(8/2) Erinnerungen
"Du liebe Güte! Sollst du barfuß am offenen Fenster herum stehen? Du bist ja unvernünftiger als der Bengel! Wann werdet ihr modernen Mädchen eigentlich erwachsen?"
"Ich ... ich wollte nur das Fenster schließen. Die Sonne ist weg. Es wird zu kalt."
"Dann mach es doch zu. Und dann ins Bett mit dir."
Myrna hatte ihr den versprochenen Tee und eine Wärmflasche mitgebracht. Sie stellte die Thermoskanne samt einem frischen Becher auf der Kommode ab und steckte das altmodische Ding mit dem geblümten Steppbezug unter die Bettdecke. Ihren stets aufmerksamen Falkenaugen entging nichts; die Rauchquarzperlen, die neben dem Handy lagen, schienen sie zu interessieren. "Was ist denn das? Shay hat doch hoffentlich nicht ...?"
Emma zog ihre Strickjacke aus. "Oh ... nein, das Armband ist mir gerissen. Zum Glück ist es im Zimmer passiert und nicht draußen irgendwo. Das Gummiband war abgenutzt."
Myrna verdrehte die Augen. "Das ist dieser ganze neumodische Kram. Sie nehmen mit Absicht schlechtes Gummi." Sie schnaufte verärgert. "Sie wollen, dass man sich drei Armbänder im Jahr kauft, statt eines alle zehn Jahre."
"Das Armband ist von meiner Tante. Sie hat es seit ihrer Jugend getragen. Es ist einige Jahrzehnte alt. Die Perlen wurden wahrscheinlich niemals neu aufgezogen."
"Na dann ... im Kabuff gibt's Handnähzeug. Da ist auch Gummi dabei. In dem Holzkästchen mit den Initialen ... auf dem Deckel." Sie sah zum Fenster hinüber. Ihr Blick hatte sich verfinstert wie der Himmel über den Baumwipfeln. Ihre Gedanken schienen Richtung Meer zu schweifen.
Schließlich seufzte sie, zog ihre Schürze zurecht und wandte sich wieder in den Raum.
Mit ernster Miene sah sie zu, wie Emma fröstelnd unter den Decken verschwand.
"Einin will wissen, was du aus der Apotheke brauchst. Sie fährt runter nach Dunfanaghy. Soll sie dir etwas mitbringen?"
"Ich ... könnte einen Nasenspray gebrauchen."
"Sonst nichts?"
"Der Tee hilft meinem Hals sehr gut. Er löst den Husten. Wenn ich den noch weiter bekommen könnte, das wäre ..."
Myrnas Blick verriet Triumph, ihr Gesicht hellte sich auf. "Kriegst du, Kindchen. In der Küche habe ich genug davon, um eine ganze Epidemie unter Kontrolle zu bringen. Es gibt nichts Besseres als die Mittel der Natur. Gut, dass du ihn trinkst. Das freut mich." Sie nickte. "Nasenspay, ich werd's ihr sagen. Ist das alles?"
Die Frage erreichte sie kaum. Dunfanaghy ... Die Erinnerung an das dunkle Ladencafé, in dem sie die Anisbonbons gekauft hatte, war in dem Moment über sie gekommen, als Myrna den Ort erwähnte. Wie eine Wolke hüllten die seltsamen Stimmungen und Bilder sie ein. Im Versuch, ihre Benommenheit loszuwerden, schüttelte sie den Kopf. "Nein, vielen Dank. Mehr brauche ich nicht."
Ein heftiges Kribbeln in der Nase reizte sie zum Niesen. "Taschentücher ...", ächzte sie, während sie es zurück zu halten versuchte, "Taschentücher wären gut." Sie angelte nach der Rolle mit dem Toilettenpapier, riss ein paar Blätter ab und schnaubte sich ausgiebig.
