(4/3) Das dunkle Zimmer
Atemlos lief Emma in den Hof hinein. Wie schnell er im Nebel verschwunden war! Auch jetzt sah sie ihn nirgends. Ob er den Hintereingang genommen hatte? Sie warf einen Blick auf ihre verdreckten Stiefel. Damit wollte sie ungern die Halle betreten, Myrna Sullivan würde ihr die Hölle heiß machen. Also wandte sie sich nach links, um dem gepflasterten Weg zur Rückseite des Hauses zu folgen.
Beinahe hatte sie die Ecke des Gebäudes erreicht, da nahm sie im Augenwinkel eine Bewegung wahr. Da war etwas - im Fenster, unter dem sie gerade vorbei laufen wollte. Sie hielt an, starrte zu der mit hellen Sprossen unterteilten Scheibe hinauf. Dieses letzte Fenster in der Reihe war zur Hälfte von Efeu bedeckt, die dichten, dunkelgrün belaubten Verästelungen wucherten vom Kaminschacht herüber, der gleich daneben lag. Staub und Dreck von den Bäumen ringsum hatte sich als matte Schicht auf dem Glas abgelagert. Dahinter herrschte Dunkelheit. Entweder fiel hier wegen des Efeus kaum Tageslicht hinein, oder die Scheibe war von innen durch einen dunklen Vorhang verdeckt. Genau war das nicht zu sagen, denn das Fenstersims lag auf Höhe ihrer Stirn; es war ihr nicht möglich, in den Raum hinein zu sehen.
Ob es der Junge gewesen war, der sich dort oben bewegt hatte? Wollte er sehen, wo sie blieb? Aber so schnell war er wohl kaum ins Haus gekommen, er musste sich ja erst seiner dreckigen Schuhe entledigen. Sicher war es nur eine Reflexion. Ein hell gefiederter Vogel vielleicht. Eine Taube, die im Tiefflug über den Hof gehuscht war.
An der Gesindetür streifte Emma ihre Stiefel ab und schlüpfte auf Socken in die schmale Diele. In der Küche, die gleich rechts lag, rumpelte es mehrmals und das Murmeln einer weiblichen Stimme drang an ihre Ohren. Als sie unter dem niedrigen Türrahmen hindurch lugte, fand sie Myrna vor dem alten Herd kniend. Sie war damit beschäftigt, Feuerholz in die Öffnung zu schieben. Als sie Emma sah, richtete sie den Oberkörper auf und schnaufte. "Er ist dir entwischt", stellte sie trocken fest.
Emma hatte das Bedürfnis sich zu verteidigen. "Oh, nein, das ... gehört zum Spiel. Wir haben ein Wettrennen zum Haus zurück gemacht. Er war schneller als ich."
"Ah", stieß die Haushälterin aus und setzte ihre Arbeit fort. Der Raum unterhalb der Ofenklappe schien eine Menge Holz zu fassen.
Als Myrna nach den nächsten beiden Scheiten griff, streifte ihr Blick Emmas Socken. "Tut mir ja leid für dich, dass du ausgerechnet im Winter herkommen musstest. Der Boden ist kalt. An manchen Tagen ist es drinnen so ungemütlich wie draußen. Zieh dir bloß schnell etwas an die Füße, sonst erwischt es dich noch so arg wie mich." Sie ließ die Scheite vor ihren Knien liegen, zog ein Taschentuch aus ihrer Schürzentasche und schnäuzte sich laut und ausgiebig. "Hab mir was einfangen unterwegs."
Während Myrna redete, lauschte Emma über den Flur und in die Tiefe des Hauses hinein. Es würde gut sein, wenn sie an ihrem ersten Kontakt zu Shay anknüpfen konnte, sie wollte nicht zu viel Zeit verstreichen lassen. Vielleicht hockte er jetzt irgendwo und wartete darauf, dass sie ihn fand. Aber sie wollte nicht unhöflich sein.
"Dann mussten Sie am Bahnhof lange auf Shay warten? Es ist wirklich sehr nass und kalt heute."
