~ Achtundsechzig ~
„Sag mir doch endlich, was du von dem Song hältst!", sagte Niall Aleyna zum dritten Mal, nachdem sie das Plattenstudio verlassen hatten.
Das erste Mal hatte er sie darauf angesprochen, als sie die Ampel überquert hatten. Das zweite Mal, als sie in die Straße, in der seine Wohnung lag, eingebogen waren. Und nun das dritte Mal, als er dabei war die Wohnungstür zu öffnen.
„Das habe ich dir doch schon gesagt", erinnerte sie ihn bestimmt und ließ sich auf das Sofa fallen.
„Ja, das war die nette heuchlerische Variante, jetzt will ich die Ehrliche", rief Niall ihr hinterher und ließ die Tür ins Schloss fallen, während er den Schlüssel auf die Anrichte schmiss.
„Ach? Du willst also?", entgegnete sie ihm spöttisch, während sie ihre Chucks abstreifte.
„Ja. Ich will."
„Ich möchte auch vieles." Sie warf einen Blick auf Nialls Stereoanlage.
„Zum Beispiel, mal wieder einen Gute - Laune - Maroon 5 Song hören, aber das darf ich auch nicht."
„Das steht nicht zur Diskussion", antwortete Niall ihr streng. „Keine nervigen Maroon 5 Songs in meiner Wohnung."
„Na gut", erwiderte Ali scheinbar gelangweilt und spielte mit dem losen Faden ihres T - Shirts oder eher seines T - Shirts.
Dann hob sie kurz ihren Blick und Niall sah etwas wie Entschlossenheit in ihren Augen aufblitzen.
„Noch nicht einmal im Tauschgeschäft zu meiner Meinung? Ein Maroon 5 Song gegen ein Statement von mir zu deinem Song."
Als sie die Worte „deinem Song" aussprach, vertiefte sich ihr Lächeln, aber so einfach würde sie ihn nicht rumkriegen.
„Ausgeschlossen, auf dieses Geschäft gehe ich nicht ein", entgegnete Niall ihr unnachgiebig und machte sich auf den Weg zu seiner Anlage, um sie anzuschalten.
Seit Aleyna bei ihm untergekommen war, hörten sie nur noch genau einen Song: Little Less Sixteen Candles von Fall Out Boy.
Der Song, an dem Ali sich die Nase an einer Fensterscheibe plattgedrückt hatte, nur um seine Musik hören zu können. Gott, er liebte diesen Song.
„Nicht schon wieder, Niall", sagte sie und sah ihn anklagend an. „Wie oft willst du mich eigentlich noch bloßstellen? Du weißt, dass ich verrückt nach der Musik von No Name bin und mich deshalb zum Affen mache. Was willst du denn bitte noch?"
„Du bist also verrückt nach unserer Musik....so so.....schön zu wissen, Leyna", antwortete er ihr süffisant lächelnd, während er sich beschützend vor die Anlage stellte.
Ali war ihm ein Tick zu nah dran.
Man konnte ja nie wissen, wozu dieses verrückte Mädchen fähig war.
„Ja, und das weißt du auch", sagte sie, stand vom Sofa auf und kam langsam auf ihn zu. Erst als ihre Fußspitzen sich berührten blieb sie stehen.
„Der Song war wirklich gut", flüsterte sie und sah ihn unergründlich an.
Okay, jetzt reiß dich zusammen Niall, wies er sich selbst an. Du kannst nicht immer über sie herfallen, nur weil sie dich mit ihren bösen, aber wirklich überzeugenden grünen Augen ansieht. Du bist ein Kerl, du hast noch so etwas wie Würde. Und wo war diese ominöse Würde in den letzten Tagen geblieben, fragte ihn eine gemeine Stimme in seinem Inneren, während Niall zurückdachte an die letzten Momente, in denen er stark bleiben wollte.
Nummer 1: Ali am Morgen nachdem sie bei ihm geschlafen hatte...er hatte sie geküsst.
Nummer 2: Im Probenraum, wo Niall sich geschworen hat, dass sie den letzten Schritt machen sollte...er hatte den letzten Schritt gemacht.