Als hätte sie ein Signal erhalten, kam Myrna in Bewegung. Mit ihren ausladenden Hüften umsegelte sie das Bett, ergriff den Papierkorb, der neben dem altmodischen Toilettentischchen stand, und stellte ihn an der Bettseite ab. "Hier, nimm den", erklärte sie pragmatisch. Sie strich ihre Haare aus dem Gesicht und bemühte sich vergeblich, die losen Strähnen in den Dutt zurück zu stopfen. " Und ... wenn der voll ist, ... Müllbeutel sind im Kabuff." Dann stand sie da, und Emma sah ihr an, wie sie überlegte. Irgendein Gedanke schien ihr abhanden gekommen zu sein. "Was wollte ich noch? Ach ja, bevor ich es vergesse: Der Kamin bleibt erstmal aus. Die kühle Luft ist besser für dich." Ihr Besuch schien beendet, sie wandte sich zur Tür. "Einin bringt dir deine Sachen hoch. Eine gute Stunde, dann wird sie wohl zurück sein."
Ihr war anzumerken, wie eilig sie es hatte. Bevor das "Dankeschön" sie erreichte, war sie bereits in der Dunkelheit des Flures verschwunden und die Tür hinter ihr zugefallen.
Sie rutschte tiefer unter die Decken; wo Myrna die Wärmflasche platziert hatte, fanden ihre Füße eine wohlig aufgeheizte Höhle. Still lag sie da und genoss die Wärme. Dieser Cillian ... er ging ihr nicht aus dem Kopf. Sie erinnerte sich, wie der Regen auf das Autodach getrommelt hatte. Die beschlagenen Scheiben ... die Scheibenwischer, die den Fluten kaum standhalten konnten. Wie nett er gewesen war, wie vertraut. Sie hätte mehr mit ihm reden sollen, sie war viel zu still gewesen. Wenn sie ihn sah oder an ihn dachte, hatte sie das eigenartige Gefühl, als würden sie einander von irgendwo her kennen. Aber was bedeutete das? Dachte man so etwas nicht bei vielen Begegnungen? Vielleicht ging es ihr mit ihm nur deshalb so, weil sie sich schon immer einen großen Bruder gewünscht hatte. War es also ... ein "Brudergefühl"? Auf welche Weise mochte sie ihn?
Um das sagen zu können, müsste sie ihn noch einmal treffen. Mindestens. Es hatte nicht gereicht, ihn vom Fenster aus zu sehen. Aber wahrscheinlich begegneten sie einander sowieso bald wieder. Wenn er täglich in dieser Gegend herum lief, vielleicht sogar hier irgendwo lebte, war es wohl kaum zu vermeiden. Oder positiv ausgedrückt: Sie durfte es sich wünschen.
Einin fuhr nach Dunfanaghy. Ungefähr eine Stunde würde sie brauchen, bis sie zurück war, hatte Myrna gesagt. Wahrscheinlich fuhr sie mit ihrem Fahrrad. Es lohnte also kaum, jetzt noch weiter zu schlafen. Sicher, mehr Schlaf würde sich immer lohnen, insbesondere jetzt, wo sie krank war. Und müde war sie auch. Aber sie mochte es nicht, wenn die Leute sich an ihrer Tür die Klinke in die Hand gaben, während sie schlief. Wenn sie nicht sah, wer ins Zimmer kam. Beim nächsten Mal wollte sie wach sein. Auch, weil sie nicht sicher war, ob Einin anklopfen würde.
Dass das Armband zerrissen war und die Perlen überall auf dem Boden verstreut gelegen hatten, war noch immer ein ungelöstes Rätsel. Myrna schien jedenfalls nichts davon zu wissen, sie hatte überrascht gewirkt. Ob sie es reparieren sollte, jetzt? Das wäre ein guter Zeitvertreib. Gummiband gab es im Kabuff, auch Einin hatte es ihr bereits gesagt. Bevor noch jemand ihr den Tipp gab oder die Perlen am Ende noch verloren gingen, wollte sie es lieber erledigen.
