(6/1) Dinosaurier und hundertfünfzig Eier
Sie beugte sich über die Bettkante hinweg und griff nach ihrem Teebecher; ihr Arm blockierte einen Moment lang das Licht, das vom Schirm der Lampe in den Raum strahlte, dann gab er es wieder frei. Ein Reflex leuchtete in der Dämmerung auf und verschwand wieder, nur im Augenwinkel hatte sie es wahrgenommen. Was war das? Überrascht ließ sie den Becher stehen und sah sich um. Vom Fenster konnte es nicht kommen - die Vorhänge waren zwar noch offen, aber die abendliche Dunkelheit hatte vor mehr als zwei Stunden bereits den Himmel und die Gegend in tiefe Schwärze gehüllt. Dort draußen gab es kein elektrisches Licht, keine Laterne, nichts, der Bereich hinter dem Haus lag im Dunkeln. Eigenartig ... es schien vom Boden gekommen zu sein. Aus der Mitte des Zimmers.
Obwohl sich der mysteriöse Lichtblitz nicht wiederholte, beschäftigte sie die Frage nach der Ursache; die Neugierde ließ sie nicht los. Immer wieder spähte sie in den Raum. Schließlich schob sie den Laptop von ihren Beinen herunter, rutschte vom Bett und inspizierte die schummrige Umgebung jenseits des Lampenscheins. Da lag etwas auf den Dielen. Das Licht der Nachttischlampe fing sich darin; ein matter Schimmer hier und da verriet ihr, dass noch mehr davon herum lag. Sie bückte sich und hob zwei der rundlichen Brocken auf.
Einen Augenblick dauerte es, bis sie realisierte, was da auf ihrer Handfläche funkelte: Es waren transparente Perlen. Von ihrem Armband mussten sie sein, denn als sie weitere der facettierten Kugeln aufhob, fanden ihre Finger dabei auch das ausgeleierte Gummiband, das sie zusammen gehalten hatte.
Der Glücksbringer. Das Armband von Tante Moni. Es war nicht versehentlich herunter gefallen. Sicher hätte sie es unbemerkt von der Kommode fegen können, aber ganz bestimmt wäre es dabei nicht bis in die Zimmermitte geflogen! Und hätte sie das Aufschlagen der schweren Perlen auf dem Holzboden nicht gehört? Das Armband fand seit ihrer Ankunft in Shadow Hall auf dem alten Möbelstück neben dem Bett seinen festen Platz, auch hatte sie es in den letzten Tagen gar nicht getragen. Und wenn es doch herunter gefallen und dabei so weit über den Boden geschliddert war - müsste das Gummi dann aber nicht intakt sein? Es wirkte ausgeleiert und dünn ... Nachdenklich knipste sie die zweite Lampe an, die auf der Fensterbank stand, und sammelte die restlichen Perlen auf. Bestimmt ließ es sich mit wenig Aufwand flicken. Aber wann und wie war das passiert? Seit dem Abendessen war sie in ihrem Zimmer gewesen - und hatte tagsüber stets die Tür abgeschlossen, wenn sie zum Essen nach unten ging. In ihrem Gedächtnis erschienen Bilder von Funken, die in wildem Tanz über die Wände flitzten. Die Facetten reflektierten die Morgensonne.
Ihre Hand schloss die Perlen in der Faust ein. Einem Impuls folgend lief sie auf nackten Füßen zur Tür und in den Flur hinaus, der über die Galerie hinweg und zu den anderen Zimmern führte. Vor dem Batman Poster, das auf der linken Seite des Ganges die Tür vor dem Kabuff zierte, blieb sie stehen. Die Hand an der Klinke zögerte sie unschlüssig. Durchatmen ... sie musste sich beherrschen. Es war Sonntag. Sie hatte ihren freien Tag, der Abend gehörte ihr. Es würde keine Diskussionen mit ihm geben. Bestimmt war die Sache schnell geklärt.
