(7/1) Schuld
Ein unruhiger Schlaf und wirre Traumbilder ließen sie in der Nacht mehrmals aufwachen. Einmal war sie überzeugt, jemand habe sie gerufen. Aber als sie mit klopfendem Herzen lauschte, wiederholte es sich nicht. Sie hatte geträumt. Ein anderes Mal schien sie aber wach zu sein, denn sie sah den Schatten einer Gestalt neben ihrem Bett - für einen Augenblick, dann war er verschwunden. Als ihre verstopfte Nase und ihr Durst sie später erneut weckten, fand sie eine Thermoskanne und einen Becher auf der Kommode, dazu eine Schüssel mit Haferkeksen und geschnittenen Äpfeln. Beides hatte dort vorher nicht gestanden. Der Schatten musste Myrna gewesen sein.
Sie wand sich unter den Decken hervor, ging aufs Klo und besah sich im Spiegel. Kaum konnte sie in dem gelblichen Licht die Augen offen halten; die Lider waren geschwollen, die Nase gerötet. Sie strich sich die verwuselten Haare hinter die Ohren, befühlte Gesicht und Hals. Hatte sie Fieber? Die Stirn erschien ihr nicht viel wärmer als der Rest ihres Körpers, ihr war eher kalt in dem unbeheizten Bad ... sie musste sich dringend ein Fieberthermometer und vor allem ein paar Medikamente besorgen. Eukalyptus und Thymian wären gut. Und ein Nasenspray. Zum Glück bekam Tante Moni ihren Totalausfall nun nicht mit, diese Erkältung dauerte garantiert mehr als eine Hand voll Tage. Sie würde sich nur unnötige Sorgen machen und sich ständig nach ihr erkundigen.
Einerseits brachte ihr Zustand sie in eine super ungünstige Situation - aber auf der anderen Seite tat es ihr ganz gut, ein paar Tage ausgebremst zu sein. In den letzten Wochen hatte sie kaum Luft gehabt, war nicht zur Ruhe gekommen. Nun blieb ihr nichts anderes übrig, als die Dinge hinzunehmen, wie sie nun einmal waren. Und das Beste daraus zu machen. Das brauchte Zeit, daran war nichts zu ändern.
Sie raffte sich auf, ihre Zähne zu putzen. Die minzige Zahnpasta machte nebenbei auch die Nase ein wenig freier; der heiße Waschlappen, den sie sich anschließend ins Gesicht drückte, tat ihrem schmerzenden Kopf gut. Sie hustete trocken. Die Keime schienen schon in den Bronchien zu sitzen, sie kannte das ziehende Gefühl beim Atmen noch aus der Zeit nach dem Tod ihrer Mutter. Da hatte sie mehrmals im Jahr eine Bronchitis gehabt, sie war ständig krank gewesen. Sicher dauerte es keine zwei Tage, und der altbekannte zähe Husten, den sie seitdem oft bekam, wenn sie zu viel Stress hatte, würde sich bemerkbar machen. Gerade erst war sie unter den Decken hervor gekrochen, aber ihre Füße fühlten sich bereits unangenehm kalt an. Besser, sie stand hier nicht länger im Hemd herum.
Es war kurz vor fünf. Morgens, nicht am Abend - die Stille, die im Haus herrschte, verriet es. Irgendwie war ihr das Zeitgefühl abhanden gekommen. Dienstag früh war es also ... hatte sie tatsächlich seit dem letzten Vormittag geschlafen? Hinter dem Fenster lag tiefschwarze Dunkelheit. Sie ließ einen Schwall frische Luft ins Zimmer, dann beeilte sie sich, wieder ins Bett zu kommen. Die Wärme, die sie beim Aufstehen zurück gelassen hatte, war noch da. Was für ein Glück, dass sie die beiden Quilts hatte! Einen Moment lang lag sie still unter ihrem Deckenberg - bis ihr bewusst wurde, dass sie fürs Erste genug geschlafen hatte. Sie war sogar hellwach und ihr Magen knurrte. Also setzte sie sich auf, stopfte sich die Kissen hinter ihrem Rücken zurecht und zog die Lampe näher zu sich her. Während sie sich etwas von dem dampfenden Tee in den Becher goss, dachte sie daran, vielleicht ein bisschen zu lesen.
Der Tee war stark und sie schmeckte Pfefferminze und Salbei heraus - es war die selbe Mischung, die Myrna ihr am voran gegangenen Morgen aufgegossen hatte. Schon nach wenigen Schlucken trat die wohltuende Wirkung ein. Dankbar stellte sie den Becher ab und probierte einen der Kekse aus der Schale. Das rustikale Gebäck schien nur wenig gesüßt zu sein; sie aß zwei Kekse und dann noch einen und bemühte sich, nicht ins Bett zu krümeln, indem sie sich beim Abbeißen über die Kante hinaus beugte.
