(5/5) Am Tor
Bis zum Mittag spielten sie bei dem alten Stall, und danach im von der Küste abgewandten Teil des Waldes. Shay zeigte ihr mit miesen Tricks und großer Ungeduld, wie ein echter Pirat kämpfte, und als er sie endlich aus dem Training entließ und sie für gut genug befand, bauten sie mit Zweigen und Ästen eine Art Unterschlupf. Ein großes Stück Pappe entwendeten sie aus dem Schutthaufen vor dem Stall, es schützte ihre Freibeuterhintern vor dem kalten Boden. Im Laufe des Nachmittags ergaunerten sie bei Myrna erst zwei Äpfel, dann eine Puddingschüssel voll Nüsse - und mit Shays Dolch vor dem Bauch händigte sie ihnen auch noch vier Scones vom Frühstück aus. Diese luchsten sie dann ihren Feinden, den Wikingern, ab und teilten die Beute anschließend in ihrem Piratennest mit allen imaginären Mitpiraten. Eine alte Decke, die sie von der einen Seite her über die zeltartige Konstruktion gebreitet hatten, schützte sie einigermaßen vor der Kälte des Nachmittags. Emma musste statt ihrer linken Hand einen Enterhaken tragen, was im Kampf sowohl hinderlich als auch ein kleines bisschen nützlich war, solange sie den kaputten Kleiderbügel nicht dauernd aus ihrem Ärmel verlor.
Irgendwann wurde es Abend und der Himmel zog sich zu. Die letzten rotgoldenen Strahlen, die die untergehende Sonne zwischen den Stämmen der Bäume hindurch schickte, erloschen und verschwanden. Wind bewegte die Wipfel, das abgestorbene Laub über ihren Köpfen wisperte und rauschte. Dann sickerte blaue Dunkelheit herab und die Farben wurden matt. In ihrem Piratenloch wurde es finster.
Mir ist kalt", sagte Emma und zog die klammen Hände in die Ärmel ihrer Jacke hinauf. Ihre Finger nahmen dankbar die Wärme an, die sie in die Tunnel der gerippten Bündchen hinein hauchte. "Was meinst du - wollen wir ins Haus gehen?"
Shay sah sich zwischen den Bäumen um. Er zuckte mit den Schultern. Seine roten Wangen glühten in der Dämmerung. Er wirkte unentschlossen.
"Ich habe keine Ahnung, wie spät es ist", erklärte sie. "Es gibt bestimmt bald Abendessen." Sie fürchtete die Auseinandersetzung mit ihm, aber es wurde Zeit; sie brauchten keine Uhr, um zu wissen, dass dieser Tag zu Ende war. Ihr Magen sehnte sich spürbar nach einer warmen Mahlzeit, außerdem war sie so müde wie schon lange nicht mehr. Den ganzen Tag hatten sie draußen an der frischen Luft verbracht. Es mussten Kilometer sein, die sie heute gelaufen waren, und die Äste und Steine, an denen sie sich stundenlang abgearbeitet hatten, machten sich mittlerweile als Muskelkater in ihren Armen bemerkbar. Gerade wollte sie ihm verdeutlichen, dass ihre Worte mehr Ankündigung als Bitte waren, da blitzte es in seinen Augen auf; bevor sie reagieren konnte, drehte er sich um und lief davon.
Er wandte sich tatsächlich Richtung Haus. Wie überraschend, dass sie endlich einmal einer Meinung waren! Das kam nicht allzu häufig vor, insbesondere, wenn es darum ging, ein Ende des Spiels zu finden. Diesmal aber schien ihr das übliche Theater erspart zu bleiben. Sie nahm die Decke von der Hinterseite der Piratenhöhle weg, stopfte sie sich unter den Arm und folgte ihm durch die Bäume. Als sie an die Böschung kam, brauchte sie einen Moment; den freien Arm um die dürre Buche geschlungen ließ sie sich langsam über das rutschende Erdreich hinab.
Der Weg lag bereits im Abendnebel. Im trüben Halblicht war die Biegung, die fünfzig Meter weiter vorne zum Haus führte, nicht auszumachen.