Situation Nummer 3 war unentschieden ausgegangen, denn sie hatten Beide Songs füreinander gesungen...obwohl, Niall sogar einen Song mehr, als Aleyna und einen Eigenen. Okay, die Runde hatte er auch verloren.
Und Situation Nummer 4, diese hier...tja, er war gerade wieder dabei zu verlieren.
„Und das sage ich nicht nur, weil du über meine weichen Lippen gesungen hast", fuhr Aleyna anziehend fort. Sie war ein Monster, wirklich.
Ein verlockendes, aber wirklich böses Monster. Und natürlich musste er sofort auf ihre Lippen starren...seinetwegen auch ihre weichen Lippen - er wusste auch nicht, was da in ihn gefahren war.
„Na gut, ein Kompromiss muss her", brachte Niall schließlich gerade so heraus. „Wir schalten das Radio an."
Ali nickte belustigt, ließ ihn aber gewähren.
Als er sich von ihr wegdrehte, um die Anlage zu bedienen, fragte er sich die ganze Zeit über, wie viele ihrer Gesichtsausdrücke er verpassen würde.
Sah sie ihn gerade spöttisch mit einer erhobenen Augenbraue an, weil sie sich über seine mangelnde Selbstbeherrschung lustig machte?
Oder sah sie ihn genauso anziehend an, wie er sie, weil sie eigentlich genau das Gleiche wie er wollte?
Egal, er würde es sowieso nicht mitbekommen.
Als er den Knopf für das Radio endlich gefunden hatte, musste er kurz grinsend die Augen schließen, als er den Song erkannte: Too Close, Alex Clare.
Na gut... das änderte natürlich alles.
Blitzschnell drehte er sich um und zog sie an sich, während er ihr bereits seine Lippen aufdrängte.
Ali, die von seinem plötzlichen Anfall, der für sie mittlerweile eigentlich zur Normalität geworden sein sollte, überrascht nach Luft schnappen musste, ließ ihn gewähren, als er sie durch den Raum dirigierte.
Ohne natürlich seine Lippen von ihren zu lösen.
Als sie an seiner Zimmertür angekommen waren, drückte Niall sie gegen den Türrahmen, um sie noch näher bei sich zu spüren und strich ihr sanft über die Wangen, bevor er seine Erkundungstour weiterführte.
Nun war er endlich dran und Aleyna ließ ihn ausnahmsweise einmal tun und lassen, was er wollte.
Sehr ungewöhnlich.
Er strich ein paar Mal mit seinen Fingerkuppen über ihr Schlüsselbein, dann weiter über ihre Schultern, bis zu ihren Hüften, die er umfasste, um sie noch näher an sich zu ziehen. Er ließ seine, von der kühlen Abendluft, kalt gewordenen Händen unter ihr T - Shirt wandern.
Sofort bekam Aleyna eine Gänsehaut und drückte ihre Lippen noch fester auf seiner.
„Weißt du wie der Song heißt?", fragte Niall sie zwischen zwei Küssen, die ihn beinahe um den Verstand brachten.
Deshalb konnte er Ali auch nur dafür bewundern, dass sie es noch schaffte ihre Augen zu verdrehen.
Natürlich nicht, sagte ihr spöttischer Blick.
„Sunny Afternoon with Ali", murmelte Niall und küsste sie auf ihren Hals.
„Sehr einfallsreich", flüsterte Aleyna ironisch, doch Niall wusste, dass es sie nicht kalt ließ, dass er für sie einen Song geschrieben hatte.
Das war einfach Ali. Stark und unabhängig, immer. Und er hatte auch nichts anderes von ihr erwartet oder gewollt.
Sie wollte ein Supergirl sein. Das war sie längst.
„Wir werden uns wohl nie im gleichen Rhythmus bewegen, oder?", fragte Niall sie lächelnd.
Ali lachte ebenfalls. „Nein", entgegnete sie kopfschüttelnd. „Aber wenigstens beim Küssen herrscht doch friedselige Harmonie zwischen uns, das reicht doch, oder?" Sie sah ihn keck an.
