(7/2) The Great Famine
Dieser Jonathan! Was war das für ein mieser Kerl? Und was redete er ihr da ein! Erschüttert starrte sie auf das fleckige Papier in ihrer Hand. Was das Mädchen da schrieb, war so real, als würde es hier und heute geschehen, in diesem Moment. Dabei waren die Dinge, von denen sie berichtete, beinahe hundertsiebzig Jahre her! Sie fühlte so sehr mit ihr. Und sie empfand eine heftige Wut über das, was ihr geschehen war. Die arme Mary hatte absolut keine Chance gegen dieses Arschloch von einem Mann. Worum es ihm ging, war so sichtbar und klar! Das Mädchen schien ihm vollkommen egal zu sein, sie bedeutete ihm nichts. Er nutzte ihre Naivität und Unerfahrenheit aus, um ein bisschen Spaß zu haben, das war alles. Ganz bestimmt waren die jungen Frauen damals nicht auf den Kopf gefallen, das raue Leben musste sie härter, wacher, realistischer gemacht haben. In solchen Zeiten schützten sie sich sicher vor noch mehr Elend, noch mehr Leid, soweit das möglich war - es erschien ihr logisch. Was Mary mit diesem Mistkerl erlebte, konnte sie ganz bestimmt nicht gebrauchen. Er war zwanzig! Was dachte er sich dabei, die Naivität einer Fünfzehnjährigen auszunutzen!
Oh, wie sie sich über das Gelesene aufregte! Sie wollte Mary beschützen und trösten, wie sie es mit jedem Mädchen getan hätte, das sich mit einer solchen Geschichte an sie wandte. Wenn Mary ihre kleine Schwester gewesen wäre, sie hätte diesem Widerling etwas zu sagen gehabt. Es gab diese Typen noch heute. Die Masche, die dieser Jonathan anwandte, kannte sie aus den Erzählungen einer Freundin, die hatte ganz Ähnliches erlebt. Für junge Mädchen hatte sich über all die Jahrhunderte offenbar nichts geändert.
Nur waren die meisten heute ein wenig aufgeklärter. Aber Verliebtheit machte blind, das galt heute wie damals, und es blieb ein Problem. Wenn einem jemand gefiel, ging man automatisch davon aus, er würde sich anständig und verantwortungsvoll verhalten. Wie Mary schrieb: Nicht ihr Jonathan, nicht er. Er war die Ausnahme, er war anders. Dabei zeigte er doch seinen Charakter - sie musste nur die Augen öffnen und hinsehen! Wie konnte sie sich diesen Mann, dessen Reden und Tun doch klar bewies, worauf er aus war, trotz allem so sehr schönreden?
Was sie verstanden hatte, war, dass Mary für sich und ihre Familie einen Ausweg aus Armut, Hunger und Schinderei suchte. Sie wollte den Misshandlungen der Engländer und der Kartoffelpest entfliehen und ihr junges Leben retten. Und das Leben ihrer Mutter und Schwester. Auf dem Feld hatte sie Jonathan für sein Wissen über Amerika bewundert, es war zwischen den Zeilen so sehr lesbar ... Ob sie hoffte, mit seiner Hilfe dem elenden Leben auf der Insel den Rücken zu kehren und ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten zu segeln?
Sie schien ihn nicht wirklich geliebt zu haben. Ihre Beschreibungen zeigten eher, dass er ihr nicht geheuer gewesen war. Sie hatte ihm nicht vertraut, aber eine Ehe mit ihm war für sie trotzdem eine Option gewesen. Um ihrem Leben die Wendung zu geben, die es so dringend brauchte. Ob das am Ende gut gegangen war? Sie erschien ihr so furchtbar naiv - gab es denn niemanden, der auf sie achten oder ihr diese waghalsige Idee ausreden konnte? Bis jetzt war darüber jedenfalls nichts zu lesen; aber da gab es ja noch eine ganze Reihe weiterer Einträge. Wahrscheinlich zeigte sich bald, wie dieses arme Mädchen in ihr Unglück rannte ...
Wie hieß noch gleich der Ort der ersten Eintragungen? Sie blätterte einige Seiten zurück, und das stand es: Westport. In Mayo. Wo lag Mayo? Es musste irgendwo im Norden sein, denn wie konnte ihr Tagebuch sonst in dieses Haus gelangen?
Sie nahm ihr Handy von der Kommode, tippte "Mayo, Ireland" ein und besah die Karte, auf der das Gebiet markiert war. Aber ... hatte sie das richtige Mayo erwischt - so weit unten auf der Karte? Da war auch Westport ... aber das wären gut zweihundertfünfzig bis dreihundert Kilometer bis nach Shadow Hall! Mayo war ein County in der Provinz Connacht. Er lag im Westen, direkt am Meer. Bis nach Donegal und zum Horn Head hinauf ging es durch das halbe Land. Und Westport ... sie tippte auf den Ortsnamen, ein Feld ging auf, der Inhalt verriet einiges über die kleine Stadt. Die Bilder zeigten einen hübschen Ort mit ländlichem Flair ... Ganz sicher war Westport damals viel kleiner gewesen. Gespannt überflog sie die Zeilen und begann schließlich gründlicher zu lesen.