Sie lauschte. Jenseits ihrer Zimmertür hörte sie Myrna, die wohl dem Mädchen Instruktionen gab; von unten drangen die Stimmen der beiden zu ihr hinauf. Dann ließ der Klang der zuschlagenden Haustür die Halle erbeben. Einin war gegangen. Darauf hatte sie gewartet. Sie stand auf und schlüpfte in ihre dicken Socken und die Stickjacke.
Auf der Galerie blieb sie zögernd stehen. Der Gesang der Zitronenkuchenfrau drang laut aus der Küche. Die Tür zur Halle musste offen stehen; das Rumpeln und Rumoren verriet, dass sie mit dem Ofen und dem Feuerholz beschäftigt war. Dann schwebte das hohe "Ping" des Wasserkochers ins Gewölbe der Halle hinauf. Sie machte sich eine Tasse Tee. Den würde sie gewohnheitsmäßig in der Küche trinken; dazu rückte sie sich immer einen der Küchenstühle an die Fensterbank heran ... den gemütlichen, gepolsterten. Er war der einzige, der auch Armlehnen hatte. Wenn sie ihren Nachmittagstee trank, liebte sie es, die Eichhörnchen und die Vögel zu beobachten. Wie sie sich über das Futter her machten, das in den Büschen für sie ausgehängt war.
Die Holzbohlen waren warm, sie spürte es durch die Wolle ihrer Socken hindurch. Unter ihr musste das Kaminfeuer brennen. Vorsichtig schlich sie zur Treppe hinüber und wagte ein paar Schritte nach unten. Es war besser, wenn Shay sie hier draußen nicht sah - Myrna würde schimpfen, wenn sie im Hemd auf den Stufen hockte und er sich am Ende noch Hoffnung machte, mit ihr spielen zu können. Auf halber Höhe hielt sie an und setzte sich, um durch die Verstrebungen des Geländers hindurch sehen zu können.
Der Anblick der Sitzecke unterhalb der Galerie entlockte ihr ein Lächeln. Das grüne Sofa war dichter an den Kamin heran gerückt worden, die alten beigefarbigen Kissen durch samtig rote ausgetauscht. Das kleine runde Tischchen stand jetzt auf der anderen Seite des wuchtigen Sitzmöbels; es war mit einer roten Decke versehen, und darauf prangte ein großer Krug, in dem ein kunstvoll drapiertes Bündel knorriger Zweige steckte. Glänzende Teile hingen daran, aus rotem und silbernem Glas waren sie wohl - sie erkannte gerillte Zapfen, Herzen und Kugeln zwischen funkelnden Sternen, die aus Metalldraht gebogen sein mochten. Die Sitzecke wirkte aufgeräumt und weihnachtlich gemütlich, auch der Sessel hatte ein neues Kissenpaar in Grün und Rot erhalten.
Das Schönste aber war der Kamin. Die Feuerstelle umrankte eine üppige Girlande aus Tannengrün und dicken Zapfen, an den Seiten hing sie bis zum Boden hinab. In den Zweigen funkelte und glitzerte es überall in metallischem Rot und Silber. Die feinen Flämmchen einer Lichterkette brachten alles zum Strahlen. Auf dem Kaminsims standen außerdem zwei mächtige Leuchter mit roten Kerzen, und auch die steinerne Inschrift in der Wand darüber war geschmückt; zu beiden Seiten des Vierzeilers hatte man jeweils ein dickes Bündel Misteln befestigt, das mit roten Schleifenbändern zusammen gehalten war. Sie hatte sich immer gewundert, wozu links und rechts der Inschrift diese dicken rostigen Eisenringe in die Wand eingelassen waren - wahrscheinlich dienten sie bereits seit Jahrhunderten zur Befestigung von Dekoration über dem Kamin.
Im Flur mit dem feinen Fliesenmosaik und auch in der Küche, die dahinter lag, war es still geworden; während sie wieder nach oben schlich, bemühte sie sich, das Knarren der Stufen zu vermeiden. Ihr Herz schlug bereits von der geringen Anstrengung schneller und kräftiger, sie war ernsthaft angeschlagen. Aber vielleicht war das nicht der einzige Grund, warum sie ihren Puls so deutlich spürte; was die beiden Frauen mit der Kaminecke angestellt hatten, ließ ihr Herz vor Freude hüpfen, aber zugleich versetzte es ihr einen schmerzhaften Stich. Oh, wie sehr sie diesen magischen Weihnachtszauber vermisst hatte!
