönt sein. Aber selbst wenn es mir gelang, meinen Bruder aus dem Verkehr zu ziehen und somit die Freiheit meiner Freunde zu sichern...so wusste ich nicht, ob es so eine gute Idee wäre, ihnen als die Person gegenüber zu treten, zu der ich geworden war. Und vor allem wusste ich ja nicht einmal, ob sie meine Rückkehr verkraften würden.
Wie würden sie denn reagieren, wenn ich aus dem Nichts auftauchte und ihnen offenbarte, dass ich am Leben war? Ich erinnerte mich nur zu gut daran, wie wütend ich damals gewesen war, als Sherlock nach 2 Jahren zurückgekehrt war, nachdem wir alle gedacht hatten, er hätte Selbstmord begangen. Da würde es mich nicht wundern, wenn Sherlock und die anderen mich dann genauso verachteten, wie wir es für die erste Zeit nach seiner Rückkehr mit ihm getan hatten. Der einzige Unterschied war: Sherlock hatte es vielleicht einfach so verwunden, dass alle ihn dafür hassten, aber ich könnte nicht ertragen, wenn meine Freunde und vor allem Sherlock mich mit Hass ansehen würden.
Mein Blick wanderte aus dem Fenster und ich erinnerte mich an etwas, was kurz nach der Rückkehr von Sherlock passiert war.
Ich erreichte die Baker Street und trat in die 221b ein, ehe ich durch das Treppenhaus nach oben in die Wohnung von Sherlock ging. Bereits von außerhalb der Wohnung vernahm ich seine Geige und ich konnte manchmal immer noch kaum glauben, dass er wirklich wieder zurück war.
An manchen Tagen ertappte ich mich selbst dabei, dass ich dachte, das alles wäre nur ein Traum und Sherlock wäre in Wirklichkeit tot, aber dann realisierte ich wieder, dass er am Leben und zu uns zurückgekommen war.
Ich öffnete die Wohnungstür und ging in das Wohnzimmer, wo Sherlock mit dem Rücken zu mir am Fenster stand und unentwegt Geige spielte. Die Melodie klang traurig, aber sie war dennoch wunderschön und ich hätte ihm stundenlang zuhören können. Doch Sherlock beendete sein Spiel und schien bereits zu wissen, dass ich anwesend war.
,,Hast du den Mörder gefasst?", brach er sein Schweigen und drehte sich nun zu mir um, ehe ich eifrig nickte.
,,Ja, habe ich. Und ich soll dir den aufrichtigen Dank von Greg ausrichten. Er ist seit deiner Rückkehr regelrecht beflügelt und hat fast mehr Spaß bei der Verbrecherjagd als ich."
,,Wer war es?", wollte Sherlock wissen und nun seufzte ich.
,,Es war natürlich der Bruder. Und sag jetzt bitte nicht, ich habs dir gleich gesagt."
,,Wenn man Recht hat, braucht man sowas nicht zu sagen."
Sherlock lächelte nun amüsiert und ich richtete den Blick gen Zimmerdecke. Ich wusste ja selbst nicht, warum ich ihm auch noch offenbarte, dass er mit seinem Verdacht von Anfang an richtig gelegen hatte, aber ich hatte ihn mal wieder besuchen wollen und das war eben der perfekte Vorwand dafür gewesen. Denn, seit Sherlock zurück war, hatte ich irgendwie das Gefühl, dass ich mich immer wieder davon überzeugen musste, dass er wieder hier war.
,,Du machst dir Sorgen.", stellte Sherlock fest, als er mich prüfend musterte und ich kehrte in die Wirklichkeit zurück.
,,Wie bitte?"
,,Du machst dir Sorgen, ich könnte wieder verschwinden und nicht mehr zurückkommen.", zog Sherlock seine Schlussfolgerung und ich warf ihm einen unsicheren Blick zu.
,,Ist das falsch?"
,,Nein! Es ist die logische Reaktion auf das, was ich getan habe und wäre ich normal, würde ich sicher auch so handeln. Allerdings kann ich dich beruhigen, Evelyn. Ich habe nicht vor, wieder zu verschwinden.", erwiderte Sherlock und obwohl mich das beruhigen sollte, tat es das irgendwie nicht.
