Abschied von Evelyn
Abschied von Evelyn
Sherlock PoV
Die Uhr tickte und obwohl dieses Geräusch kaum zu hören war, so war es das Einzige, welches Sherlock Holmes im Augenblick wahrnahm. Und die Zeit lief unbeirrt weiter, obwohl es sich für ihn so anfühlte, als wäre sie gestern für immer stehen geblieben. Stehen geblieben, seit der tödliche Schuss gefallen war und ihnen allen etwas genommen hatte.
Evelyn war tot! Mycroft hatte genau das getan, was sie von ihm verlangt hatte und damit hatte das Spiel des Todes ein grauenhaftes Ende genommen. Es war ein Spiel gewesen, welches niemand von ihnen hatte spielen wollen, doch ihnen war keine Wahl geblieben. Und nun hatte Vincent sein Ziel erreicht, denn Evelyn hatte genauso gehandelt, wie er es vorhergesehen hatte: sie hatte sich für ihre Freunde geopfert!
Und auch, wenn sie alle dadurch gerettet hatte...so wünschte sich Sherlock, dass sie es nicht getan hätte. Zuerst hatte er an einen Trick geglaubt. Eine Täuschung, die Evelyn und sein Bruder gemeinsam inszeniert hatten, wie er es einst selbst mit der Hilfe von Mycroft getan hatte. Aber John hatte sich Evelyn selbst angesehen und somit jeglichen Zweifel ausgelöscht: sie war tot!
Die ganze Nacht hatte Sherlock versucht, alles rational zu betrachten und sich nicht von seinen Gefühlen überwältigen zu lassen. Doch dieses Mal war er machtlos gegen sie und sie bereiteten ihm vor allem eins: Schmerz!
Zum ersten Mal spürte er wahrhaftig, dass Evelyn ihm viel wichtiger gewesen war, als er jemals hätte zugeben können. Er wusste nicht, was sie mit ihm gemacht hatte, aber durch sie hatte er sich verändert. Denn er nahm Gefühle wahr, die er nie zuvor verspürt hatte und das irritierte ihn.
Er war Sherlock Holmes! Gefühle waren für ihn doch nichts weiter, als ein Defekt. Ein Defekt, der ihn an seiner Arbeit hindern würde, ließe er es zu und Emotionen machten einen Menschen schwach.
Und dennoch konnte er nicht leugnen, dass er etwas fühlte: Leere! Es war fast so, als wäre mit einem Schlag alles still um ihn herum geworden und irgendjemand hätte London das Leben ausgehaucht. Und es gab nichts, was diese Leere ausfüllen konnte...einfach nichts. Ihm blieb einzig und allein die Tatsache, dass sie alle die Ereignisse von gestern akzeptieren und irgendwie versuchen mussten, ihr Leben weiterzuführen- ohne Evelyn!
Sherlock starrte an die Wand und stand dann langsam auf. Er ging zu dem Kaminsims und sein Blick fiel nun auf ein Bild, welches John mal aus einer Zeitung ausgeschnitten und an die Wand gepinnt hatte. Es zeigte ihn zusammen mit John und Evelyn, nachdem sie den Fall von Alison Montgomery gelöst hatten. Und es war so ziemlich das einzige Foto, wo die Presse es auch geschafft hatte, Evelyn drauf abzulichten. Sonst war sie stets kamerascheu gewesen und nachdem nun die Wahrheit über ihre Vergangenheit ans Licht gekommen war, wusste Sherlock auch warum.
Aber warum hatte er es nicht gesehen? Warum hatte er Evelyn nicht ihre Geschichte ablesen können, wie er es sonst auch bei allen anderen konnte? Etwa, weil sie schon genau gewusst hatte, wie man seine Geheimnisse verbarg oder hatte Vincent vielleicht doch Recht gehabt und er hatte die Wahrheit einfach nur nicht sehen wollen?
Das Zufallen der Haustür riss Sherlock aus seinen Gedanken, aber er rührte sich nicht von der Stelle. Er hörte sich nähernde Schritte und bereits bevor sie das Wohnzimmer betreten hatten, wusste er, dass es John und Alicia waren.
Nun kamen sie in den Raum und langsam drehte Sherlock sich nun zu ihnen herum. Natürlich wäre es ihm lieber gewesen, wenn er jetzt alleine geblieben wäre, aber auch John und Alicia hatten Evelyn verloren, weshalb es nur logisch war, dass sie jetzt hier waren.
,,Hallo, Sherlock! Wie gehts dir?", fragte John und Sherlock überspielte gekonnt seine wahren Gefühle.
,,Gut! Wie sollte es mir sonst gehen?"
John und Alicia tauschten nun einen kurzen Blick und Sherlock wusste, dass sie ihnen das nicht abnahmen. Aber er ging nicht weiter darauf ein, sondern trat nun an das Fenster und sah hinaus auf die Straße, während John nun natürlich versuchte, Reaktionen in ihm hervorzurufen.