Auf ihr Klopfen hörte sie keine Reaktion. Ob er schon schlief? Leise öffnete sie die Tür und steckte den Kopf durch den Spalt. Shay saß in seinem Bett, neben ihm brannte seine Nachttischlampe; die beiden Dinosaurier, die er in die Luft hielt, schienen einen Kampf auszufechten. Die fauchenden Geräusche, die er von sich gab, erstarben, als er seinen Besuch bemerkte.
Irritiert sah er sie an. "Ach, du bist das ... ist heute nicht Sonntag?"
Emma trat in das Zimmer, wobei sie dem Spielzeug, das auf dem Boden verstreut lag, geschickt auswich. Schweigend ging sie zu den beiden Fenstern hinüber und zog einhändig die Vorhänge zu. Die Perlen drückten in ihrer Handfläche. Sie wandte sich zu ihm um.
"Ja. Es ist immer noch Sonntag. Ich wollte Dir nur gute Nacht sagen. Und ... ich habe etwas mitgebracht."
Erstaunt ließ er die kämpfenden Urzeittiere sinken. "Was denn?"
Sie setzte sich zu ihm auf den bunten Quilt, der über seine Bettdecke gebreitet war, und streckte ihm die geöffnete Hand hin.
Mit großen Augen sah er sie an. "Oh ... darf ich die haben?"
Verblüfft über seine Reaktion schüttelte sie den Kopf. "Nein, die darfst du nicht haben. Sieh mal genau hin. Erkennst du diese Perlen?"
Er starrte auf die facettierten Steine in ihrer Hand. "Das sind die Perlen von deinem Glücksbringerarmband ... oder?"
Er wirkte vollkommen arglos, dazu aufrichtig erstaunt. Eine derart gezielte Täuschung traute sie ihm nicht zu, vor allem, weil sie ihn hier nun überraschend konfrontierte; viel eher wirkte es, als hätte er in der Sache gar kein Unrechtsbewusstsein.
"Hör mal ... ich möchte nicht, dass du in mein Zimmer gehst, wenn ich nicht da bin."
Er zog die Stirn kraus. "Aber das kann ich ja gar nicht. Du schließt es doch ab." Seine Finger zupften kleine Bergspitzen aus dem Bezug seiner Decke.
"Und woher weißt du das?"
"Das höre ich doch" empörte er sich. "Dein Schlüssel ist laut. Ehrlich, ich war das nicht! Ich geh da nur rein, wenn die Tür offen ist. Wenn du drinnen bist."
Es war das erste Mal, dass er nicht das Thema wechselte oder mit einer Antwort, die alles oder nichts bedeuten konnte, der Frage auswich: Klar und unmissverständlich wies er hier jede Schuld von sich. Ob sie ihm glauben durfte?
"Bist du sicher, dass du nicht doch einmal drinnen warst?", hakte sie nach und bemerkte im selben Moment, dass solche Fragen der Wahrheitsfindung wohl kaum dienlich waren. Er hatte recht: Sie bemühte sich, ihr Zimmer abzuschließen, wann immer sie es verließ. Und was den heutigen Tag betraf, war sie beinahe sicher, jedes Mal daran gedacht zu haben. Aber die Perlen auf dem Boden hätten ihr eigentlich auffallen müssen - sie konnten nicht allzu lange dort gelegen haben. Es musste gegen Abend passiert sein, vielleicht während des Abendessens. Ratlos betrachtete sie den Zahnpastafleck an seinem Mundwinkel. Schließlich seufzte sie. "Gut ... ich dachte nur, du könntest vielleicht damit gespielt haben. Wie letztens, als du morgens zu mir kamst. An unserem Piratentag."
Die Finger hörten mit dem Zupfen der Bettecke auf. "Ich war es wirklich nicht." Er zuckte die schmalen Schultern. "Vielleicht haben die Elfen damit gespielt. Elfen finden solche Sachen schön."
Emma ignorierte seinen fantasievollen Vorschlag. "Hm ... Weißt du, ob hier noch jemand Schlüssel zu den Zimmern hat? Gibt es mehrere Schlüssel zu den Türen hier oben?"