Die Zitronenkuchenfrau hob verwundert die Augenbrauen. "Warten? Wozu das? Der Zug brauchte, so lange er brauchte. Wir haben uns die Zeit damit vertrieben, die Tiere und Menschen zu zählen, die wir im Vorbeifahren entdecken konnten. Und unser Taxi haben wir uns unter denen gesucht, die immer am Bahnhof stehen. Es gab nichts zu warten."
"Dann waren Sie es, die Shay nach Dublin und zurück begleitet hat?" Was Myrna da erzählte, irritierte Emma einigermaßen. "Ich dachte, Sie hätten ihn vorhin nur vom Bahnhof abgeholt?"
Myrna schnaufte wieder, diesmal klang es ungehalten. "Natürlich habe ich ihn begleitet, Kind. Wer außer mir sollte das tun? Er hat ja niemanden sonst. Und er konnte die lange Strecke ja schließlich nicht allein machen. Hab' meine Schwester in Dublin besucht bei der Gelegenheit und ihn nach zehn Tagen wieder eingesammelt. Hatte bei seinem Onkel eine gute Zeit, der Junge. Und ich", sie erhob sich ächzend, indem sie sich an der Kante des wuchtigen Herdes hochzog, "ich muss ja auch mal Urlaub machen."
Das nachdenkliche Gesicht, dass Emma zeigte, schien ihr aufzufallen. "Ist was, Mädchen? Du siehst ja so verschreckt aus."
"Oh ... ich dachte nur, ich hätte Sie gestern und heute morgen auf der oberen Etage gehört. Aber dann war es wohl ... das Mädchen."
"Das Mädchen? Du meinst Einin? Nein, die hat ebenfalls zwei Wochen Urlaub genommen. Fünf Tage noch, wenn ich mich nicht verzählt hab', dann ist sie wieder da."
Sie ging zu dem langen Tisch hinüber, auf dem ein Haufen Zeitungen lag, und begann die einzelnen Bögen zu Knödeln zusammen zu drücken.
"Ja, wir nehmen unseren Urlaub in dieser Zeit des Jahres meistens zusammen. Mr. Ò Briain kommt gut allein zurecht und das Haus ebenfalls. Sein Sohn ist regelmäßig eine Weile in Dublin, das tut beiden gut. Wenn er allein ist und sich nicht um den Jungen kümmern muss, schreibt er mehr - wenn er nicht mit Flann Doyle drüben beim alten Stall rackert." Seufzend nickte sie Richtung Fenster. "Männer, sag' ich dir! Was die an 'nem so herunter gekommenen Gemäuer wohl finden! Haben zu viel Fantasie, die beiden, wenn du mich fragst." Sie warf den Kopf in den Nacken und verdrehte die Augen. "Ha, ein Gästehaus! Hier, in Shadow Hall! Träumer sind das. Abreißen würd' ich den Stall, da ist nichts zu retten. Als ob es nichts wichtigeres zu tun gäbe! Der Roman muss fertig werden, er arbeitet Tag und Nacht daran."
Shays Vater schreibt?" Emma hatte sich noch gar nicht gefragt, womit er beruflich beschäftigt war.
Myrna warf die locker geformten Zeitungsbälle in ihre weite Schürze und trug sie zum Ofen hinüber. "Oh ja, das tut er, und zwar sehr erfolgreich", erklärte sie und Emma konnte einen gewissen Stolz heraus hören. "Einen Knick hatte er im letzten Jahr, konnte nichts mehr fertig bringen, als seine Frau ... verschwand." Sie machte große Augen, wies erneut zum Fenster hinaus. Ihre robuste Stimme schrumpfte zu einem Flüstern. "Der Nebel hat sie geholt. Die Geisterwelt. Ich schwör' s."