„Dann sollten wir unsere Zeit lieber nicht mit etwas Anderen verschwenden", murmelte Niall in ihre Haare hinein.
Aleyna nickte zustimmend.
Doch bevor sie sich wieder in „friedseliger Harmonie" üben konnten, riss sie ein viel zu lautes Klingeln der Haustür aus ihrer Zweisamkeit.
„Ich mach das", murrte Niall Aleyna zu, die nur lächelnd nickte. „Wenn das Louis ist...ich bring ihn um...denkt er wirklich, ich feiere diesen Song zusammen mit ihm?"
Niall schüttelte nur fassungslos den Kopf. Dann öffnete er mit einem Grinsen im Gesicht die Tür.
„Louis, wirklich, hau ab", sagte er, während er Ali noch einen kurzen Blick zu warf.
Dann allerdings blieb ihm sein Lachen im Hals stecken, als er die Person vor der Tür erkannte.
„Kann ich bitte mit Aleyna sprechen?"
„Niall, ist alles in Ordnung?", fragte Aleyna, als ein paar Sekunden lang Stille geherrscht hatte.
Die Augenbrauen etwas verwirrt zusammengekniffen, machte sie sich auf den Weg zur Tür, an der Niall, wie angewachsen verharrte.
„Wer ist das?", fragte sie noch, dann war sie neben ihm angekommen.
Niall öffnete die Tür noch ein Stück, damit auch sie einen Blick auf den späten Besucher werfen konnte. Es war Scott. Ihr Onkel Scott.
„Onkel...Scott... was machst du hier...?", stammelte Ali ungläubig und musterte ihren Onkel einmal von oben bis unten, nur um festzustellen, dass er es tatsächlich war.
Der gleiche freundlich - besorgte Blick im Gesicht, der leichte Bartansatz, die verwachsene Jeans und das Holzfällerhemd. Ja er war es, wirklich.
„Ich lasse euch dann mal alleine", erwiderte Niall, der die Situation ganz richtig eingeordnet hatte und streifte im Vorübergehen kurz ihre Hand, bevor er sich in sein Zimmer verzog.
Es war keine auffordernde Geste, ihm zu folgen, er wollte sie nur bestärken.
„Woher weißt du..., dass ich hier bin?", fragte sie, während sie immer noch um Fassung rang.
„Das ist nicht so wichtig, Aleyna", erwiderte ihr Onkel ruhig, aber sie merkte, dass ihn etwas bedrückte.
„Natürlich ist das wichtig", entgegnete sie ihm resolut.
Der Umgang mit Niall färbte langsam auf sie ab. Nun benutzte sie auch noch den gleichen Wortlaut wie er. Das Ende war nah.
"Nein, das ist es nicht", murmelte er und sah sie aus seinen traurigen verwachsenen blauen Augen an.
„Viel wichtiger ist, wie es deiner Mutter geht."
„Wieso ist etwas passiert?", fragte Ali ihn alarmiert und versuchte aus seinem Mienenspiel das zu lesen, was er ihr nicht sagen wollte.
„Ja", sagte Scott ernst, während Ali sich schon die schlimmsten Szenarien ausmalte. „Ihre Tochter ist verschwunden."
Einen kurzen Augenblick gestattete sie sich Luft zu holen. Dann sah sie ihren Onkel fassungslos an.
„Ich bin verschwunden?", fragte sie wütend. „Ich musste gehen."
„Wieso?", schoss er zurück und sah sie ernst an.
Wenn er sie so anblickte, wusste sie nicht, was sie tun sollte. Es fiel schwer wütend zu bleiben, in Anbetracht der Tatsache, dass er so mitgenommen aussah.
„Weil sie nicht begreifen will, dass sie nur vor sich hinvegetiert anstatt zu leben...und weil...weil sie nicht akzeptieren kann, was ich tue", stammelte sie vor sich hin.
Bevor sie noch etwas Dümmeres sagen konnte, biss sie sich auf die Zunge.
Was redete sie da nur?
Wieso musste sie ihm das überhaupt erklären?
Wann war denn endlich mal alles gesagt?
