(5/6) Distanz
Liebe Tante Moni!
In jeder einzelnen Email an Dich entschuldige ich mich, dass ich so lange nichts von mir hören lassen habe; auch diesmal ist das wieder nötig, also: Entschuldige bitte! Ich sollte aufhören, so zu tun, als sei es die Ausnahme, dass ich Dich auf ein Lebenszeichen warten lasse. Die Wahrheit ist: Es ist die Regel. Und so wird es wohl auch bleiben, denn ich muss mich tatsächlich jedes einzelne Mal aufraffen, Dir zu schreiben.
Es liegt aber nicht an Dir, denk das bitte nicht! Alles ist in Ordnung, mit uns - und auch hier, in Irland. Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll ... wäre es ok, wenn ich Dir eine Zeit lang (vielleicht bis zum Frühling oder so) viel seltener und dafür mit viel weniger schlechtem Gewissen schreibe? Mach Dir bitte keine Sorgen um mich, es ist wirklich alles gut! Die Leute hier sind sehr nett und die Gegend ist das Schönste, was ich seit langem gesehen habe, trotz des ungemütlichen Wetters. Es ist wunderbar, hier leben und arbeiten zu dürfen, und ich bin gespannt auf den Frühling, wenn hier alles grün wird. Shay ist genauso zauberhaft wie anstrengend. Er schafft mich wirklich, aber ich gebe täglich alles und falle am Abend wie tot ins Bett. Sein Vater, Hagan, bestätigt mir, ich mache alles sehr gut. Shay hält mich ständig auf Trab! Wir sind so viel draußen, dass ich sogar ein wenig abgenommen habe, und das, obwohl Myrna, unsere Köchin, uns ständig mit dem leckersten Essen verwöhnt. Es war richtig, diese Stelle anzunehmen. Ich fühle mich so viel besser bei den O'Briains und habe den Stress in London schon ganz vergessen.
Aber ich brauche ein bisschen mehr Zeit am Stück und für mich allein. Vieles erscheint mir noch neu und ungewohnt, ich bin immer noch sehr müde von den fremden Eindrücken; gleichzeitig muss ich aber jeden Tag wach und präsent sein! Der Job ist super interessant, aber auch nicht ganz einfach. Darum denke ich, dass es das Beste wäre, wenn ich nun erst einmal ganz ankomme. Und mit den Gedanken bei mir bleibe, bis ich mich an alles gewöhnt habe. Verstehst Du das?
Diese Grätsche in meinem Kopf zwischen der neuen Realität hier und dem Gedanken, dass Du täglich unruhig und besorgt auf meinen regelmäßigen Bericht warten könntest, nimmt mir viel von meiner Konzentration auf das Wesentliche. Könnten wir es also so machen, dass ich mich zum Jahresende oder Anfang des neuen Jahres wieder mit einer längeren Email melde? Und dann vielleicht im Frühling wieder? Ich glaube einfach, ich muss mich ein wenig abnabeln, eine Weile ganz für mich sein. Dass jemand sich Sorgen macht, wenn ich mich nicht mindestens alle vierzehn Tage melde, macht mich unglücklich und setzt mich hier sehr unter Druck. Sicher gäbe es viel zu berichten, und ich will ja auch wissen, wie es Dir geht und wie die Arbeit an Deinem Haus voran kommt. Aber aktuell erscheint mir Griechenland unglaublich fremd und weit weg. Das hier - Shadow Hall - ist irgendwie eine ganz eigene Welt. Und ich kann nicht meine Füße und Hände hier haben und aber mit dem Kopf in zwei Welten zugleich sein.
Wenn es etwas wirklich wichtiges gibt, bei mir oder bei Dir, dann können wir uns das schreiben, ok? Am Montag sieht diese neue Betreuerin nach mir, Grace heißt sie. Mir fällt gerade auf, den Nachnamen weiß ich nicht mehr, ich hatte mir nur ihren Vornamen ins Handy gespeichert. Sie ist hier viel näher dran als Du. Wenn also irgendetwas ist, kann ich mich jederzeit an sie wenden. Und das werde ich! Du musst Dir also wirklich keine Sorgen machen. Du kannst Dich erst einmal ganz auf Dich und Deine Sachen konzentrieren, und dasselbe werde ich hier tun.