Mit Wehmut im Herzen blieb sie oben am Geländer stehen und sah hinauf in die Schatten des alten Balkengerüsts, das sich über ihrem Kopf erstreckte. Tante Moni war großartig. Sie hatte ihr unendlich viel zu verdanken. Ganz sicher hatte sie alles Erdenkliche getan, um ihr ein Zuhause anbieten zu können, in dem sie sich willkommen fühlte. Aber sie hatte nie das Talent ihrer Schwester besessen, wenn es darum ging, eine weihnachtliche Atmosphäre zu erschaffen. Es passte auch gar nicht zu ihr - in ihren überdekorierten Zimmern und Fluren hatte so etwas schlichtweg niemals Platz gefunden. Ihr Haus war bereits vollgestopft gewesen mit all dem farbigen und schrillen Kram, den sie von ihren Reisen und von unzähligen Flohmarktbesuchen mitgebracht hatte. Da war so vieles, was sie immer wieder anschleppte, dass sie zweimal im Jahr einen Gartenverkauf veranstalten musste, um zumindest einen Teil der Sachen wieder los zu werden. Sicher, weil das Haus sonst aus allen Nähten zu platzen drohte ... aber wohl auch und vor allem, um Platz für neue Beute zu schaffen.
Tante Monis Sammelleidenschaft war der blanke Irrsinn! Es war nicht nur Zufall gewesen, dass sich immer wieder neue Stücke der Marke "Unwiderstehlich" auf den Flohmärkten finden ließen; diese Frau machte das mit Absicht, es war sozusagen Teil ihres Lebenssinns. Sie kaufte und sammelte Dinge, um eine Weile mit ihnen zu leben und sich an ihnen zu freuen - und wenn es an der Zeit war, gab sie sie mit derselben Freude an Leute weiter, die mit solchen Sachen genauso verrückt waren wie sie selbst. Man konnte nie sagen, was sie wohl lieber hatte: das Aufstöbern und Kaufen kurioser Schätze, oder ihre exotischen Gartenverkäufe, die jedes Mal ein ebenso verrücktes Volk aus der gesamten Umgebung anzogen. Angezogen hatten. Denn Haus und Garten waren nun verkauft und in den Händen von Leuten, die keine Ahnung hatten, welches bunte Leben dort einmal stattgefunden hatte.
Ihr Stil war immer irgendwie "multikulti" gewesen. Solange Emma zurück denken konnte, fanden sich in den Räumlichkeiten der Tante überall ägyptische Figürchen und Göttinnen aus Ton oder Stein, dazu Gefäße mit Glasmurmelsammlungen, durch die das Licht hindurch schien, Kunstblumen in Vasen, zerfledderte Reiseführer und verstaubte Bücherstapel. Da hatte es mit Blumen bemalte Steine gegeben, bunt gehäkelte Kissenhüllen, in denen sie die Reste ihrer Strickprojekte verwertete, gemusterte Stoffe der verschiedensten Stilrichtungen in Form von Gardinen, Tischdecken und Überwürfen für die alten Sofas und Ansammlungen von Kerzenleuchtern und Geschirr aus aller Welt. Sie erinnerte sich an eine große Schale aus Jade, bis an den Rand gefüllt mit altem Billigschmuck, funkelnden Haarspangen und anderem Klimbim, in dem man wühlen konnte - und dann war da eine ganz spezielle Sammlung, die sie mit größter Leidenschaft pflegte: eine Armada kitschiger Marienfiguren in allen erdenklichen Formen, Größen und Ausführungen, manche aus Bronze oder knallbunt bemaltem Pappmaché, andere holzgeschnitzt oder aus pastellfarbigem Porzellan.