,,Sherlock, du brauchst uns nichts vorzumachen. Wir wissen, dass es dir nicht gut geht...niemandem von uns geht es gut. Aber wenn wir vielleicht darüber reden..."
,,Nein!", unterbrach Sherlock ihn abrupt und sah ihn warnend an. ,,Das werden wir nicht."
,,Mycroft hat uns angerufen. Er macht sich Sorgen um dich und hat mehrere Male gesagt, dass es ihm leid tut.", pflichtete Alicia nun bei, aber Sherlock schnaubte nur verächtlich.
,,Was kümmert mich mein Bruder? Er ist doch sonst nicht so sentimental. Dann braucht er jetzt auch nicht damit anfangen."
Sherlock sah wieder aus dem Fenster und obwohl er tief im Inneren wusste, dass sein Bruder nur das getan hatte, worum Evelyn in gebeten hatte, so gab er Mycroft dennoch die Schuld daran, dass Evelyn nun für immer fort war.
Oder zumindest einen Teil der Schuld, denn Sherlock war auch wütend auf sich selbst. Wütend darauf, dass er die Bedrohung nicht hatte kommen sehen und Evelyn nicht hatte retten können. Wenn er die Wahrheit früher erkannt hätte, dann hätte er es sicherlich verhindern können.
Erneut ertönten Schritte und dieses Mal war es Mrs. Hudson, die ins Wohnzimmer kam. Damit unterbrach sie auch John, der gerade zum Widerspruch ansetzen wollte, sich nun aber zu ihr umdrehte.
Sherlock sah ebenfalls zu Mrs. Hudson und an ihren roten Augen erkannte er, dass sie geweint hatte. Auch sie war erschüttert über den Tod von Evelyn und trauerte um sie. Aber nun schaute sie vielsagend in die Runde und zog mit einem Mal einen Umschlag aus ihrer Schürzentasche, den sie Sherlock entgegenstreckte.
,,Hier, das habe ich gestern ganz vergessen. Ich sollte Ihnen den geben.", teilte sie ihm mit und Sherlock nahm den Umschlag, während er Mrs. Hudson verwirrt ansah.
,,Von wem ist der?"
,,Evelyn!", erwiderte Mrs. Hudson und nun erstarrte Sherlock.
Auch John und Alicia spannten sich sofort an und ihre Blicke lagen nun auf dem Umschlag, den Sherlock nun zögerlich öffnete. Als er hineingriff, konnte er den Hausschlüssel ausfindig machen, den er Evelyn einst gegeben hatte, damit sie schneller zur Stelle sein konnte, wenn er mal ihre Hilfe bei einem Fall benötigte. Und als er einen kurzen Blick hereinwarf, fand er einen Stick, den er hervorzog und zögernd in Augenschein nahm.
,,Ein Stick? Warum schickt Evelyn dir einen Stick?", meinte John verwirrt und Alicia schien genauso ahnungslos zu sein.
,,Vielleicht noch wegen einem Fall?"
,,Das glaube ich nicht.", meinte Mrs. Hudson und sah Sherlock vielsagend an, während sie auf den Umschlag deutete. ,,Sie nannte es eine Antwort auf viele Fragen."
,,Wann hat Evelyn Ihnen den gegeben, Mrs. Hudson?", fragte Sherlock und der Blick seiner Vermieterin wurde traurig.
,,Gestern! Das war, bevor..."
Sie beendete den Satz nicht, aber das musste sie auch nicht. Alle im Raum wussten, was Mrs. Hudson vermied auszusprechen und Sherlock zögerte keine Sekunde mehr, sondern ging zu Johns Laptop und steckte kurzer Hand den Stick ein.
Er spürte, wie alle binnen weniger Sekunden hinter seinem Rücken standen und als er die Datei von dem Stick öffnete, erstarrten sie alle zur gleichen Zeit. Denn es war ein Video, welches Evelyn vor ihrem Tod aufgenommen haben musste.