,,Das sagst du jetzt. Aber was, wenn irgendwann wieder ein mächtiger Feind auftaucht und dich zu so einem Entschluss zwingen will. Was dann?"
,,Habe ich John und dich, die mir helfen können.", sagte Sherlock, woraufhin ich ihn überrascht ansah. ,,Das hast du doch gesagt. Dass man in solchen Situationen mit seinen...Freunden reden sollte."
Ich war etwas verdutzt, dass sich Sherlock meine Worte offenbar wirklich zu Herzen genommen hatte. Aber es erleichterte mich auch irgendwie und seine Aussage zauberte mir sogar ein Lächeln ins Gesicht.
,,Ja, das stimmt! Schön, dass du dir das gemerkt hast.", äußerte ich und Sherlock legte seine Geige nun zur Seite, ehe er seine Hände in die Hosentaschen schob und ein paar Schritte auf mich zukam.
,,Keine Sorge! Ich werde sie schon nicht vergessen. Und sollte ich es je tun, dann wirst du sicher hier sein, um mich wieder daran zu erinnern."
,,In der Tat, Sherlock."
Ich kehrte in die Gegenwart zurück und sah auf mein Spiegelbild im Fenster, während mir einzelne Tränen über die Wangen liefen. Diese Erinnerung jagte mir in den letzten Tagen immer häufiger durch das Gedächtnis und sie quälte mich. Nicht nur, weil ich durch sie unwiderruflich an Sherlock denken sollte, sondern auch, weil sie mich daran erinnerte, dass ich mein Versprechen gebrochen hatte. Ich hatte Sherlock damals versichert, dass ich, genauso wie John, immer da sein würde und er auf mich zählen könnte. Aber genau das hatte ich mit meinem scheinbaren Tod unmöglich gemacht und somit hatte ich Sherlock im Stich gelassen. Und ich würde mir das niemals verziehen können, da es mich bis an mein Lebensende verfolgen würde. Ich konnte also nur hoffen, dass der Schmerz eines Tages erträglicher wurde. Und vor allem konnte ich nur hoffen, dass Sherlock mir das irgendwann vergeben würde. Auch, wenn ich ihn niemals persönlich um Verzeihung dafür bitten konnte.
Ich wischte meine Tränen fort und atmete tief durch. Bei dem, was mir bevorstand, durfte ich nicht sentimental werden und durfte mich nicht davon unterkriegen lassen. Es war nun einmal, was es war. Ich war offiziell tot und würde sowohl mein zu Hause, als auch meine Freunde nie wiedersehen. Alles, was mir blieb, war das Netzwerk meines Bruders, welches ich zerstören musste und deshalb musste ich mich jetzt dem parisischen Teil annehmen. Ich wandte mich vom Fenster ab, setzte mir meine Kapuze auf und verließ das Hotelzimmer.
Als ich anschließend durch die Straßen von Paris schritt und auf dem Weg zu jenem Gebäude war, bekam ich ein merkwürdiges Gefühl. Die Nacht war längst über die Stadt hereingebrochen und die Menschen hatten sich in ihre Häuser zurückgezogen. Und genau diese Stille und Leere beunruhigten mich, da es auf einmal wie ausgestorben wirkte.
Es war, als wollte mich mein Unterbewusstsein warnen und in der menschenleeren Fußgängerzone, blieb ich stehen. Ich spürte instinktiv, dass ich beobachtet wurde und meine Hand wanderte zu dem Schlagstock, den ich unauffällig auseinanderzog und mein Blick verfinsterte sich. Was dann geschah, ging rasend schnell, aber genauso reagierte ich auch.
Von einem Balkon über mir, sprang ein Mann runter und landete hinter mir. Blitzschnell fuhr ich herum und schon fanden wir uns in einem Duell gegeneinander wieder. Er war zweifellos ein Anhänger meines Bruders und deshalb hielt ich mich keineswegs zurück. Der Mann versuchte mich außer Gefecht zu setzen, aber ich war schneller und nachdem ich ihm einige Tritte verpasst hatte, zog ich den Elektroschocker aus meiner Jackentasche und streckte ihn damit nieder.
Aber damit war es noch lange nicht vorbei! Denn nun kamen drei weitere Lakaien von Vincent auf mich zu und ich verdrehte genervt die Augen.