Sie schüttelte den Kopf, als sei dies ein Fakt, den selbst sie kaum glauben konnte. Ein Zeitungsball nach dem anderen verschwand hinter der rostigen Klappe. Als sie sich schließlich wieder aufrichtete und die Hände in ihrer Schürze abwischte, hatte ihr Gesicht etwas Nachdenkliches. "Ist ja klar, dass einem da die Kreativität flöten geht." Unter den über den Tisch verstreuten Zeitungsbögen fischte sie den Anzünder hervor. "Der arme Mann. Das war ein Schock, diese Geschich..." Das kräftige Niesen, das ihre Worte unterbrach, ließ Emma instinktiv zurück weichen; sie war sowieso bereits angeschlagen, sie durfte sich jetzt nicht anstecken. Myrna ließ den Anzünder in ihre große Schürzentasche fallen und griff nach dem Taschentuch, das sie sich in den Ärmel gesteckt hatte. "Hat uns alle Nerven gekostet. Was bin ich froh, dass er wenigstens wieder schreibt. Geht sonst noch alles den Bach runter hier."
Emma konnte nicht einschätzen, ob die weinerliche Stimme und das ausgiebige Schnäuzen mit dem Verschwinden von Hagans Frau oder mit der Erkältung zu tun hatten. Sie wandte den Kopf zum Flur hinaus. Die Tür zur Halle stand offen, aber Shay war weder zu hören noch zu sehen. "Ich gehe dann mal", verabschiedete sie sich, als Myrna nichts mehr sagte. "Ich will sehen, ob ich ihn finden kann."
Die Haushälterin nickte. Ihre Worte kamen langsam. "Wenn man glaubt, man hat den Jungen, dann ... ist es doch nur die Hülle, die man erwischt hat." Sie tippte sich vor die Brust. "Er ist irgendwo da drinnen, vermute ich. Gesehen habe ich ihn aber schon lange nicht mehr." Sie betrachtete Emma mit ernster Miene. "Vielleicht schaffst du es ja, zu ihm vorzudringen. Falls du so lange bleibst. Ich fände das gut für den Jungen. Er kann jemanden gebrauchen, der ... sich auf die Suche nach ihm macht. Viel Glück."
Im Herd begann es zu rauschen und zu knacken. Emma schluckte. Sie spürte das Relief des Türrahmens, an dem sie sich festhielt, eigenartig intensiv unter ihren Fingern. Ihre Hand glitt daran herunter. "Danke" war alles, was ihr zu Mynas Worten einfiel. Sie nickte ihr zu, dann wandte sie sich ab.
Es war schwierig ihn zu finden. Erst als sie ein zweites Mal bis in die Mitte der Halle schlich und dort still stehen blieb, meinte sie etwas zu hören, was sich von den geschäftigen Geräuschen, die aus der Küche herüber drangen, unterscheiden ließ.
Es war dasselbe Klopfen, das er auch im Wald veranstaltet hatte: zwei Schläge, Pause. Zwei Schläge, Pause. Wenn er das gewohnheitsmäßig machte, würde es zukünftig nicht allzu schwer sein, ihn zu finden. Lauschend, auf leisen Socken, folgte sie dem dumpfen Klang zur linken Seite hinüber, wo der Treppenaufgang lag. Von oben schien es nicht zu kommen; aber hinter dem Geländer, das in den vorderen Bereich der Halle hinein ragte, gab es zwei Türen, die in den westlichen Flügel zu führen schienen. Ihre Wahl fiel auf die rechte - sie war schmal und trug eine verblasste Bemalung. Da waren graue Dornenranken, in deren Mitte Emma den Schatten einer einzelnen Rosenblüte erkannte. Als sie die Tür aufzog und vorsichtig dahinter spähte, fand sie nur Berge von gebügeltem Tischleinen und einige ordentlich gestapelte Schachteln vor. Es war ein Wandschrank. Unsicher wandte sie sich um; sie wollte keine Dinge berühren, an denen sie nichts zu suchen hatte.
Nach einer Pause setzte der Rhythmus wieder ein. Er schien eindeutig von dieser Seite des Hauses zu kommen. Sie lächelte - es war, als wollte Shay von ihr gefunden werden.