„Aleyna, wenn du glaubst, dass sie früher vor sich hinvegetiert wäre, dann sieh sie dir bitte jetzt einmal an."
Er stoppte, um ihr einen kurzen Blick zu zu werfen.
„Sie steht nicht mehr auf, geht nicht zur Arbeit, kümmert sich nicht mehr um sich selbst. Das war noch nicht so, als du noch da warst."
Der Vorwurf war unüberhörbar, aber Aleyna wusste, dass es Onkel Scott auch noch jetzt nur gut meinte.
Aber auch wenn die Dinge, die er ihr erzählte, sie ängstigten, sie hatte immer gewusst, dass es so ablaufen würde.
Sie war der einzige Grund für ihre Mutter gewesen, um weiterzuleben, um ihre Lüge von ihrem scheinbar normalen Leben zu erhalten.
Und nun, wo sie weg war, hatte ihre Mutter keinen Grund mehr, um sich nicht im Selbstmitleid zu suhlen.
Es war alles so, wie ihre Mutter es immer wollte.
Nun konnte sie trauern...bis an ihr Lebensende...so hart es auch klingen mochte, so war es.
Sie wollte nicht leben. Nicht mit einer einzigen Faser ihres Körpers.
„Aleyna, verstehst du denn nicht?", fuhr ihr Onkel sie an und hielt sie an der Schulter fest, als sie nicht antwortete. „Das wird sie umbringen...ich weiß...ich weiß einfach nicht, was ich noch tun soll, damit..."
Seine Stimme brach und er senkte seinen Blick. Auch Aleyna hatte einen Kloß im Hals. So aufgebracht und betrübt zugleich hatte sie ihren Onkel noch nie gesehen.
Sie wollte ihm sagen, dass es sie nicht kalt ließ, was er ihr erzählte, im Gegenteil, aber es fiel ihr schwer zu reden, ohne in Tränen auszubrechen.
Noch einmal biss sie sich auf die Zunge, um wieder um Fassung zu ringen.
Sie würde das hier durchstehen, so wie alles andere auch. Sie würde es schaffen. Sie war das Mädchen, the girl. Sie würde es schaffen.
„Und was soll ich tun?", fuhr sie ihn bitterer als geplant an. „Wieder nach Hause kommen, genau das tun, was sie sagt und mein Leben aufgeben? Ich glaube nicht, dass sie mich jemals wieder aufnehmen würde."
„Wäre es denn wirklich so schlimm für dich, das alles hier aufzugeben?", sagte er und machte eine schwammige Geste, der in den Raum hinein zu Niall zeigte.
„Ich meine...", begann er hilflos, als ob er sich nicht sicher war, wie weit er gehen konnte, „...Sie ist deine Mutter. Und sie braucht dich jetzt."
Und wo war sie, als Aleyna sie gebraucht hatte, möchte sie ihn wie ein hirnloser Teenager an den Kopf werfen.
Wo war sie, als sie sich nach Zuneigung und geborgenen Berührungen gesehnt hatte? Weg.
Und bei wem musste sie sich diese Zuneigung holen?
Bei Joshua, ihrem Ex - Freund, der sie einfach nur ausgenutzt hatte.
Oder noch nicht einmal das: Er hatte sie einfach nicht mehr benötigt.
Wo war sie, an dem ersten Todestag ihres Vaters, den sie alleine in ihrem Zimmer hatte verbringen müssen?
Weg, auf Geschäftsreise.
Und wo war sie am zweiten Todestag ihres Vaters, der einer der größten Hürden in ihrem Leben gewesen war, weil sie sich zu tief in ihre Lügengeschichten verstrickt hatte?
Weg.
Und nun brauchte sie Aleyna, wo sie doch gerade eben glücklich war.
„Aleyna, ist das hier wirklich das, was du willst?", redete Scott weiter auf sie ein. Er sah ihre Widerstandmauer bröckeln und nutzte ihre kurze Schwäche geschickt aus.
„Dir stehen in der Musikschule alle Türen öffnen, wieso also das hier?"