,,Hey! Wenn ihr das hier seht, dann...bedeutet das wohl, dass meine Vergangenheit mich endgültig eingeholt hat. Ich hatte zwar gehofft, ein normales ruhiges Leben führen zu können, aber...was soll ich sagen? Nicht immer gibt es ein Happy End. Zuerst möchte ich euch sagen, dass ihr euch keine Vorwürfe machen müsst. Es gab nichts, mit dem ihr mich hättet retten können und ihr sollt wissen, dass ich trotz allem...keine einzige Sekunde bereue. Bitte zeigt dieses Video auch Greg, damit Mycroft keine Schwierigkeiten bekommt. Er hat mir nur geholfen, als es niemand anders konnte und er hat somit...gewissermaßen meinen letzten Willen erfüllt. Und so dramatisch das auch klingt...es gab keinen anderen Weg. Bitte seid auch nicht sauer auf Alicia, denn sie musste mir versprechen, dass sie euch allen nichts von meiner Vergangenheit sagt. Ich wollte es so...weil ich euch beschützen wollte und wohl, weil ich fürchtete, dass ihr mich dann anders sehen würdet, als ihr es bisher getan habt. Und auch, wenn ihr die Wahrheit jetzt kennt...ändert das nichts daran, wer ich wirklich bin und auch nicht daran, was ich tun muss. Das Rätsel von Vincent hat mich vor eine Entscheidung gestellt und die ist unumgänglich. Ganz gleich, was heute auch geschieht...ich möchte, dass ihr mir was versprecht. Was auch immer noch auf euch zukommt und wie dunkel euch das Leben auch manchmal vorkommen mag...ihr müsst mir versprechen, dass ihr niemals die Hoffnung aufgebt. Haltet sie lebendig und bewahrt sie tief in eurem Herzen. Denn sie gibt mir die Kraft...das zu tun, was ich tun muss. Ich hoffe, dass ihr mir eines Tages verzeihen könnt und vielleicht werdet ihr irgendwann verstehen, warum ich diesen Weg gewählt habe. Was soll ich sagen...wir alle müssen unseren Weg gehen und das Ende ist ein Teil des Weges. Es kommt wohl immer nur dann...wenn wir es am wenigsten erwarten. Aber trotz allem...wünsche ich mir, dass ihr weitermacht. Bleibt so wie ihr seid, seid füreinander da und lebt euer Leben. Kostet jeden Moment aus, denn...es kann schneller vorbei sein, als ihr denkt. Ihr seid die besten Freunde, die man sich wünschen kann und für mich...seid ihr so viel mehr als das...ihr seid meine Familie. Und ihr alle...habt mir die beste Zeit meines Lebens geschenkt. Und deshalb weiß ich auchdass ihr es wert seid. Jeder Einzelne von euch! Jede Entscheidung bringt Konsequenzen mit sich, das war schon immer so. Aber auch, wenn meine Entscheidung kein gutes Ende für mich bedeuten wird...so habe ich doch die Richtige getroffen. Denn sie bietet euch eine Chance! Eine Chance, das Leben führen zu können, welches ihr euch wünscht. Ergreift sie und gestaltet euer Leben nach euren Vorstellungen. Denn wir wissen nie...wie viele Chancen uns bleiben. Und was mich angeht...behaltet mich einfach so in Erinnerung, wie ich war. Ich werde immer bei euch sein und ich bin mir sicher...eines Tages...werden wir uns wiedersehen. Auch, wenn es auf eine Art und zu einem Zeitpunkt passieren wird...wie wir es wohl am wenigsten erwarten. Ich bin dankbar dafür, dass ich Teil dieser Familie sein durfte und ich liebe euch...für jetzt und für immer. Machts gut...221b Baker Street!
Der Bildschirm wurde schwarz und es herrschte Schweigen im Raum. Niemand sagte etwas und bis auf das Schluchzen von Mrs. Hudson war kein Ton zu hören. Sherlock starrte den Bildschirm an und war nicht fähig, auch nur irgendeine Reaktion zu zeigen.
Es war ein Abschiedsvideo gewesen, denn Evelyn hatte gewusst, was passieren würde. Sie hatte ihnen eine Antwort hinterlassen, die alles erklären sollte, aber besser machte es die Sache dadurch keineswegs.
Im Gegenteil! Sherlock spürte, wie sich alles in ihm zusammenzog und immer wieder sah er Evelyn vor sich. Es kam ihm fast so vor, als wäre sie gar nicht weg und würde jeden Moment zur Tür reinkommen und ihn mit ihren frechen Sprüchen begrüßen oder mit ihren Witzen aufziehen. Und doch war es nichts weiter, als eine Erinnerung und das war alles, was ihnen blieb: Erinnerungen!
,,Sie muss von Anfang an gewusst haben, was passiert.", brachte Alicia niedergeschlagen hervor und auch John war mitgenommen.
,,Sie hat uns alle gerettet...indem sie für uns gestorben ist."
Dieser Moment erinnerte Sherlock an jenen Tag, wo er Moriarty auf dem Dach gegenüber gestanden hatte. Und auch er hatte alles getan, um seine Freunde zu beschützen...genau wie Evelyn. Nur mit dem Unterschied, dass sie wirklich gestorben war.
Ein weiteres Mal fiel unten die Tür ins Schloss und ehe Sherlock sich versah, stand mit einem Mal sein Bruder im Raum. Er konnte den Blick von Mycroft deutlich auf sich spüren, würdigte ihn selbst aber keines Blickes. Mrs. Hudson schien die Anwesenheit von Mycroft zu beunruhigen, denn sie klang verunsichert und schob sofort ein Argument vor, um der unangenehmen Situation zu entkommen.