Die linke Tür führte in einen Flur; trübes Tageslicht fiel durch ein Fenster hinein. An der Wand stand ein Sofa, das aussah, als stammte es ungefähr aus dem Barock. Dazu passten die vier Gemälde, die darüber aufgehängt waren. Im Vorbeigehen ließ sie ihre Finger über den verschlissenen petrolfarbigen Stoff des Sitzmöbels gleiten. Diese Ecke des Hauses hatte Hagan ihr nicht gezeigt.
Der Gang endete bei einer Tür, die offen stand. Emma schlüpfte hindurch und betrat einen quadratischen, ebenfalls mit einem einzelnen Fenster versehenen Vorraum. Von diesem gingen zwei weitere Zimmer ab, die die äußere Ecke des Hauses bilden mussten. Die dumpfen Schläge waren hier lauter zu hören als in der Halle, ihr Rhythmus dröhnte durch Wände und Böden an ihr Ohr. Er musste hier irgendwo sein.
Sie entschied sich für die linke Tür. Wenn der Raum dahinter zwei Fenster besaß - wovon man bei den großzügigen Proportionen der Zimmer dieses Hauses ausgehen durfte - musste dies der letzte Raum vor dem Kaminschacht sein; der mit dem Fenster, hinter dem sie eine Bewegung gesehen hatte.
Ihr Herz schlug schneller. Bisher war alles ein Spiel gewesen, daher wunderte sie sich über dieses plötzliche Gefühl der Beklemmung. Der Klang der Schläge, die eindeutig derselben Art waren, wie Shay sie bereits im Wald an dem Baum gezeigt hatte, ermutigte sie schließlich die schwere Klinke herunter zu drücken. Sie fühlte sich auffällig kalt an. Was ihr Blut aber gefrieren ließ, war die Luft, die ihr entgegen schlug, als sie die Tür aufdrückte. Hinter dem schweren Türblatt lauerte pechschwarze Dunkelheit. Und eine Eiseskälte, die nicht normal war. Selbst draußen war es nicht annähernd so kalt. Und nicht nur das: Diese Kälte schien erfüllt mit etwas Lebendigem, das sich aufdrängte. Es war, als drückte es sich mit Gewalt gegen sie, gegen ihr Gesicht, ihren Oberkörper.
Erschrocken ließ sie die Klinke los und wich zwei Schritte zurück. Einen entsetzlichen Moment lang stand sie da, starrte gebannt in die dichte Dunkelheit hinein, die hinter der halb geöffneten Tür drohte, konnte sich nicht abwenden - dann endlich, als sei sie aus einer Trance erwacht, blinzelte sie und atmete gegen den Druck in ihrer Brust an. Wild schnappte sie nach dem kalten Metall der Klinke und stieß die Tür wieder zu.
Bilder erschienen plötzlich in ihr, machten sie blind für die Umgebung und ein Frösteln schüttelte sie hart. Es dauerte nur zwei oder drei Sekunden, aber diese fühlten sich an wie eine kleine Ewigkeit. Wie ein Film war es - ein Film, der viel zu schnell lief und viel zu dunkel belichtet war: vor ihrem inneren Auge hatte sie eine Klippe gesehen, das Meer, sturmgepeitscht, hohe Wellen zerschlugen an den steilen Felsen und weißer Schaum leuchtete in der Dunkelheit. Strange news is come to town, strange news is carried.
Sie konnte sich gerade noch fangen, beinahe wäre sie hintenüber gefallen. Die Hand auf ihr rasendes Herz gedrückt wandte sie sich zu der anderen Tür, die rechts neben der dunklen Kammer lag. Einen Moment zögerte sie, die Hand bereits nach der Klinke ausgestreckt. Das Schlagen, der Rhythmus - wann hatte es aufgehört? Die Stille rauschte in ihren Ohren. Plötzlich wollte sie doch nicht mehr in den zweiten Raum hinein sehen. Ohne nachzudenken machte sie kehrt und lief zurück in den Gang mit dem Sofa. Sie öffnete das Fenster, das gegenüber lag, atmete tief ein und aus, versuchte sich zu beruhigen. Immer wieder schielte sie zurück in Richtung der beiden Zimmer; obwohl sie die Tür zwischen sich und dem quadratischen Vorraum instinktiv zugeworfen hatte, war ihr, als könnte von dort etwas Bedrohliches kommen. Der Abstand reichte ihr nicht. Sie würde da nicht wieder hinein gehen. Lieber wartete sie ab, dass Shay von selbst wieder auftauchte. Spätestens zum Essen musste er heraus kommen.