Erneut schwieg sie, doch was sie am liebsten gesagt hätte wäre: Weil es mich glücklicher macht, als jede einzelne Musikstunde, die ich gehabt hatte. Weil ich mich noch nie so sehr am Leben gefühlt habe.
Aber stattdessen sagte sie gar nichts.
Und er nahm es sich zur Aufgabe, sie noch weiter in Grund und Boden zu reden.
„Ich hoffe, du weißt, wie wichtig du mir bist", murmelte Scott plötzlich bedrückt und legte seine zweite Hand auf ihre Schulter und beugte sich zu ihr herab, um ihr direkt in die Augen sehen zu können.
„Und ich verstehe auch, dass du Wünsche hast. Aber ich kann nicht zulassen, dass das mit deiner Mutter so weitergeht. Sie ist meine Schwester und ich werde nicht weiter dabei zu sehen, wie sie sich zu Grund und Boden richtet."
Und da war auch schon der zweite Mensch, der sie nicht so lieben konnte, wie sie war.
Wie für ihre Mutter, war Aleyna nur solange gut genug für Scott, solange sie das tat, was er wollte.
Es würde sich wohl nie etwas ändern. Wieso immer sie, fragte sie sich, während sie die Tränen zurückhielt.
„Willst du mich zwingen zurückzugehen?", fragte Ali ihn direkt. Es brachte nichts, es totzuschweigen, wenn sie doch beide wusste, worum es ging.
„Nein, das will und werde ich nicht tun. Aber du bist immer noch minderjährig. Denk darüber nach, Aleyna", sagte er und sah sie lange und bedeutsam an.
Sie hatte verstanden: wenn sie nicht von allein nach Hause ging, dann würde sie jemand anders zurückbringen.
„Tut mir leid, Aleyna", murmelte er noch und verabschiedete sich kurz von ihr.
Sie wandte sich erst wieder Niall zu, als sie ihren Onkel nicht mehr im Gang sehen konnte.
Niall hatte es sich auf dem Sofa bequem gemacht und musterte sie besorgt, als ob er gleich aufspringen würde, falls sie umfallen würde. Aber den Gefallen würde sie sich selbst nicht tun.
Seufzend schloss sie die Tür und kam mit Tränen in den Augenwinkeln auf ihn zu.
„Ich glaube jetzt ist es soweit", murmelte sie noch scheinbar lächelnd bevor sie in Tränen ausbrach.
Niall hielt sie einfach nur im Arm und ließ sie weinen. Weder stellte er ihr eine Frage, noch versuchte er sie durch banale Aufmunterungsversuche zu trösten.
Auch wenn er sich bereits gedachte hatte, dass sie zusammenbrechen würde, hatte er doch erst etwas zaghaft seinen Arm um sie geschlungen und sie aufs Sofa gezogen, wo sie ihr Gesicht an seiner Brust vergraben hatte.
Manchmal strich er ihr behutsam über den Rücken, die Wirbelsäule hinab und dann wieder rauf.
Es war beruhigend seine gleichmäßigen Berührungen zu spüren, sie waren etwas Beständiges, etwas an das sich Aleyna halten konnte.
Immer wieder überkam Aleyna der ein oder andere Schluchzer, den Niall wortlos über sich ergehen ließ.
Sie hatten ihre Beine ineinander verschlungen und lagen auf dem Sofa. Nachdem Ali sich darauf niedergelassen hatte, hatte Niall das Radio ohne zu zögern abgeschaltet.
Zu diesem Augenblick brauchten sie ausnahmsweise einmal keinen Soundtrack mehr.
Die Situation war auch so greifbar genug. Aber es würde sicherlich genug Songs geben, um diese Szene noch ergriffener, noch niederschmetternder, noch herzzerreißender zu machen.
Aber wenigstens einmal wollte sie es nur beim Weinen belassen und sich nicht noch mit einem traurigen Songs selbst schelten.
Und auch wenn sie sich schämte Schwäche gezeigt zu haben, fühlte sie sich in diesem Moment nicht ganz allein.