,,Ich...werde uns mal Tee machen gehen."
Sofort verschwand Mrs. Hudson Richtung Treppenhaus und Mycroft wirkte sichtlich angespannt. Alles an ihm zeigte Sherlock, dass er von Schuldgefühlen geplagt war und er versuchte gar nicht erst, diese seinem Bruder zu nehmen. Mycroft hatte Evelyn erschossen. Ob er es nun auf ihren Wunsch hin getan hatte oder nichter würde damit leben müssen. Das mussten sie schließlich alle.
,,Mycroft, was tun Sie hier?", fragte John irritiert und Alicia schien die Anwesenheit von Mycroft ebenfalls mit Argwohn zu betrachten.
,,Falls Sie hier sind, um uns die vergangenen Ereignisse noch einmal vor Augen zu führen...das ist nicht nötig. Wir sind schon genug bedient."
,,Das hatte ich nicht vor. Eigentlich bin ich hier, um nach Sherlock zu sehen.", erwiderte Mycroft und starrte Sherlock nun regelrecht nieder. ,,Wieso gehst du nicht ans Handy? Ich habe den ganzen Tag versucht, dich zu erreichen."
,,Ist mir nicht entgangen.", gab Sherlock kühl zurück und nun wirkte Mycroft ziemlich fassungslos.
,,Du ignorierst mich also immer noch. Was muss ich denn noch tun, um deutlich zu machen, dass es mir leid tut?"
,,Vielleicht nicht dauernd hier aufkreuzen.", sagte Sherlock und zog den Stick aus dem Laptop, ehe er aufstand, ihn Mycroft in die Hand drückte und sich dann wieder von ihm abwandte. ,,Eine Botschaft von Evelyn. Könnte nützlich sein, um der Polizei deine Unschuld auch beweissicher klarzumachen. Evelyn spricht dich darin von jeglichen Sünden frei."
Sherlock bemühte sich nicht, den warnenden Unterton in seiner Stimme zu verbergen, denn die Anwesenheit von Mycroft machte die ganze Angelegenheit nur noch schlimmer. Immer wieder hatte er die Szene vor Augen, wie sein Bruder Evelyn niederschoss und ihr Leben damit beendete.
,,Wo habt ihr das denn her?", wollte Mycroft wissen und Sherlock schwieg, weshalb John für ihn antwortete.
,,Sie hat es für uns hinterlassen. Mrs. Hudson hat uns den Umschlag gegeben. Evelyn hat ihn wohl abgegeben, bevor sie sich mit dir getroffen hat."
Erneut lag eine erdrückende Anspannung in der Luft und jeder konnte sie wahrnehmen. Sherlock deutlicher als alle anderen und erneut fiel sein Blick auf das Bild an der Wand, ehe die Stille wieder von Mycroft durchbrochen wurde.
,,Es tut mir wirklich leid, was passiert ist. Sag mir, was ich tun kann, Sherlock. Sag mir, was ich tun kann, um das zu beweisen.", brachte Mycroft hervor und Sherlock drehte sich zu ihm um, ehe er ihn ausdruckslos ansah.
,,Du kannst gehen!"
,,Wie bitte?", entgegnete Mycroft irritiert, aber Sherlock zeigte ihm nach wie vor keinerlei Reaktion.
,,Geh, Mycroft! Geh und komm nicht wieder."
Sherlock sah aus dem Augenwinkel heraus, wie John und Alicia einen beunruhigenden Blick tauschten, aber seine Konzentration war auf seinen Bruder gerichtet, dem nun die Fassung aus dem Gesicht entgleiste. Mycroft war sichtlich erschüttert, aber das kümmerte Sherlock nicht. Und er hielt seinen Bruder auch nicht auf, als sich dieser wortlos abwandte und die Wohnung verließ.
Niemand sagte etwas und Sherlock verharrte einen Moment in seiner Position, als er bemerkte, wie John nun noch einmal selbst einen Blick in den Umschlag warf und etwas anderes noch herauszog.
,,Sherlock...sieh mal."
Sherlock kam seiner Aufforderung nach und John legte ihm etwas in die rechte Hand. Als Sherlock seine Hand öffnete, erkannte er das Armband, welches er Evelyn einst zum Geburtstag geschenkt hatte. Sie hatte anscheinend gewollt, dass er es zurückbekam und er schloss seine Hand wieder um das Schmuckstück.
Dies war wohl alles, was ihm noch von Evelyn geblieben war. Das Armband und die Erinnerungen. Erinnerungen, die er ohne jeden Zweifel auf ewig in seinem Gedächtnispalast verwahren würde.
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