Als sie dem westlichen Flügel den Rücken kehrte, um wieder in die Halle zurück zu laufen, hörte sie hinter sich erneut das Geräusch: zwei Schläge - Pause. Zwei Schläge - Pause. Sie ignorierte es, ebenso wie die Gänsehaut, die sich auf ihren Unterarmen ausbreitete. Draußen war es in Ordnung gewesen, da war sie ihm gefolgt. Aber nicht hier. Nicht in diesem Teil des Hauses. Sie ging schneller - und atmete erleichtert auf, als sie die offen stehende Tür zur Halle erreichte, hindurch trat und der große Raum mit seiner heimeligen Atmosphäre sie umfing. Das lebendige dunkle Rot der Wand, in der sich der Kamin befand, leuchtete ihr warm entgegen und die kunstvollen Verstrebungen der vielen Balken, die das Deckengerüst bildeten, erschienen ihr wie ein schützendes Dach. Erleichtert atmete sie auf und schüttelte die Beklemmung aus ihren Knochen.
Sie entschied sich in die Küche zu gehen und Myrna zu fragen, ob sie in dem großen Kamin Feuer machen durfte. Das Tageslicht drang kaum bis ins Haus, es war ein düsterer Tag. Der Nebel schluckte jedes Licht. Also durchquerte sie die Halle und steuerte auf die Diele mit den hübschen alten Bodenfliesen zu. Die Gestalt, die da im Türrahmen zur Küche stand, ließ sie wie angewurzelt stehen bleiben.
Es war Shay. Mit einem ablehnenden Blick in den hellen Augen, misstrauisch und distanziert, sah er ihr entgegen. Hinter ihm tauchte Myrna mit ihrem massigen Körper auf. Sie schob ihn an den Schultern in den Flur hinaus.
"Nun geh schon", ermunterte sie ihn. "Oder willst du den ganzen Tag bei mir in der Küche hocken? Ich kann dich hier jetzt nicht gebrauchen. Vielleicht kümmerst du dich ein wenig um deinen Besuch, was meinst du?" Sie zwinkerte Emma über seinen Kopf hinweg zu. "Sie scheint doch ganz nett zu sein."
Er blinzelte nur; seine Arme hingen schlaff an ihm herab, als gehörten sie nicht zu ihm.
Wo kam er auf einmal her? Sie hatte ihn doch eben noch am anderen Ende des Hauses gehört! Emmas Verwirrung war komplett; nur mühsam fing sie den Ball auf, den Myrna ihr zuspielte.
"Hey, da bist du ja." Sie bemühte sich um ein Lächeln und spürte zugleich, sie stand vollkommen neben sich. Die Haushälterin musste denken, sie sei ein betreuungstechnischer Fehlgriff. Hoffentlich teilte sie ihren Eindruck nicht Hagan mit, bevor Emma aufgetaut und mit dem Jungen wesentlich besser vertraut war. Hagan ... wenn er nur endlich zurück kam. Solange er weg war, fühlte sie sich nicht wohl im Haus.
"Wollen wir etwas spielen, bis dein Vater nach Hause kommt?" Na komm schon, Blassgesicht, lass dich drauf ein, flehte sie insgeheim, weil Myrna ihren Bemühungen zusah.