Wieder hob er die Schultern. "Weiß nicht. Myrna hat vielleicht welche."
Ja. Das konnte sein. Aber dass sie heimlich in ihr Zimmer kam, das Armband durch den Raum warf und es dann kaputt auf dem Boden liegen ließ, war sehr unwahrscheinlich. Dasselbe galt für Einin.
"Kannst du es nicht wieder heile machen?"
Sie versteckte ihre Besorgnis hinter einem Lächeln. "Ja klar, das kann ich. Ich werde Myrna oder Einin fragen, ob sie ein Stück Gummiband für mich haben, dann wird es wieder wie neu." Sie schüttelte den Kopf. "Es ist nicht so schlimm, weißt du ... ich hatte mich nur gefragt, wer da in meinem Zimmer gewesen ist." Sie stand von der Bettkante auf, ließ die Perlen in die Tasche ihrer Jogginghose fallen, schnappte sich seine Decke und schüttelte sie zurecht. "Wenn du einmal merkst, dass meine Tür offen ist, gehst du da bitte nur hinein, wenn ich es dir erlaube, hörst du?"
Als er mit ernstem Gesicht nickte, tat er ihr beinahe ein wenig leid. Wahrscheinlich verdächtigte sie ihn tatsächlich zu unrecht. Ihre Tür war den ganzen Tag über abgeschlossen gewesen; und dass sich offenbar trotzdem jemand Zutritt verschafft hatte, war ein Problem, zu dessen Lösung er wohl zu allerletzt beitragen konnte. Sie würde Einin fragen. Oder Myrna. Oder, besser noch, Hagan. Und ihn bitten, darüber zu schweigen und die beiden Frauen deswegen nicht anzusprechen, denn sie wollte niemanden zu Unrecht verdächtigen oder beschämen. So wichtig war es nicht - es war nur das Armband, und das konnte repariert werden. Aber es würde gut sein zu wissen, wer da außer ihr noch einen Schlüssel zu ihrem Zimmer besaß.
"So, Elfenkönig. Schlafenszeit." Sie nahm die Dinosaurier von seinem Bett und stellte sie auf dem Nachttisch auf.
"Du musst sie hinlegen", rief er empört, "sonst können sie nicht schlafen." Er ergriff die Plastiktiere und drehte sie auf ihre Seiten. Dann ließ er sich rückwärts in die Kissen fallen. Er gähnte. Mit einem Blick, dem man die Müdigkeit ansah, fixierte er sie - er schien zu genießen, dass sie da war.
"Gute Nacht, Shay. Schlaf gut. Und träum was Schönes." Sie hatte die Hand bereits am Schalter der kleinen Nachttischlampe.
"Emma ...?"
Hatte er sie schon einmal bei ihrem Namen genannt? Sie konnte sich nicht erinnern, es wäre ihr aufgefallen. Bisher schien er es jedenfalls geschickt zu umgehen. Ihr Lächeln fühlte sich unangemessen breit an. "Ja?"
Muss Mister Fairfield herkommen? Kannst du Papa sagen, dass er nicht herkommen soll?"
Sie nahm die Finger vom Schalter. "Mister Fairfield? Den kenne ich gar nicht. Wer ist denn das?"
"Er ist ein Lehrer. Er war schon mal hier. Im Sommer."
"Ach ... soll er dich unterrichten?"
Er nickte. "Ich kann ja nicht zur Schule gehen. Papa sagt, jemand muss unbedingt mit mir Schreiben üben. Und Lesen. Ich bin ja schon sieben."
"Und ... er hat gesagt, dass Mister Fairfield demnächst mit dir lernen soll?" Warum hatte man ihr davon nichts erzählt? "Also ... das ist doch eine tolle Sache. Warum willst du nicht, dass er herkommt? Ist er nicht nett?"
"Doch. Er macht immer Witze. Er bringt mich zum Lachen."
Sie stopfte die Decke um ihn fest. "Na, das ist doch super. So einen Lehrer hätte ich auch gerne gehabt, als ich sieben war. Warum ist es denn doof, dass er herkommt?"