Das Tagebuch von dem Mädchen. Beinahe hatte sie es vergessen. Ein Teil davon lag noch immer unter ihrem Bett. Sie hatte absolut keine Lust, noch einmal aufzustehen, aber die wertvollen Blätter mussten eingesammelt werden. Nicht, dass sie es noch vergaß und jemand fand sie dort! Sie würde dastehen, als hätte sie etwas gestohlen. Den angebissenen Keks zwischen den Lippen haltend, beugte sie sich über die Bettkante hinweg, stützte eine Hand auf dem Fußboden auf und fischte umständlich die Bögen unter dem Bett hervor. Dann nahm sie die anderen aus der Schublade hinzu und überprüfte, ob alles vollständig war.
Sie sortierte die Blätter, so gut es ging. Allein anhand der Daten über den Eintragungen war kaum festzustellen, ob ein Blatt fehlte; die einzelnen Berichte übersprangen zumeist einige Tage, hier und da schienen sogar Wochen dazwischen zu liegen.
Aber so musste es gehen - wenn sie einen Fehler gemacht hatte, würde sie später beim Lesen darüber stolpern. Sie rutschte noch ein wenig näher an die linke Bettseite heran. Das Licht der Lampe beleuchtete den Text gerade ausreichend. In ihrem Zustand fiel ihr das Entziffern der eng gesetzten Handschrift noch schwerer als am Tag davor. Ihre Arme fühlten sich schon jetzt kalt an; am liebsten hätte sie sie unter die warmen Decken gesteckt, aber irgendwie musste sie ja die Bögen halten. Fröstelnd zog sie sich den grünen Quilt bis über die Brust hinauf.
14. August, las sie und stockte. War es nicht der kommende Donnerstag gewesen, an dem diese Mary ihren Jonathan treffen wollte - am Strand? Ihre Unterhaltung hinter dem Erntewagen war am 3. August gewesen, wenn sie sich richtig erinnerte. Oh, sie war so neugierig auf die nächste Begegnung der beiden! Hatte Mary darüber denn gar nichts geschrieben? Sie blätterte zwischen den Bögen vor und zurück. Es schien soweit alles korrekt zu sein - es sei denn, sie hatte ein Blatt verloren. Noch einmal sah sie unter dem Bett nach, aber da war nichts. Dann musste es wohl richtig sein ...
14. August 1849
Was soll ich nur tun? Ich warte und warte auf eine Nachricht von ihm. Eine gute Woche ist es jetzt schon her! Ich kann keinen klaren Gedanken mehr fassen und komme auf keine Lösung.
Etwas Schlimmes ist passiert. Aber ich bin selbst Schuld! Es geschieht mir ganz recht! Es ist ja nicht umsonst, dass man uns vor den Männern warnt. Alle reden ständig darüber. Pass auf, lass dich nicht auf sie ein, sie wollen nur das eine, glaube ihnen nicht, sie sind alle gleich, und wenn sie dich gehabt haben, lassen sie dich fallen ... Aber Johnny doch nicht! Nicht er! So kann er nicht sein, ich will das nicht glauben. Es muss alles ein furchtbares Missverständnis sein. Ich habe ihn falsch verstanden! Oder er mich! Denn ich hatte ihm doch gesagt, ich will das nicht, sogar mehrmals. War das denn so wenig deutlich gewesen? Oder liebt er mich so sehr, dass er nicht anders konnte als sich über meine Bitten hinweg zu setzen?
Oh Gott, lass das Versteck für dieses Buch gut genug sein. Niemand darf das lesen. Unser Treffen am Strand, ich hätte da nicht hingehen sollen. Ich bin so dumm gewesen! Wenn ich nicht gegangen wäre, nichts wäre passiert! Jetzt muss ich immer daran denken, wie er mich überreden wollte, an seine Worte, seine Blicke, seine Hände. Vorsichtig waren sie zu Beginn, aber dann ... als ich nein sagte, ich will das nicht ... sagte er, ich hätte dann eben nicht herkommen sollen. Er war grob und unfreundlich mit mir. Er glaubte nicht mehr an meine Liebe. Er fragte, ob ich denn nicht verstanden hätte, dass er einen Beweis brauchte, um mir vertrauen zu können. Er habe mir sogar einen Heiratsantrag gemacht, und ich hätte aber immer noch nichts angeboten, was ihn überzeugen würde. Das wäre es, was Frauen tun, um die Aufrichtigkeit ihrer Gefühle zu beweisen. Ich schuldete es ihm.
Aber macht man das nicht erst, wenn man verheiratet ist? Was ist mit Gott? Wenn ich daran denke, wie er mich ausgelacht hat, als ich nicht wollte, werde ich sogar wütend auf ihn. Er hat mir weh getan. Es war nicht so, wie ich es mir zwischen Frau und Mann vorgestellt hatte. Als ich weinte, sagte er, dass es am Anfang immer so ist und dass es so sein muss, weil es etwas Bedeutsames ist. Etwas Ernstes. Es bedeutet, dass wir einander versprochen sind, und das ist eine große Sache für mich und für ihn. Ich habe geheult und ihm gesagt, dass ich ihn nicht mehr wiedersehen will, wenn er so zu mir ist. Er meinte aber, er hätte es absichtlich so gemacht, weil er es für mich nicht unnötig hinziehen wollte. Aus Liebe zu mir und weil ich noch so jung bin. Er ist so viel älter und klüger als ich, er weiß so viel von der Welt. Hat er vielleicht recht und ich stelle mich nur an? Ich wollte ihn doch sowieso heiraten, schon sehr bald! Und wenn er es als Beweis meiner Ernsthaftigkeit braucht? Wie kann denn ein Mann überhaupt sicher sein, bei einer Fünfzehnjährigen! Dass er einen Beweis für meine Verlässlichkeit wollte, ist doch ein Zeichen dafür, wie viel ihm an uns liegt, oder etwa nicht?