Sie war nicht allein mit sich selbst und ihren Tränen. Sie wusste nicht, wie lange sie schon nicht mehr geweint hatte. Es fühlte sich an wie eine Ewigkeit. Nur so ließen sich zumindest die Wasserfälle erklären, die unentwegt ihren Augen entrannen. Fast so, als ob sie alles aufholen wollten, was sie in den letzten Jahren für sich behalten mussten.
Ali hatte nicht geweint, als sie vom Tod ihres Vaters erfahren hatte. Sie hatte sich auch zusammengerissen, als sie erfuhr, dass es womöglich Selbstmord gewesen war. Und als Joshua sie versetzt hatte, war das Einzige wonach sie sich gesehnt hatte, warme Arme um ihren Körper gewesen.
Wenn sie nun Nialls Arme um sich spürte, fragte sie sich eigentlich, warum sie es überhaupt vermisst hatte.
Nialls Umarmungen waren stärker und ernster, als jede andere zuvor.
Wenn er sie hielt, hatte sie nicht das Gefühl, dass er es nur tun würde, um ihr einen Gefallen zu tun oder sie ruhig zu stellen. Nein. Er hielt sie, weil er sie halten wollte.
Und Ali spürte, dass jede seiner Berührungen ihr galten und niemand Anderen. Sie hätte nicht gedacht, dass er dazu fähig war, aber er war es.
Er, und so wie es aussah niemand anders.
Manchmal durchfuhr sie sogar der Gedanke, dass es ihm egal war, ob sie singen konnte oder nicht.
Er würde sie trotzdem genauso halten. Ein tröstlicher Gedanke.
Irgendwann, es war sicher eine ganze Weile vergangen, richtete sie sich schließlich unangenehm berührt auf und rieb sich über das nasse Gesicht, um es zu trocknen.
Auch Niall richtete sich räuspernd auf und während sie dabei war, sich zu rekonstruieren strich er ihr beruhigend über die Schultern.
Sie waren sich so nahe, dass sie seinen Atme auf ihrem Nacken spüren konnte. Nachdem sie einigermaßen trocken im Gesicht war, drehte Aleyna sich schließlich zu ihm um und war auf alles gefasst.
Auf eine ebenfalls unangenehm berührte Miene, einen belustigten Blick, eine hilfesuchende Geste, aber nichts davon traf ein.
Stattdessen strich er ihr nur beruhigend über das Haar und suchte in ihren Augen nach dem, was sie ihm nicht sagen konnte.
„Geht's wieder?", murmelte Niall und sah ihr ernst in die Augen.
„Ich weiß nicht", entgegnete sie ihm und versuchte ein kleines Lächeln. Es funktionierte. Aber ihre Stimme brach immer noch. „Ich denke schon. Es ist okay."
„And then she'd say: It's okay I got lost on the way but I'm a supergirl. And supergirls don't cry", sang Niall leise und zog sie an sich, sodass sie auf seiner Brust zum Liegen kam.
Reamonn, Supergirl.
Ali lachte leise, hob dann den Kopf um Niall ins Gesicht sehen zu können und sagte: „Supergirls weinen nicht."
Niall ging gar nicht erst auf ihr Argument ein, sondern sang einfach leise weiter.
„And then she'd say: It's alright I got home late last night but I'm a supergirl. And supergirls just fly"
Er legte seinen Kopf auf ihre Schulter und drehte sich dann zu ihr um, um ihr leise ins Ohr zu flüstern: „Weißt du, was Helden so unglaublich interessant macht?"
Auch wenn die Frage rein rhetorisch gestellt war, schüttelte Aleyna den Kopf. Ihre Superkräfte? Ihre nie verheulten Augen?
„Dass sie eine Schwäche haben. Es ist in Ordnung nicht immer alles zu schaffen."
Ali nickte, aber sie spürte bereits wie eine Träne ihre Wange hinunterlief, die sie vor Niall nicht verstecken konnte. Zärtlich trocknete er ihre Wange.
"You can see in her eyes that no one is her chain. She's my girl, my supergirl"
„Mir wäre jetzt echt nach einem anderen Song", sagte Aleyna lachend und strich sich die Tränen aus den Augenwinkeln.