Die Gegend an der Westküste schien eine interessante Historie in Sachen Auswanderung zu haben. Das Thema war in vielen der kleinen Orte, die in Mayo lagen, dokumentiert, auch und insbesondere im Zusammenhang mit der Kartoffelpest. Es gab Bilder von Museen zum Thema Hungersnot und Auswanderung, dazu eine Reihe Gedenktafeln, die nicht nur in den Städten, sondern auch in der Landschaft standen. Eine Abbildung traf sie besonders: Zu sehen war eine Skulptur in der Fußgängerzone irgendeiner Stadt. Genau genommen waren es mehrere lebensgroße Figuren aus Bronze, die zusammen gehörten. Bis auf die Knochen abgemagerte Menschen, nur mit wenigen zerfetzten Lumpen spärlich bekleidet, schleppten sich als Gruppe über den Weg. Wie unglaublich schmal und dünn sie waren! So schlimm war es gewesen? Die Leute waren tatsächlich ganz und gar verhungert? So wie man es aus Afrika kannte? Und sie hatten kaum noch Kleidung am Leib. Oder Kraft, sich auf den Füßen zu halten.
Oh, sie hatte es ja beschrieben! "Sie sterben wie die Fliegen", sie erinnerte sich an diesen Satz. Die Kinder hatte Mary gemeint. Aber als moderner Mensch, der niemals von solchen Dingen bedroht gewesen war, hatte sie einfach nicht angenommen, dass es tatsächlich so heftig gewesen sein könnte. Still betrachtete sie die Skulpturen. Diese Menschen waren nur noch Haut und Knochen - mit Waden, so dünn wie ihr Handgelenk. Einer trug einen toten Körper über seinen Schultern. Er schien ihn nicht loslassen zu wollen. Vielleicht war es seine Frau, sein Kind, sein Bruder. Diese Gesichter, die dürren Körper - auch, wenn sie aus Metall gefertigt waren, hatte man den Eindruck, als wären sie lebendig. Ihre Haltung, ihre Gesichter strahlten pures Leid aus, sie waren mehr tot als lebendig, und doch schleppten sie sich voran. Wohin gingen sie - oder irrten sie bereits im Wahn umher, ohne Ziel, weil es buchstäblich nichts gab, wohin sie sich wenden konnten? Wie ein Geisterzug waren sie unterwegs, in endlosem Marsch, von damals bis heute ... inmitten dieser modernen, wohlgenährten Leute, die geschäftig an ihnen vorbei hasteten.
Es erschien ihr wie eine stumme Anklage, in kalte Bronze gegossen. Seht her, vergesst uns nicht. Es gibt uns überall, es ist nicht vorbei. Die Welt war immer noch voll mit Hunger und Not. Und noch immer sahen die Menschen weg, blendeten Unrecht, Gewalt und Mitverantwortung aus. Darum setzte die arme Mary alles daran, ausgerechnet einem Jonathan Farlow zu gefallen! Weil er Durchsetzungskraft, Energie, Jugend und Gesundheit besaß - und dazu ein brauchbares Handwerk. Und Beziehungen, die Schutz bedeuten konnten. Es ging tatsächlich um das blanke Überleben. Das Eingeständnis, dass er ein Arschloch war, konnte sie sich nicht leisten, sie musste es ausblenden.
Die Skulptur war in Dublin errichtet worden, sie entdeckte es unter dem Bild. Zum Gedenken an "The Great Famine", den großen Hunger, wie die Iren die Jahre der Kartoffelfäule nannten. Sie schauderte, konnte den Blick nicht von den Figuren abwenden. Wer immer das Foto gemacht hatte, er musste direkt vor der Gruppe gestanden haben, in einigen Metern Abstand. Sie schienen ihn anzusehen, es wirkte, als kämen sie direkt auf den Betrachter zu, als würden sie gleich am Rand des Bildes ankommen ... und darüber hinweg gehen und durch ihr Zimmer wanken. Einige trugen Bündel, die sie mit ihren mageren Armen vor die Brust drückten. Es war wohl alles, was sie noch hatten.
Unter dem Bild gab es zwei große Absätze mit weiterer Information, darunter auch die Beschreibung des Ortes, in dem Marys Geschichte mit Jonathan sich zugetragen hatte: Westport. Der Bezirk Mayo, mit Städtchen wie Castlebar, Ross Port, Belmullet, Westport und Newport war ein Gebiet, das ganz besonders von der Kartoffelpest betroffen gewesen sein sollte. Der Text besagte, ein Viertel der Bevölkerung von Mayo sollte zwischen 1845 und 1849 am Hunger gestorben sein. Noch einmal besah Emma das Datum des ersten Eintrags. Mary hatte ihr Tagebuch im August 1849 begonnen. Da ging die Hungerkatastrophe bereits ins vierte Jahr. Wenn diese gespenstischen Gestalten auf dem Bild so unglaublich ausgehungert aussahen - wie mager war sie gewesen? Sie hatte irgendetwas darüber geschrieben, dass sie eine gute Partie für Jonathan sei, weil sie die Kraft hatte, auf den Feldern zu arbeiten. Was das bedeutet haben musste und wie lebensentscheidend es gewesen war, nicht bereits entkräftet weggebrochen zu sein, sondern noch seine Arbeitskraft anbieten zu können, wurde ihr erst jetzt klar. Die Landlords verjagten die Hungernden von den Pachthöfen und überließen sie ihrem Schicksal, wenn sie nicht mehr die Kraft hatten, für sie zu arbeiten. 1849 ... hieß das, sie hatte womöglich "the Great Famine" überlebt?