Einem unwillkürlichen Schauder folgend beschleunigten sich ihre Schritte wie von selbst. Sie konnte nicht anders - mit einer Vorsicht, für die die rationale Ecke ihres Kopfes sich schämte, blickte sie sichernd hinter sich. In der Dämmerung war ihr dieser Abschnitt des Weges noch immer nicht ganz geheuer. Im Wald hatten die Baumwipfel gerauscht, man hatte Krähen rufen und Äste und Zweige knacken gehört. Hier jedoch schien der Nebel sämtliche Geräusche zu verschlucken, nur der dumpfe Klang ihrer Stiefel echote in ihren Ohren. Die Stille ringsum vermittelte ihr das subtile Gefühl, beobachtet zu werden. Wenn ihre Schritte bereits beim Gehen so laut klangen - müsste sie ihn da nicht laufen hören? Sicher war er bereits in den Hof abgebogen. Sie steigerte ihr Tempo. Ihr Atem dampfte vor ihrem Gesicht.
Erst als vor ihr die verschnörkelten Torflügel auftauchten, wagte sie einen weiteren Blick über die Schulter zurück. Hinter ihr hatte der Dunst den Weg in ein farbloses Nichts verwandelt. Der Himmel drohte in düsterem Grau. Es war beinahe dunkel.
Sie ergriff das kalte Schmiedeeisen, zog das Tor ein wenig weiter auf und wollte gerade hindurch schlüpfen, als über dem Eingang des Hauses das trübe Licht an ging. Die Tür öffnete sich und Myrna erschien auf der Treppe. Sie stellte eine Laterne auf der Balustrade ab, dann stand sie da, das runde Gesicht aufmerksam in ihre Richtung gewandt.
Emma blieb stehen. "Ist Shay schon drinnen? Er ist mir gerade ausgebüxt!"
Ihr war unbehaglich zumute, als ihr Rufen den Nebel durchdrang; sie mochte in dieser eigenartigen Stille nicht auf sich aufmerksam machen.
Als Myrna in einer unwissenden Geste die runden Arme hob und den Kopf schüttelte, hörte sie rechts neben sich ein verdächtiges Kichern. Schnell winkte sie ihr zu. "Oh ... er ist noch hier draußen! Ich bringe ihn mit, wir kommen gleich!"
Lauschend wandte sie sich in die Richtung, aus der das Lachen gekommen war. Er nutzte die hereinbrechende Dunkelheit, um ihr einen Streich zu spielen! Insgeheim seufzte sie - ihr hätte klar sein müssen, dass da noch etwas kam. Aber sie würde ihn schon einfangen! Die alte Decke war im Weg, sie brauchte beide Hände. Sie ließ sie vor dem Tor auf den Boden fallen, dann wandte sie sich den Büschen zu, die neben dem Eingang zum Hof den Weg säumten. Nach seinem Kichern hatte er nichts mehr von sich hören lassen.
Komm raus, ich hab dich gesehen", flunkerte sie. Zwei Dampfwolken lang wartete sie. Eine dritte löste sich im Dunst auf. Nichts.
Sie begann sich schon albern zu fühlen, wie sie so in der Dunkelheit vor dem knorrigen Gebüsch stand und lauschte, als ... etwas mit ihr geschah. Urplötzlich und ohne erkennbaren Grund wechselte ihre Stimmung; es war ein völliger Wegfall dessen, was gerade noch ihre Gefühlswelten beherrscht hatte, sie fand sich in einem stürzenden Chaos von Angst und Verlust wieder, die sie beinahe weinen ließen. Es war so tief, so unendlich stark, dazu überwältigte sie eine Einsamkeit und Verlassenheit, die ihr das Herz zusammen krampfte, dass sie nicht mehr wusste, wohin mit sich. Instinktiv wollte sie fliehen, in den sicheren Hof hinein, ins Haus, irgendwo hin - aber ihre Beine schafften es gerade die wenigen Schritte bis ans Tor zurück, dann konnte sie nicht weiter. Ihre zitternden Hände ergriffen die eisernen Ranken, Halt suchend hielt sie sich so, während etwas ihr sagte, sie solle sich umdrehen. Zögernd, in völliger Verwirrung über ihren furchtbaren Zustand und die dunklen Bilder, die sich in ihr auftaten, wandte sie das Gesicht vom Tor weg und sah in den Nebel hinein. Und da kam sie heran.