Bitte gib mir Nachricht, was Du davon hältst, ja? Ich weiß, dass Du ganz wunderbar in Griechenland klar kommst. Ich wäre froh und dankbar, wenn es Dir, was mich und mein Leben hier betrifft, genauso ginge. Es gibt wirklich keinen Grund, dass Du Dir irgendwelche Gedanken um mich machst, alles läuft bestens und man achtet hier sehr darauf, dass es mir gut geht. Mir fehlt nichts.
Ich hatte Dir Bilder versprochen, ich weiß. Ich werde mich beeilen, Dir ein paar Fotos zu schicken, damit Du Dir alles besser vorstellen kannst. Das Haus und die Umgebung sind so schön, mein Zimmer ist super muckelig, und vielleicht kann ich auch Shay überreden, sich von mir fotografieren zu lassen. Und Myrna, unsere Köchin, und Einin. Oder am besten gleich alle zusammen! Der arme Shay ist über den Verlust seiner Mutter so durcheinander, er tut mir sehr leid. Ich fange schon an, ihn richtig gern zu haben. Oft ist er still und in sich zurück gezogen. Aber er kann auch anders, und seine Fantasie springt ihm manchmal aus allen Knopflöchern. Er ist ein seltsamer, ernster, aber auch so hübscher Junge, Du wirst es auf den Bildern sehen. Ich bin noch nicht sicher, was er dazu sagen wird, wenn ich ein paar Fotos von ihm machen will. Vorsichtshalber werde ich erst mal seinen Vater fragen, ob es überhaupt in Ordnung ist. Also - lass mir ein paar Tage Zeit, dann erhältst Du zumindest schon einmal Bilder von der Gegend hier und dem Haus. Und vielleicht ja auch von seinen Bewohnern.
Schreib mir noch kurz, wie Du mit Deinen Arbeiten voran kommst! Ich denke oft an Dich. Im Sommer werde ich Urlaub nehmen und Dich besuchen. Dann haben wir viel Zeit, uns alles zu erzählen, was in der Zwischenzeit passiert ist. Bis dahin fühl Dich herzlich gegrüßt von mir.
Emma
PS: Es ist saukalt hier an der Küste. Ich habe den Schal eingeweiht, den Du mir im letzten Jahr geschenkt hast. Den bunten mit den langen Fransen. Er macht meine Haare total elektrisch, aber ich liebe ihn! Und Dein Armband liegt immer auf der Kommode neben meinem Bett. Es ist schön, etwas von Dir hier zu haben.
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Mit großer Aufmerksamkeit - beinahe, als würde sie den Brief einer Anderen lesen - war sie den Text ein letztes Mal durchgegangen. So konnte es gehen. Tante Moni würde verstehen, was sie mit "abnabeln", mit "Zeit für sich allein" meinte. Ansonsten klang alles so glatt und normal, dass es sie erschreckte. Sie wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. Was sie hier jetzt tat, war so paradox! Und doch erschien es ihr in der Situation das einzig Richtige. Die Erwartungshaltung ihrer Tante, ihr spürbarer Wunsch nach regelmäßiger Berichterstattung, drückte so sehr in ihrem Nacken, dass sie es ausbremsen musste.
Weil ... sie nicht klar kam. Überhaupt nicht, zurzeit jedenfalls nicht. Und weil sie keine Ahnung hatte, was und wie sie darüber schreiben sollte. In ihrem Kopf war nichts als Chaos! Der Ort war wunderschön, das Haus beeindruckend, ihr Zimmer freundlich und gemütlich - und auch die Familie war sehr nett und offen, sie fühlte sich nicht allein, jedenfalls absolut nicht so wie bei den Saunders in London. All das entsprach der Wahrheit. Sie hatte nichts besser dargestellt als es war. Es war ... wirklich gut. Aber die Schatten in den Ecken, die halb durchwachten Nächte und die eigenartigen Bilder, die ihr immer müder Kopf ständig herauf beschwor, das Wispern und Flüstern in ihren Träumen, die Kälte hinter den Türen und auch die riesigen kahlen Bäume ringsum, die ihre Arme und Finger nach ihr ausstreckten - all das hatte bereits seit ihrer Ankunft vor vierzehn Tagen unmerklich und subtil ihre dünne Haut durchdrungen. Sie durchlässig gemacht für etwas, das sie nicht verstand.