"Weil er mit mir so komische Rechenaufgaben macht. Kannst du Papa sagen, dass ich nur Lesen und Schreiben lernen will ... und vielleicht noch was über Flugzeuge und Schiffe und das Meer und Wale und Aliens ... und sonst nichts?"
Emma musste lachen. "Das geht leider nicht", erklärte sie. "Jeder muss von allem etwas lernen. Wir können uns das nicht aussuchen. Weißt Du, man braucht diese ganzen Dinge später im Leben. Wenn man groß ist. Man muss von allem etwas wissen. Von der Sonne, dem Mond und den Sternen, von den Pflanzen und den Tieren, von Worten und Buchstaben. Und natürlich auch von den Zahlen."
"Musstest du auch Zahlen üben, als du sieben warst?"
"Ja, das musste ich. Ich hatte eine Lehrerin. Aber die war wirklich sehr doof. Niemand mochte sie. Sie war total bescheuert."
"Und dass du rechnen lernen musstest, fandst du das auch ... total ... bescheuert?"
Sein Wortschatz schien sich um ein neues "bad word" bereichert zu haben. Sie musste dringend auf ihre Ausdrucksweise achten. "Manchmal ja, manchmal nein", gestand sie wahrheitsgemäß. "Wenn die Lehrerin blöd ist, macht es meistens keinen Spaß. Aber mit einem Lehrer, der nett ist - und dazu auch noch witzig - hast du ganz bestimmt Spaß am Rechnen."
Er verzog den Mund. "Hab ich aber nicht."
"Vielleicht nicht am Anfang. Weil man da noch alles üben muss, alles ist neu und komisch. Aber später, wenn du dann die Zahlen richtig gut kannst - wenn du weißt, was sie bedeuten - dann fängt es an. Dann ist es wie ein Spiel, nur mit Zahlen. Rechnen ist wie ... ein Rätselspiel."
"Pirat spielen finde ich aber besser." Unter halb geschlossenen Augenlidern sah er sie an, er schien bereits mit seiner Müdigkeit zu kämpfen. "Wenn ich groß bin, werde ich auf jeden Fall ... Pirat ... oder ... ein Geschichtenschreiber wie Papa. Dann brauche ich keine Zahlen."
Sie strich ihm die dunklen Locken aus der Stirn. "Doch, die brauchst du, auch als Pirat. Du musst die Zahlen auf der Uhr kennen, damit du weißt, wie spät es ist und wie viel Zeit du noch hast. Und du musst deine Leute zählen können. Und die Tage ausrechnen, die dein Schiff bis zur Schatzinsel braucht. Und wenn du zwanzig Kanonenkugeln hast und vier davon abschießt, dass musst du ausrechnen können, wie viele du noch übrig hast. Piraten müssen unbedingt rechnen lernen. Und auch dein Vater muss manchmal rechnen."
"Mein Vater muss nicht rechnen. Er schreibt ja nur."
"Ja, er schreibt. Aber er muss auch ausrechnen, ob sein Verlag ihm genug Geld für seine Geschichten bezahlt. Und er muss ausrechnen, wie viel Geld er Myrna und Einin geben muss, sie bekommen ja ihren Lohn von ihm. Und ich auch. Außerdem muss er immer wissen, wie viele Tage er noch Zeit hat, seine Geschichte fertig zu schreiben, bevor er sie abgeben muss. Ein bisschen rechnen und zählen können muss jeder."
"Myrna auch?"
"Ja klar. Sonst tut sie hundertfünfzig Eier in den Kuchen und merkt es nicht einmal."
Als er lachte, nutzte sie die Gelegenheit und griff nach dem Lichtschalter. "So, du Held. Dein Mister Fairfield wird schon dafür sorgen, dass es dir auch ein bisschen Spaß macht mit den Zahlen, du wirst sehen. Aber jetzt ...", sie knipste das Licht aus, "... wird geschlafen."
Ende Teil 32
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