"Er liebt sein Quartett und er malt gerne", zwitscherte die Haushälterin eifrig und kassierte einen vernichtenden Blick des Jungen. Er rückte einen Schritt von Myrna ab, um seine Schultern aus ihren großen Händen zu befreien, aber sie ließ nicht locker. "Shay", sprach sie gegen seinen Hinterkopf, "zeig Emma doch mal, wo wir die Spiele aufbewahren. Beschäftigt euch. Und in einer Stunde bringe ich euch warmen Kuchen."
"Könnte ich Feuer in der Halle machen", fragte Emma und hoffte, dass Shay ihr währenddessen nicht ausbüxen würde.
"Myrna nickte. "Es ist kalt. Natürlich. Mach das. Und lass dir von dem Jungen helfen. Er zeigt dir, wie es geht, er kann das gut." Als wollte sie ihn ermahnen zu tun, was sie sagte, strubbelte sie ihm über den lockigen Kopf. Dann ließ sie beide stehen und verschwand in der Küche.
Beinahe tat es Emma leid, dass Shay so unglücklich zwischen der beständig drängenden Haushälterin und dieser fremden Neuen, die da in sein Leben eindrang, gestanden hatte. Auch, wenn Myrna ihren bemühten Anschub sicher gut meinte: Beide konnten froh sein, dass sie sich nun zurück zog.
Als Shay auf seinen dicken Socken an ihr vorbei schlidderte, maß er sie heimlich aus dem Augenwinkel. In einigem Abstand folgte Emma ihm in die Halle. Zielstrebig steuerte er die Sitzgruppe vor dem Kamin an. Entgegen ihrer Erwartung trat er an einen Schrank heran, der bei den Bücherregalen neben dem Sofa stand, öffnete ihn weit und machte ihr Platz. Er sagte kein Wort, aber sie deutete seine Geste als Aufforderung, sich die Spiele, die da in Stapeln aufeinander getürmt waren, anzusehen.
Es lief nicht schlecht zwischen ihnen. Auch in dem Fall, dass er nur missmutig ausführte, was Myrna ihm gesagt hatte: Emma hielt ihn durchaus für fähig sich zu widersetzen. Wenn er weg gewollt hätte, er wäre gelaufen und hätte sich irgendwo hin verzogen, wo sie ihn nicht fand. Sie war neu hier, er war ihr gegenüber im Vorteil. Dass er sie hierher führte und ihr sogar zeigte, wo sie die Spiele verwahrten, fasste sie erleichtert als Einwilligung auf. Er kletterte auf die alte Couch, langte zur Stehlampe hinüber, die dahinter stand, und knipste sie an.
"Dankeschön." Sie lächelte in sein ausdrucksloses Gesicht hinein. "Darf ich ... oder willst du?" Da er nicht antwortete, ergriff sie die Initiative. "Jetzt bin ich aber gespannt, was du hier Schönes aufbewahrst." Neugierig trat sie an den Schrank heran. Da gab es eine ganze Reihe verschiedener Spiele, neue und ältere, Strategie- und Gesellschaftsspiele waren darunter, dazu viele, die sie so oder ähnlich auch aus Deutschland kannte und andere, mit denen sie auf Anhieb nichts anfangen konnte.
Ganz oben lagen die kleinen transparenten Kunststoffboxen, in denen sich verschiedene Quartette befanden. Diese Kartenspiele kannte sie noch aus ihrer Kindheit. Ihre Mutter hatte die ins Alter gekommenen Decks für sie aufbewahrt und sie ihr schließlich geschenkt. Emma hatte nicht erwartet, gleich so viele davon zu finden und war überrascht, als sie die umfangreiche Sammlung begutachtete. Auch diese hier schienen Jahrzehnte alt zu sein; da gab es welche mit Tieren und Rennwagen, aber auch eines mit Meeresthemen, ein Panzerquartett und eines, auf dem die Gesichter von Menschen abgebildet waren. Hier schien es um Familien zu gehen; zu jeder Kartengruppe gehörten eine Mutter, ein Vater, ein Mädchen und ein Junge. Alle trugen klassische Kleidung wie aus den neunzehnhundertfünfziger Jahren, die Zöpfe der Mädchen waren mit Schleifen versehen und ihre Kleider hatten rundliche Kragen.