Die Marienfiguren waren mit der Zeit so viele geworden, dass sie über die Jahre den langen Flur bevölkert hatten und später sogar bis ins Gästeklo vorgedrungen waren. Sie hatte nicht gewusst, ob sie es peinlich oder originell finden sollte, als die kreative Frau am Ende eine große zart bemalte Porzellan Maria an die Wand dübelte, gleich neben der Toilette; die heilige Mutter hielt in ihren weißen Händen eine kleine Weihwasserschale, die Tante Moni in ihrem praktischen Sinn mit Tampons auffüllte. "Damit unsere Gäste nicht erst fragen müssen, wenn mal einer benötigt wird", hatte sie erklärt und Emmas verdutzten Blick schmunzelnd ignoriert.
Auch die Wände in dem alten Haus waren immer farbig gestrichen gewesen und viele der Möbel in exotischen Farben lackiert. Da gab es Vogelkäfige, in denen Topfpflanzen wuchsen, bemalte Kieselsteine und Musikinstrumente aus aller Herren Länder - und Tabletts, auf denen zahllose, halb aufgebrauchte Parfumfläschchen standen, an denen man schnuppern oder sich spontan bedienen durfte.
Zwischen all diesen Dingen, die von ihrer Lebensfreude und Kreativität, ihrer unersättlichen Neugierde und Sammelleidenschaft erzählten, wäre jede Weihnachtsdekoration bereits im Versuch erstickt und ihrer Wirkung beraubt worden. Aber Weihnachten zuhause - dort, wo sie aufgewachsen war, mit ihrer Mutter! Die hatte gewusst, wie man bronzene Engelfiguren in die Tannenzweige steckte, dass sie hielten, und wie man die schönsten Adventskränze machte oder eine Fensterbank, einen Tisch weihnachtlich dekorierte. Vieles hatte sie immer aus dem Garten genommen, und auch dort waren der Kirschbaum und die alte Tanne im Winter immer mit Lichterketten und glänzenden Kugeln geschmückt gewesen. Weil die Klebefilmstreifen am Fensterrahmen in ihrem Kinderzimmer immer wieder abgegangen waren, hatte sie für Emmas Lichterkette schließlich Nägel ins Holz geschlagen, die sie jedes Jahr aufs Neue nutzten. In der restlichen Zeit hing daran die gläserne Eule, die sie ihr einmal zum Geburtstag geschenkt hatte.
Sie war nicht aus einem Guss, sondern bestand aus einzelnen farbigen Fragmenten, die über zierliche Kettchen miteinander verbunden waren. Alles geriet ins Schwingen, wenn man ihr einen Schubs mit dem Finger gab oder wenn im Sommer ein Luftzug durch das offene Fenster herein kam; dann erklangen die winzigen Glocken, die von den Füßen des Nachtvogels herab hingen, bis alles sich wieder beruhigte und anhielt.
Wo war die Eule jetzt? Gab es sie überhaupt noch? Sie erinnerte sich an die wochenlange Plackerei, als sie zu zweit das ganze Haus und die Garage leer geräumt hatten. Es musste schnell gehen, da war keine Zeit gewesen, jedes Ding dreimal in den Händen zu drehen und zu überlegen, wohin damit. Für das Meiste hatten sie große Kartons in den Räumen aufgestellt und im Akkord alles, was ihnen unter die Finger kam, dort hinein geworfen. Über die Jahre war das meiste verkauft worden; nur die Sachen aus ihrem Zimmer mussten sie irgendwo eingelagert haben. Wahrscheinlich im Keller, sie hatte nie gefragt. Ohne, dass sie jemals darüber gesprochen hatten, wusste sie, dass ihre Tante zumindest in der ersten Zeit vieles gut weggepackt hatte. Und irgendwie hatte es geholfen, dass es sie mit einem so gewaltigen Ruck aus ihrer Schockstarre gerissen und in die bunte Hippiewelt ihrer durchgeknallten Tante hinein katapultiert hatte. Es war, als wenn man tief unten im schwärzesten Wasser der Welt ertrinken wollte, und plötzlich griff da eine Hand ins Dunkel und zog einen ins Leben zurück.