Schon bevor sie auf Höhe des Tores war, ihr Bündel stumm an sich gepresst, die dunklen Augen in dem blassen Gesicht nach vorne gerichtet, erkannte sie sie. Nicht an ihrem Äußeren, denn auch, als sie aus dem Nebel auftauchte, war sie kaum wirklich zu erkennen - sondern an der Wolke von Gefühlen, die sie um sich trug. Es lag in ihrer Aura, es war spürbar, schon Sekunden, bevor sie aus dem Dunst trat. Und sie erkannte sie wieder, erinnerte sich klar und deutlich. Nicht nur an die Nacht, als sie mit Flanns Wagen durch sie hindurch gefahren waren, sondern auch an später, als sie in ihrem Traum plötzlich im Eingang der Halle gestanden hatte. Immer war ihr Leid ihr voraus geflutet wie eine Welle, nur war es bald darauf wieder vergessen gewesen, und auch später hatte sie sich nicht erinnert. Aber jetzt war alles wieder da.
Gelähmt und vollkommen unfähig, sich zu rühren oder auch nur einen Mucks von sich zu geben, stand Emma da und wartete, hoffte, sie würde vorbei ziehen. Ihr Herz hielt an, als die Frau unmittelbar vor ihr stehen blieb, sich ihr zuwandte und ... sie ansah. Der Moment war vollkommen zeitlos. Es war, als zöge es sie in das Zentrum eines Sturmes hinein, denn nichts regte sich mehr in ihr. Da war ein völliges Vakuum, keine Spur eines Gedankens oder Gefühls, und auch die wirren Bilder, die sie sich genauso wenig erklären konnte wie alles andere, fielen auf einmal weg.
Sie wurden eins. Es gab keine Zeit mehr, keinen Ort, keinen Hinweis auf normalweltliche Realität, sondern nur noch das, was sie später in Ermangelung eines besseren Begriffs Kommunikation nennen würde. Dabei übermittelte sie ihr nicht viel, und doch war es unendlich bedeutungsvoll: Sie fragte nach Davy. Davy, fragte sie mitten in ihre Seele hinein, und Emma wusste nichts zu antworten, denn was hätte sie ihr auch sagen sollen? Sie wusste nicht, wer Davy war und warum sie nach ihm fragte. Sie wusste nur eines: dass sie in diesem Moment eins waren, dass es auch ihre eigene Frage, ihr eigenes Leid war. Und dass es aufhören musste.
Noch während sie einander anstarrten, wachte sie langsam aus ihrem leeren Zustand auf. Der Wind raunte in den Wipfeln, hinter sich, in der Ferne, hörte sie Myrna mit Shay schimpfen, er solle mit seinen Stiefeln den Gesindeeingang nehmen und sich die Hose abklopfen. Sie hatte sich geirrt, er war nicht im Busch gewesen. Und wenn sie gedacht hatte, die Frau würde ihr ins Gesicht blicken, so war auch das ein Irrtum, sie erkannte es jetzt. Denn ihr Blick ging durch sie hindurch. Und durch das Schmiedeeisen hinter ihrem Rücken. Sie sah direkt zum Haus hinüber. Und als Emma blinzeln musste und endlich wieder atmete - als sie beide Hände über ihrem Herzen auf die Jacke presste, die Augen schloss und sie wieder öffnete, da war sie ... verschwunden.
Eilig raffte sie die Decke vom Boden hoch, drängte sich am Torflügel vorbei und stolperte auf tauben Beinen in den Hof hinein. Verwirrt und zutiefst erschrocken wandte sie sich noch einmal um, wollte sicher gehen, das sie ihr nicht folgte. Aber da war nichts mehr. Ihre schmale Gestalt war fort, verschluckt von Nebel und Dunkelheit.
Ende Teil 30
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