Niall sah ihr besorgt dabei zu und musterte sie ein paar Minuten lang. Beinahe wurde ihr sein intensiver Blick unangenehm, da drehte er sich zur Anlage um und wühlte in ein paar CDs herum, bevor er eine ins CD - Fach schob.
„Du machst mich echt fertig", sagte er noch genervt, bevor ein neuer Song erklang.
She Will Be Loved. Von Maroon 5.
Sie grinste ihn kurz an und ließ sich dann in seine Arme fallen, um der tröstlichen Melodie zu lauschen. Sie hörte tatsächlich in Nialls Wohnung einen Maroon 5 Song.
„Du hast ein Maroon 5 Album?", fragte sie Niall ungläubig, während Adam Levine ihr versicherte, dass sie geliebt wird. Es war auch kaum zu glauben. Fast wie in einem Paralleluniversum.
„Ich sage ja nicht, dass alles Mist ist, was sie produzieren. Die alten Sachen waren gut. Trotzdem bleibt das unter uns, okay?", fragte er sie lachend, als ob er mit ihr ein Geheimnis teilen würde, wie Kinder es immer taten, und glücklich darüber, sie aufheitern zu können.
Während Ali die Augen schloss und einfach Nialls Wärme genoss, hörte sie überrascht, wie Niall sich tatsächlich ebenfalls entspannte und seine Finger im Takt auf ihren Beinen bewegte.
„I don't mind spendin' everyday out on your corner in the pourin' rain. Look for the girl with the broken smile, ask her if she wants to stay awhile.She will be loved.", begann er mit zu singen.
Manchmal war es mit einem guten Song in der richtigen Sekunde, wie mit der Faust aufs Auge. Er passte einfach.
Und wenn ein solches Phänomen tatsächlich passierte, war immer etwas Schicksalhaftes damit verbunden.
Es war nicht einfach nur ein guter Song, zur richtigen Sekunde. Irgendwie entschied sich dabei auch immer ein Schicksal. Und in diesem Fall war es ihr Schicksal.
„It's not always rainbows and butterflies. It's compromise that moves us along. My heart is full, and my door's always open. You can come anytime you want", sang Niall, bevor er den Song etwas leiser stellte.
„Und genauso meine ich es auch", bestärkte er die Worte, die er gesungen hatte.
Ali nickte.
„Danke", flüsterte sie, doch Niall winkte ab.
„Was wirst du jetzt tun?", kam er wieder zurück aufs Wesentliche.
Er hatte es also gehört. Aleyna schloss ertappt die Augen. Niall ließ die Dinge nie besonders lange ungeklärt. Er würde sie nicht vor der Wahrheit, der Entscheidung, der sie sich wohl oder übel stellen musste, beschützen.
Aber er ließ sie wissen, dass es immer noch einen Ort gab, an den sie zurück konnte. Hier her, zu ihm.
„Keine Ahnung, ich weiß es wirklich nicht."
„Ich will mich nicht einmischen", sagte Niall und setzte sich auf, um ihr ins Gesicht zu sehen. Automatisch richtete auch sie sich auf und sah ihn aufmerksam an.
„Ich kenne deine Mutter nicht und ich weiß auch nicht, wie es ist mit ihr zu leben. Aber als...als wir unseren kleine Meinungsverschiedenheit hatten..."
„Meinungsverschiedenheit?", unterbrach Aleyna ihn ungläubig und brach in Gelächter aus. „Das war ein handfester Streit. Und das alles nur, weil ich dir nichts von meinem toten Vater erzählt habe" Sie sah ihn anklagend an.
„Nein, weil du mich belogen hast...", widersprach ihr Niall hart, aber das nachsichtige Lächeln im Gesicht ließ sie spüren, dass er es nicht ernst meinte.