Ins Leben, ja. Sie war wieder da. Anders als zuvor, sie war durch eine qualvolle Metamorphose gegangen. Und irgendwie war sie kein Schmetterling geworden, sondern etwas ... anderes. Nicht so schön, nicht so leicht, nicht ... farbig und lebendig, sondern grau und kriechend. Eine Motte ohne Flügel. Jede einzelne ihrer Farben musste sie sich seitdem neu erkämpfen, nichts war mehr umsonst oder selbstverständlich. Auch, was bei der Wandlung, die Jahre angedauert hatte, aus ihrer Erinnerung an gute Tage verloren gegangen war, kam nur manchmal und stückweise in Splittern und Fetzen zu ihr zurück. Wie ihre Eule. An die Eule hatte sie bis zu diesem Moment nie wieder gedacht. Es war das erste Mal, dass sie sich erinnerte.
Die schönen Weihnachtsdekorationen ihrer Mutter ... da musste sie hart mit sich selbst sein. Wie man hier sehen konnte, gab es viele Leute, die sich wunderbar darauf verstanden, sie war nicht die einzige gewesen. Es war nur eine nostalgische Erinnerung an Jahre, die vorbei waren. Momente, Tage und Bilder, die sie loslassen musste, wenn sie mit sich selbst weiterkommen wollte. So etwas konnte man nicht wie eine ständige Wunde mit sich herum tragen. Es heilte nicht ab, wenn man es mitnahm. Sie musste nach vorne sehen und sich für anderes und neues öffnen - vielleicht so, wie Tante Moni es mit ihren bunten Sachen hielt. Es gab Zeiten des Bleibens und Genießens, und Zeiten, da ließ man los und ging weiter, so sagte sie immer. Es würden noch viele Weihnachten kommen; das nächste würde sie in diesem Haus erleben - und viele weitere anderswo und auf andere Weise. Leben konnte man nur vorwärts, nicht rückwärts.
Der spürbare Windhauch, der von der Halle zu ihr nach oben zog, ließ sie frösteln. Ihre Beine waren kalt. Es wurde Zeit, dass sie wieder ins Bett kam. Leise lief sie den schmalen Flur entlang, an Shays Zimmer vorbei und bis zu der Tür, hinter der sich das Kabuff befand. Als sie die Klinke herunter drückte, quietschte sie furchtbar.
Im Licht der surrenden Glühbirne durchsuchte sie die Regale. Es dauerte eine Weile, bis sie das Kästchen mit den Nähsachen fand; es war aus dunklem Holz gefertigt wie die Balken unten in der Halle, darum hatte sie es beim trüben Licht der Lampe und bei all den Sachen, die sich in den Regalen stapelten, nicht gleich entdeckt.
Auf dem Rückweg begann ihre Nase zu laufen. Gleichzeitig verspürte sie ein verdächtiges Kribbeln; wenn sie jetzt niesen musste ... sie hatte kein Taschentuch bei sich. In schnellen Schritten lief sie bis zur Galerie zurück und in das kleine Flurstück hinein, an dem ihr Zimmer lag. Sie wollte gerade nach der Klinke greifen, als sie bemerkte, dass die Tür einen Spalt breit offen stand. Das Kribbeln in der Nase war vergessen. Hatte sie die Tür nicht hinter sich geschlossen?
Da waren ... Geräusche im Zimmer. Geräusche ... und Stimmen. Das Herz schlug ihr so hart in der Brust, dass es schmerzte. Und es kam nicht davon, dass sie sich auf den letzten Metern beeilt hatte. Den Atem anhaltend, die Augen im Dämmerlicht auf den Türspalt fixiert, stand sie da und lauschte angestrengt. Drinnen ließ sich nichts erkennen, der Spalt war zu schmal ... da! Schon wieder! Etwas klapperte leise, es klang, als würden Gegenstände auf einen Tisch gelegt und dort geschäftig hin und her geschoben. Die Stimmen, sie sprachen gedämpft und leise. Man musste genau hinhören. Frauen ... mehrere.