,,Ihr habt wohl nie genug, was?"
Mit diesen Worten ging ich auf sie los und bekämpfte meine neuen Gegner. Eigentlich hatte ich ja keinen Kampf führen wollen, aber wer nicht hören konnte, der musste eben fühlen. Und die legten es ja schließlich auf Gewalt drauf an, weshalb ich sie ja schlecht enttäuschen konnte. Und das, obwohl ich Gewalt eigentlich abgrundtief verabscheute.
Aber hier war ich keine Polizistin, die für Gerechtigkeit sorgten musste. Hier war ich gewissermaßen eine Verbrecherin, die sich auf einem persönlichen Rachefeldzug befand und alles dafür tat, ihren eigenen Bruder hinter Gitter zu bringen. Ich war jemand, der ich niemals hatte sein wollen.
Nach und nach schaltete ich die Männer aus. Der Erste flog nach einem gekonnten Tritt von mir, mehrere Meter von mir weg und schlug so hart auf dem Boden auf, dass er das Bewusstsein verlor. Den Zweiten musste ich mit den Elektroden überwältigen und beförderte ihn dann anschließend mit dem Schlagstock ins Reich der Ohnmacht.
Nun war nur noch Einer übrig und dieser hatte nun ein Messer gezogen. Wutentbrannt und aggressiv ging er auf mich los, doch ich wich dem Messer aus und schaffte es, ihm einen Tritt ins Rückgrat zu verpassen. Er stolperte nach vorne und ich packte ihn am Jackenkragen, ehe ich ihm sein Messer entriss und ihn wutentbrannt anfunkelte.
,,Wer seid ihr?"
Zwar war ich fest davon überzeugt, dass sie zu Vincent gehörten, aber die Tatsache, dass sie mich angegriffen hatten, irritierte mich. Natürlich war das Netzwerk durch die vergangenen Angriffe sicher alarmiert, aber sie hatten ja keine Ahnung, dass ich dahinter steckte. Der Mann warf mir einen tödlichen Blick zu und knurrte dann förmlich.
,,Ihr schlimmster Albtraum!", zischte er und ich schnaubte verächtlich.
,,Garantiert nicht."
,,Wer Sie auch sind...er wird Sie finden. Und dann wird er Sie büßen lassen für das, was Sie getan haben. Sie werden den Preis bezahlen, den Sie ihm für Ihre Angriffe schulden."
Der Mann grinste böse und schien mehr als überzeugt zu sein. Doch ich wollte keine weitere Sekunde mit ihm verschwenden und ließ ihn los, ehe ich ihm mit dem Elektroschocker den Gnadenstoß für das Koma verpasste. Er sank zu Boden und ich sah verachtend auf ihn herab.
,,Vorher werde ich ihn zur Strecke bringen!"
Vincent mochte mir seine Lakaien ja auf den Hals hetzen können, aber ich war ihm dieses Mal einen Schritt voraus. Denn, da ich meinen Tod vorgetäuscht hatte, wusste mein Bruder nicht, wer sein Gegner war und diese Männer würden sich nicht an mein Gesicht erinnern, da die Stromschläge ihnen den Rest gegeben hatten. Ich sah auf die Bande von Attentätern herab und fragte mich, wie es jetzt weitergehen würde.
,,Ich wusste, dass ich dich finden würde!"
Ich erstarrte und mein Herz setzte für den Bruchteil einer Sekunde lang aus. Für einen Moment konnte ich mich nicht rühren und eine Gänsehaut jagte über meinen Körper, ehe ich mich ganz langsam umdrehte. Mein Blick fiel auf die Person, deren Stimme mich eben in eine Statue verwandelt hatte und konnte kaum glauben, wer da vor mir stand: Sherlock!
Sein Anblick machte mich vollkommen sprachlos, denn ich war viel zu überfordert, weil er wie aus dem Nichts plötzlich vor mir stand, als dass ich reagieren könnte. Sherlock selbst, schmunzelte leicht und warf mir einen vielsagenden Blick zu.
,,Allerderdings hat es länger gedauert, als ich angenommen hatte.", entgegnete Sherlock und nun glitt ihm ein leichtes Lächeln über das Gesicht. ,,Hallo, Evelyn!"
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