„ Wie auch immer. Ich bin auf jeden Fall zu meinen Eltern gefahren und ich will nicht sagen, dass es mich keine Überwindung gekostet hatte zu den Leuten zurückzufahren, die mich so für meinen Berufswunsch gelyncht haben, aber nachdem ich mit meiner Mutter gesprochen hatte da... da habe ich mich besser gefühlt. Sie hat eingesehen, dass es nicht fair war mich so zu behandeln... dass sie mir Unrecht getan hatte und das war alles, was ich jemals gewollt habe. Und jetzt frage ich mich natürlich, warum ich es nicht schon längst getan habe, denn seit dem geht es mir besser. Ich bin zufriedener mit mir selbst."
Aleyna sah ihn mit geweiteten Augen an. Er hatte tatsächlich seine Eltern besucht? Unglaublich. Bevor sie ihn allerdings beglückwünschen konnte, fuhr er bereits unbeirrt fort.
„Ich weiß, dass es bei euch mehr zu klären gibt, als einen kleinen Streit. Und ich werde dir sicher nicht reinreden, du weißt schon selbst am besten, was gut für dich. Deine Mutter hat dich im Stich gelassen, ich verstehe, dass du nicht mehr so einfach zurückkannst."
Aber im Endeffekt war es immer noch ihre Mutter. Er hatte recht. Natürlich hatte er das.
Aber trotzdem konnte sie nicht einfach über ihren Schatten springen. Sie hatte sich schon lange nicht mehr so gedemütigt gefühlt, wie vor ein paar Tagen von ihrer Mutter.
Das konnte sie nicht einfach so vergessen.
Trotzdem nickte sie Niall zustimmend zu und zog ihn an seinem T -Shirt Kragen an sich um ihn zu küssen.
Einfach, um für eine kurze Weile so zu tun, als ob alles in Ordnung wäre und sie einfach den Abend miteinander verbringen würden.
Niall wehrte ihren Kuss nicht ab oder zwang sie dazu eine Entscheidung zu treffen.
Vielleicht war er aber auch einfach nur froh, dass sie nicht mehr weinte oder sich von ihrer Position des defensiven Küssens verabschiedet hatte.
Er hielt ihr Gesicht sanft in seinen Händen und strich mit seinen rauen Fingern über ihre Wangen, als ob sie aus Glass wären.
Als sie sich schließlich voneinander lösten, sah Aleyna ihn dankend an.
Doch er überging ihren kleinen Ausfall einfach und starrte sie weiterhin ernsthaft an, gespannt auf eine Antwort.
Eine Antwort, die die Einzige war, die sie geben konnte, die sie geben musste. Eine Antwort, bei der es nicht besonders viele Auswahlmöglichkeiten gegeben hatte.
„Ich werde wieder nach Hause gehen", brachte sie schließlich heraus.
Ali wusste nicht, mit welcher Reaktion von Niall sie gerechnet hatte, aber dass er einfach nur schwieg und ihr zu nickte, wäre ihr sicherlich nie in den Sinn gekommen.
„Aber erst morgen", fügte sie hinzu und lächelte ihn an, während sie ihm einen unsicheren Blick zu warf, der nach Bestätigung gierte.
Doch Niall zog sie einfach nur in seine Arme und sie legten sich wieder aufs Sofa.
Als ob...als ob das alles hier vollkommen normal war. Und es immer so zwischen ihnen laufen würde.
Dann schaltete er den Fernseher an und sie blickten beide auf den flimmernden Bildschirm.
Sogar ein wenig Normalität in dieser turbulenten Zeit kam ihr unheimlich banal und zugleich so angenehm vor...so normal. Niall, der seinen Blick die ganze Zeit über auf den Fernseher vor sich gerichtet und ihr über den Arm gestrichen hatte, sah sie nun kurz an.
„Ich wusste, dass du die richtige Entscheidung treffen würdest."
Ali lächelte. Jetzt war es an ihr zu schweigen.
Und dann verlief der Abend so weiter, als ob nichts passiert wäre, als ob Aleyna zu Hause nicht ihre gekränkte Mutter erwarten würde und ihr hoffender Onkel... als ob, sie einfach nur einen ganz normalen Abend gemeinsam verbringen würden, wie jedes andere Paar auch.
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Gerade jetzt zum Schluss hin geht mir die Story in Herz und Nieren.
Wie ist es bei euch?
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