Nach den erschütternden Eindrücken empfand Emma es als wohltuend, auch die anderen Fotos zu betrachten. Da gab es winzige Fischerdörfer, die bis an die wunderschönen Buchten und Strände hinunter gingen, weiß getünchte Häuschen mit Stroh auf dem Dach, dazu im Wasser zahlreiche Inseln mit steilen Klippen - und im Hintergrund erstreckten sich weitläufige Hügel und Berge, an deren sonnigen Hängen das Getreide wuchs. Getreide ... heute durften alle Iren davon profitieren, die Gewaltherrschaft der Engländer war vorbei. Wie sehr musste das Land Angst, Leid und Tränen aufgesogen haben, insbesondere rings um diese kleinen, hübschen Orte, die Mary gekannt haben musste? Alles war so schlicht und pur, es gab im Grunde nicht viel zu sehen auf diesen Fotos, jedenfalls nichts Aufregendes, was Menschen geschaffen hätten ... aber diese Landschaft! Sie musste damals genauso auf die Bewohner der Gegend gewirkt haben, sie war ein grünes und türkisblaues Paradies. Wie klar das Wasser an den Stränden war, wie grün das viele Gras und wie schön die geschwungenen Hügel. Nichts davon konnte man essen. Moos und Rinde hatten sie gekocht, Mary hatte es beschrieben. In Milch. Bis dieser grobe Pachtherr ... Mr. Whittenham ... ihnen die Kuh weg nahm.
Puh, das war hart! Aber allein durch diese Informationen und die wenigen Fotos empfand sie alles, was das Mädchen beschrieb, nun als so viel besser vorstellbar. Und erst jetzt wurde ihr voll bewusst, dass sie tatsächlich ein originales Dokument las. All das war wirklich geschehen, auf diesem schönen Flecken Erde. Es war keine "Story", sondern das reale Leben und Leiden der Menschen dort. Wie krass mussten sie damals die herrliche Umgebung empfunden haben, während sie zugleich durch eine nicht endende Hölle gingen.
Sie schämte sich, dass ihr Magen knurrte. Sie hatte gerade erst drei dieser großen, kernigen und bestimmt super nahrhaften Haferkekse gehabt, und dazu einen ganzen Becher Tee. Unten in der Küche war noch mehr davon - und über den Tag würde es noch ganz andere Dinge geben, von allem mehr als genug. Und dieses fünfzehnjährige Mädchen arbeitete den ganzen Tag lang in der Sommerhitze auf dem Feld eines rabiaten Menschenschinders und bekam in der Mittagspause gerade mal einen Schluck abgestandenes Wasser! Was sie an solchen Tagen zum Frühstück gehabt hatte, wollte sie sich besser nicht fragen. Oder ob es am Abend noch etwas zu essen gab. Sie selbst hatte schon Sorge um ihr Leben, wenn sie einmal einen halben Tag lang nicht wirklich zum Essen kam. Diese Mary und all die anderen Menschen ihrer Zeit hatten ganz andere Zustände ertragen, dazu über Jahre hinweg. Und die Kartoffelpest hatte sich in Wellen wiederholt! Wenn sie diese Gegend auf den Fotos sah, verstand sie, dass es da tatsächlich nichts gegeben haben musste, was irgendwie geholfen hätte - nichts außer Gras, Sand, Stein und Salzwasser. Und dazu ein paar Sträucher. Und vielleicht noch ein paar Käfer, Grillen und Regenwürmer. Hatten sie Regenwürmer, Insekten gegessen - wenn sie sogar versuchten, mit Moos und Gras zu überleben?
Marys Tagebuch. Irgendwie war es nach Shadow Hall gekommen. Von Westport im Westen bis an die Nordküste war es ein verdammt langer Weg. Insbesondere für die damalige Zeit und für ein so junges Mädchen. Ob ihre Aufzeichnungen so weit gingen, dass sie bis hierher reichten? Erklärten sie vielleicht sogar, unter welchen Umständen und aus welchem Grund sie ausgerechnet in dieses Haus kam? Hatte Mary überhaupt selbst den Weg nach Shadow Hall geschafft - oder war nur ihr Tagebuch, durch welche Umstände auch immer, an die Nordküste gelangt?
Sie war verführt, jetzt sofort auf den letzten Seiten nachzusehen. Gerade noch rechtzeitig riss sie sich zusammen. Sie verdarb sich alles, wenn sie es vorweg nahm! Aber sie musste unbedingt weiterlesen, jetzt sofort.
Ende Teil 39
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