Was für ein antiquierter Blödsinn, dachte sie und merkte erst auf den zweiten Blick, wie ungünstig das Thema dieses Quartetts für Shays Problematik war. Sie hatte gerade entschieden, es heimlich in den hinteren Teil des Schranks zu legen und es zumindest eine ganze Weile lang nicht mehr auftauchen zu lassen, als eine schmale Hand an ihrem Arm vorbei langte und es ihr aus der Hand zog. Shays Blick war nicht zu deuten; offenbar wollte er genau das mit ihr spielen. Emma war ein wenig mulmig zumute. Aber vielleicht waren ihm die Motive und der Sinn des Quartetts, die verschiedenen Familien passend zueinander zu führen, so sehr vertraut, dass es ihm nichts anhaben konnte. Ja, vielleicht beruhigte es ihn sogar, auf spielerische Art Familien zusammen finden zu lassen, sie komplett zu machen.
Ihr war ein wenig kalt. Die Zugluft machte sich unter der Empore deutlich bemerkbar. "Lass uns eben erst Feuer machen", bat sie Shay und erwartete, dass er reagierte. Aber er hatte sich mit seinem Quartett in den Sessel seines Vaters zurück gezogen und war dabei, die Karten aus ihrer Plastikhülle zu nehmen.
"Magst du mir helfen", versuchte sie es noch einmal, aber er reagierte nicht, er sah nicht einmal von seinen Karten auf. "Gut, dann versuche ich es allein", sagte sie laut. "Aber wenn ich etwas nicht hinbekomme, werde ich dich fragen, dann ist deine Hilfe angesagt." Sie beobachtete sein Gesicht. Da zuckte nichts, beinahe so, als sei sie gar nicht da.
Gut, das war eine Antwort. Er hatte offenbar keine Aufmerksamkeit für andere Dinge übrig, er war vollkommen auf seine Karten fixiert. Sie beeilte sich, einige der neben dem Kamin gestapelten Scheite sinnvoll in der Asche aufzustellen. Dann nahm sie mehrere Bögen von dem Zeitungspapier, das bei dem Holz lag, und knüllte es locker zusammen. Eine Weile suchte sie vergeblich nach einem Anzünder, diesem Ding, wie Myrna es für den alten Herd verwendete. Etwas flog in ihre Richtung und traf sie an der Schulter. Es war eine Streichholzschachtel.
"Oh, vielen Dank. Die hatte ich gesucht."
Er tat, als hätte er mit den geworfenen Streichhölzern nichts zu tun; weder lächelte er, noch sah er zu ihr auf, er betrachtete weiter die Karten.
Als das Feuer sich durch das Papier fraß und das trockene Holz zu erobern begann, wurde es heller und wärmer um sie; träumend hockte Emma noch einen Moment davor, starrte in die Flammen und genoss die Hitze, die in ihr Gesicht aufzusteigen begann - da bemerkte sie eine Bewegung neben ihrer Schulter. Shay war zu ihr auf den Fußboden gekommen. Ganz dicht hockte er neben ihr und gemeinsam beobachteten sie, wie das Holz Feuer fing. Es duftete nach Harz, es rauschte und knackte.
Wie schön, dass er zu ihr kam! Sie freute sich an der überraschenden Vertrautheit, mit der er so spontan neben sie gerückt war - und fiel in bodenlose Tiefen hinab, als sie sah, wie er seine blasse Hand ausstreckte und eine Karte nach der anderen in die Flammen fallen ließ. Es waren elf; sie wusste später nicht mehr, wie sie überhaupt in der Lage sein konnte, sie mitzuzählen, so sehr paralysierte, ja schockierte sie die absolute Ruhe und Bestimmtheit, mit der er es tat. In einer anderen Situation hätte sie ganz sicher etwas dazu gesagt, aber ihre Fassungslosigkeit ließ sie hilflos zusehen. Es waren die Karten, die die Frauen der Quartett-Familien zeigten.
Ende Teil 22
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