Nur ... an dem Tag war ich so wütend und traurig und verwirrt wegen ihm. Ich glaube, ich habe einen großen Fehler gemacht. Ich habe ihm gesagt, ich will ihn nicht mehr wiedersehen. Weil ich irgendwie gehofft hatte, sein Herz damit zu erweichen. Ich hatte geglaubt, er würde sich entschuldigen, wenn ich ihm zeige, wie schlecht er sich benommen hat.
Was, wenn er mich jetzt beim Wort nimmt? Gut, hatte er nur gesagt und mich nicht mehr angesehen. Gar nicht mehr, mit keinem einzigen Blick. Nicht einmal, als ich sagte, ich muss jetzt nach Hause. Ich mochte seine Küsse nicht wirklich. Aber dass er mich zum Abschied nicht küssen wollte, hat mich trotzdem verletzt. Es hat mir furchtbare Angst gemacht, dass ich etwas zwischen uns zerstört habe.
Und jetzt ist alles so viele Tage her, das Feld ist seit einer Woche abgeerntet und ich habe nichts mehr von ihm gehört. Zweimal habe ich ihn von weitem gesehen, einmal, als ich meinen Mut zusammen nahm und am Farlow Hof vorbei ging und er draußen am Brunnen war. Und dann gestern Abend, da ritt er auf dem Pferd seines Vaters den Weg zur Mühle hinunter. Wer weiß, ob er angehalten hätte. Er hat mich ja nicht gesehen. Er sah aus wie ein Ritter. Er sieht so viel besser aus als er sich benimmt. Mit einem hübschen Gesicht kann man sich nichts kaufen, sagt Mutter immer. Im Gegenteil, es macht einem nur Schwierigkeiten. Egal, ob man es selbst hat oder ein anderer, es bringt einem nur selten Gutes.
Es ist so entwürdigend! Ich fühle mich so billig, so als wäre ich nichts und niemand. Und er ein König, der alles beherrscht und bestimmt. Was zwischen uns passiert ist, hat alles durcheinander gebracht. Vorher hatte ich gedacht, ich bin es, die ihn beherrscht. Weil er sich doch so um mich bemühte und ich ja oder nein sagen konnte. Hat dieser unglückliche Tag nun alles tatsächlich so arg gewendet? Dass ich mich eingelassen habe, wie er es wollte? Aber das habe ich ja nicht! Ich habe nein gesagt! Ich habe nichts getan, das ihn denken lassen konnte, ich würde damit einverstanden sein! Er sagte aber, was ich in diesem Moment wollte, würde nicht gelten. Allein dass ich dort mit ihm wäre, würde einem Einverständnis gleichkommen.
Aber hätte ich denn vorher wissen müssen, was er wollte? Hätten andere Mädchen ihn durchschaut? Andere Frauen? Wie konnten wir einander so falsch verstehen! Ich bin so furchtbar durcheinander und es gibt niemanden auf der Welt, dem ich sagen kann, was passiert ist. Niemals darf ich darüber sprechen. Ich werde es in mir vergraben müssen, bis ich sterbe.
Ich kann nicht vergessen, wie sehr er mir wehgetan hat. Er hatte gesagt, das würde nicht immer so sein zwischen uns. Wir müssten das wiederholen, so bald wie möglich, dann würde es besser.
Ich muss mit ihm reden. Ich kann nicht alles so stehen lassen und nichts weiter dazu sagen. Was, wenn er wirklich glaubt, ich will ihn nun nicht mehr wiedersehen? Oder wenn er es herum erzählt ... was wird dann aus mir? Was wird Mutter denken, die Leute? Und Vater Mallorney? Er predigt so oft gegen die Unmoral. Ich hatte immer geglaubt, das sind nur Geschichten.
Mir ist schlecht vor Angst. Was geschehen ist, ist geschehen. Ich muss dringend nachdenken. Ich muss das Schlimmste verhindern und ihm sagen, wie leid es mir tut. Er hat schon recht! Ich bin jung und mein dummer Kopf versteht nicht viel von den Dingen und der Welt. Wenn es stimmt, was Vater Mallorney über Gottes Willen und Gesetz sagt, dann muss er mich jetzt heiraten. Das muss ich ihm sagen, so schnell wie möglich! Es käme darauf an, wie sehr er Vater Mallorney und das Gerede im Dorf fürchtet. Oder Gott und die Kirche achtet.
Ende Teil 38
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