Es brauchte unzählige Sekunden, bis sie den Blick von dem Türspalt abwenden und nach hinten richten konnte. Ihr war auf einmal eiskalt. Wieder lauschte sie - und erwartete festzustellen, dass die spezielle Akustik der Halle ihr einen Streich spielte. Es musste von dort unten kommen, denn in ihrem Zimmer, da konnten keine Frauen sein. Nicht jetzt, und auch sonst nicht. Aber auch im Rest des Hauses dürfte es niemanden geben, denn wer sollte da in diesem Moment ... auf einmal war alles still. Es hatte aufgehört.
Hagan arbeitete an seinem Roman. Er hatte keinen Besuch, er war beschäftigt. Shay spielte draußen. Einin war nach Dunfanaghy gefahren und Myrna saß in der Küche und trank Tee.
Als sie lange genug gewartet hatte und sich noch immer nichts regte, nahm sie ihren Mut zusammen und drückte die Zimmertür auf. Erst vorsichtig, dann entschlossener, lugte sie hinein. Das schwindende Licht des frühen Nachmittags drang zwischen den offenen Gardinen hervor und hüllte den Raum in bläuliche Dämmerung.
Alles war noch genau so wie zuletzt. Das Bett ... unordentlich und zerwühlt. Das Regal mit ihren Sachen darin ... so, wie es aussah, fehlte dort nichts. Und es gab auch keine fremden Dinge, die sonst nicht dort lagen, wie sich schnell erkennen ließ. Der Kleiderschrank: geschlossen, wie immer. Handy und Geldbörse neben der Lampe auf der Kommode, die Haarbänder und der Schal von Tante Moni auf dem kleinen Toilettentisch. Noch einmal wandte sie sich um, erfasste mit klopfendem Herzen das Dunkel hinter sich, lauschte in Richtung der Galerie. Es war vollkommen still im Haus. So still, dass sie das Krächzen der Krähen hören konnte, das durch die geschlossenen Fenster herein drang. Als hätte das, was sie noch vor Sekunden wahrgenommen hatte, niemals stattgefunden.
Dass man sich in diesem Haus derart täuschen konnte! Verwundert trat sie ein und schob die Tür hinter sich zu. Der Wind, die Zugluft. Sie musste wieder einmal von selbst aufgegangen sein. Und wahrscheinlich waren auch die Stimmen und Geräusche nur ein Produkt dessen, was der Wind mit diesem alten Gemäuer anzustellen vermochte ... es sei denn, man unterbrach den Sog der Zugluft, indem man die Türen fest geschlossen hielt ... was ihr, aus welchen Gründen auch immer, bisher ganz offenbar nicht gut genug gelingen wollte. Außerdem war sie erkältet, es hatte sie heftig erwischt. Wie schlecht man doch seine Sinne beisammen hatte, wenn man entkräftet und übermüdet war. Sie lief zum Fenster hinüber und knipste die Lampe an; als das warme Licht dem Raum die Farben zurück gab, spürte sie erleichtert, wie sie sich zu entspannen begann.
Die zweite Lampe beim Bett verdrängte die letzten Schatten in den Ecken und brachte die gemütliche Atmosphäre, die dieses Zimmer vom ersten Tag an zu ihrer privaten Höhle gemacht hatte, vollständig zurück. Sie stellte das Nähkästchen auf der Kommode ab, warf ihre Strickjacke über das Bettende und beeilte sich, unter die Decken zu kommen. Die Wärmflasche hatte inzwischen das gesamte Bett durchgewärmt. Es war eine Wohltat, unter die drei Decken zu schlüpfen und die Beine in Richtung der Wärmequelle auszustrecken ... da war etwas. An ihrem rechten Fuß. Etwas kleines, hartes. Genervt warf sie die Decken zurück und griff nach dem Ding, das da auf dem Laken lag. Es war eine Rauchquarzperle. Von ihrem Armband. Eine Perle wie die, die auf der Kommode lagen.
Ende Teil 46
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