Mittlerweile schien es ihr, als lebte sie in einer doppelten Welt. Einerseits gab es die klare Realität der Tagesereignisse und gewohnten Abläufe, nichts daran war zu fürchten oder auch nur zu bemängeln. Es war vielleicht ein bisschen zu still, die Abwechslung fehlte. Aber es gab warme und freundliche Momente und Situationen, manchmal lachten sie und hatten Spaß miteinander, obwohl das rätselhafte Verschwinden von Rosalie und die Trauer des Jungen die Tage wie Nebel durchdrangen. Doch, es war gut, dieses Reale. Gut genug, um es auszuhalten. Aber dann gab es dieses Düstere, Irreale - von dem sie nicht mehr sagen konnte, ob es von ihrem Schlafmangel und der fremden Umgebung herrührte, ob Shay mit seinem Verlustdrama und seinem Leiden es in ihr heraufbeschwor ... oder ob es vielleicht sogar erste Anzeichen einer Erkrankung waren, die hier aufbrach und an alten Wunden zerrte. Weil sie hier nun zum ersten Mal seit Abschluss ihrer Therapie auf Themen stieß, an denen sie noch vor drei Jahren selbst hart zu knabbern gehabt hatte.
Und sie zog Geister an. Das hatte diese fürchterliche Großmutter der Chapman-Kinder gesagt, und um ganz ehrlich zu sein: Es machte ihr die Einschätzung der Situation nicht leichter, im Gegenteil. Was bedeutete das - dass man Geister anzog? Sie war viel zu müde und überfordert, als dass sie gerade gut trennen konnte, was realistisch anzunehmen war und was nicht. Es gab keine Geister, nicht wirklich. Das waren Geschichten, wie sie wohl zu allen alten Häusern gehörten. Solche Dinge zu glauben half ihr absolut nicht, wenn das, was sie sah und spürte, genau das war: geisterhaft.
Sie musste auf sich aufpassen. Denn was diese ... Wahrnehmungen ... betraf, war sie weitgehend allein mit ihren inneren Handicaps. Vielleicht war es die einsame Gegend, ihre eigene Fantasie, angeregt durch die alten Mauern und Räume. Die Atmosphäre im Haus, die Jahreszeit, das viele Grau und Braun ringsum. Oder konnte Shay das in ihrem Kopf bewirken? Seine melancholische Art, seine Geheimnisse, sein ernstes Gesicht beeinflussten sie wahrscheinlich mehr, als sie sich eingestehen wollte.
Sie brauchte dringend mehr Überblick. Mehr Stabilität, eine schnelle und wirkungsvolle Beruhigung ihrer Nerven und Situation. Und da sie Shay, dessen Unglück und wie sich dieses äußerte, nicht gut abstellen konnte, sondern sich im Gegenteil darauf einlassen musste, blieb nur eines übrig, was jetzt helfen konnte: Sie musste jeden Stress und Druck, der verzichtbar war, vermeiden. Ganz sicher hatte sie nicht vor, das Psychozeug, mit dem sich ihr Unterbewusstsein offenbar herum schlug, über Meere und Länder hinweg mit ihrer Tante zu besprechen. Denn was sollte das bringen, in der jetzigen Situation? Sie konnte ihr doch nicht helfen, sie war ... nicht hier.
Nein, sie war jetzt nicht hier, sie sah und hörte und spürte das alles nicht. Also musste sie sich auch nicht unnötig um ihre Nichte sorgen. Am besten war es, wenn sie von alldem gar nichts erfuhr. Ganz sicher würde es sich bald von selbst auflösen.
Emma wischte sich die Nase. Bereits bei ihrer ersten Begegnung mit dem Jungen hatte festgestanden, dass er derjenige war, der Hilfe brauchte; sie wollte diesbezüglich nicht mit ihm in irgendeine schräge Konkurrenz geraten. Nein, sie war nur ein wenig mitgenommen durch all das Neue und ... vielleicht war sie auch einfach noch nicht so stabil, wie sie gedacht hatte. Depressionen waren jedenfalls das Allerletzte, was sie hier nun gebrauchen konnte. Sie musste sich dagegen stemmen, mit allem, was sie gelernt hatte.
Das zusammengeknüllte Taschentuch flog zu den anderen auf die Bettdecke. Ihre Nase war verstopft; sie atmete durch den Mund ein, hielt die Luft an - und dann tippte sie auf SENDEN.
Ende Teil 31
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