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(3/6) Anise & Clove

Ein Blick zum Himmel, dazu ihre Haarmähne, die sich vom kräftigen Wind gezaust dicht um die Seite ihres Gesichts drückte, und sie wusste, sie musste sich beeilen. Das Wetter konnte schlechter werden. Über die gesamte Woche hatte es täglich geregnet, vielleicht machte dieser Tag keine Ausnahme. Was ihre Halsentzündung betraf, hatte sie am Morgen zwar nur geflunkert, um sich aus der Situation zu retten; aber wenn sie bei diesem Wind auch noch einen kräftigen Regenguss abbekam, musste sie damit rechnen, ihre erste Woche mit einem Schnupfen zu verbringen.

Schon nach einigen hundert Metern auf der schmalen Straße sah sie, dass Hagan recht hatte: Zwischen Shadow Hall und Dunfanaghy konnte man nichts falsch machen. Der kleine Küstenort war vom Weg aus zu sehen, er schmiegte sich dort unten an einen langgezogenen Strand. Wenn man der Straße durch die sanft gewellte Landschaft hinab folgte, geriet man direkt in den Ortskern hinein. Mit ein bisschen Glück gab es davor eine Abzweigung, einen Pfad, der zum Strand führte.

Durch den kurvigen Verlauf der Straße war die Entfernung kaum zu schätzen. Es mochten zwei Kilometer sein oder mehr, aber das musste sie nicht genau wissen. Sie war niemand, der sich zwingend an Zahlen orientierte. Sie interessierte sich höchstens dafür, wie lange man für den Weg brauchte. Für später wollte sie es sich merken, denn sicher würde sie öfters einmal nach Dunfanaghy hinunter laufen.
Sie streifte den Ärmel ihrer Jacke hoch und warf einen Blick auf ihr Handgelenk. Ihre Uhr. Die hatte sie mitnehmen wollen. Sie war im Bad liegen geblieben.
Wie sollte sie nun die Zeit im Auge behalten? Schließlich konnte sie nicht ewig unterwegs sein, Hagan sollte sich keine Gedanken machen, weil sie zu lange weg blieb. Sie entschied, sich in Ruhe die Bucht anzusehen; wenn sie sich dann zügig wieder auf den Rückweg machte, dürfte es früh genug sein. Der stetig abfallende Weg und der Wind, der sie im Rücken anschob, trieben sie förmlich auf Dunfanaghy zu. Der Rückweg hier hinauf würde ihr später einige Sportlichkeit abverlangen, sollte bis dahin der Wind nicht drehen.

Eine Zeit lang zählte sie ihre Schritte, aber bald erschien ihr das zu langweilig und sie ließ ihre Gedanken wieder frei. Während sie mit festem Schritt vorwärts marschierte, schweifte ihr Blick über die Gegend. Was vor ihren Augen lag, war nicht die Art Bilderbuchlandschaft, die man in den Reiseführern fand. Da schienen die Fotografen für jedes einzelne Bild auf schönes Wetter gewartet oder dem Himmel sein Azurblau nachträglich verpasst zu haben. Es war vielmehr eine Mischung aus karger Gegend, der man die Bescheidenheit des Lebens, das hier stattfand, weithin ansah, und einem Drama, das sich vor allem am bewegten Himmel abspielte. In Richtung der Küste, auf die sie im weiten Bogen zulief, sah es aus, als würde der Wind die Wolken entweder zusammen oder auseinander treiben - es konnten die Nachwehen des Sturmes sein, der in der Nacht getobt hatte, aber genauso gut auch die Ankündigung eines neuen Unwetters. Wenn sie Pech hatte, war das Zweite der Fall. Gewöhnlich hatte sie eher regelmäßig als selten Pech. Der Gedanke ließ sie noch schneller gehen, bis sie in einen gleichmäßigen Trab fiel.

Als hätten die alten Mechanismen in ihr nur geschlafen und würden durch das Laufen unmittelbar geweckt und aktiviert, begann sie sich auf einmal freier zu fühlen. Sie hatte ihren Sport und die dazu gehörige Motivation vor beinahe einem Jahr aufgegeben. Das hieß, nicht wirklich. Sie hatte nur pausiert. Erst war es nur eine Spanne von mehreren Wochen gewesen, da hatte sie sich nicht mehr aufraffen können, regelmäßig ihre Runden zu drehen. Sie hatte es Faulheit genannt und zugleich gewusst, sie machte sich etwas vor. Aber wenn diese blöden Depressionen kamen, brachten sie auch die Unfähigkeit mit, sich ernsthaft auseinander zu setzen, geschweige denn, sich zu disziplinieren. Sie war wieder einmal aus der Welt gefallen, wie sie es nannte; also war sie in dieser Welt auch vorübergehend nicht mehr joggend vorgekommen. Aus "vorübergehend" war dann "länger" geworden und irgendwann hatte sie letztlich gar nicht mehr in ihre alte Disziplin und Routine zurück gefunden.
Damals hatte es so viel Verunsicherung gegeben, so vieles, was erschreckend schnell zerfiel. Das hatte sie aus dem Rhythmus gebracht. In dem Sommer stand der Schulabschluss an und die wenigen Freunde distanzierten sich bereits Wochen vorher - beinahe, als übten sie den Absprung aus dem alten Leben und konnten es gar nicht erwarten, in die erste Phase des Erwachsenseins zu kommen.

Es war diese schwer zu greifende Angst gewesen, die ihr eine Art Erstarrung beschert hatte - eine Zeit, in der Versprechen unter Tränen und Schwüren gegeben wurden ... Wir bleiben in Kontakt. Wir verlieren uns nicht. Etwas später zeigte sich die Verbindung als abgerissen und vergessen. Man zog weg fürs Studium, man suchte nach persönlichen Wegen, verfolgte unterschiedliche Interessen und Ziele und begann eine Ausbildung, man hatte neue Schritte mit dem Freund im Kopf und vieles, was vorher nicht Thema gewesen war, wurde nun sehr wichtig - bis es zum Einzigen wurde, was galt und zählte. Alte Freunde ... waren alte Freunde. Die Betonung lag mehr auf "alt" als auf "Freund". Was alt war, wurde ersetzt durch Neues und Anderes. Manche Freundschaften, von denen man niemals gedacht hätte, dass sie nur durch das gemeinsame Erlebnis "Schule" bestanden hatten, lösten sich innerhalb weniger Wochen auf. Auch ihr selbst war es mit einer Schulfreundin so ergangen, sie hatte sich schneller von ihr distanziert, als sie es für möglich gehalten hatte. Bis heute konnte sie nicht sagen, warum es letztlich so gekommen war, aber es war passiert. Und zwei Freunde, die sie wirklich gerne in ihren nächsten Lebensabschnitt hatte hinüber retten wollen, vertrösteten sie bis heute. Beide hatte sie nach der Abschlussfeier nicht mehr wieder gesehen und ahnte mittlerweile, dass es wohl dabei bleiben würde.

Das Laufen hatte die Gedankenwelle ausgelöst und sie war vollständig darin aufgegangen. Strand und Ort waren währenddessen nahe gekommen; sie hatte es gar nicht bemerkt, so sehr war ihre Aufmerksamkeit nach innen gerichtet. Als sie schließlich kurz hinter dem Ortsschild an einer Weggabelung anhielt und durchatmete, wunderte sie sich, wie nahe sie der Küste bereits war.

Was sie von der Abzweigung aus von Dunfanaghy sehen konnte, schien nicht sehr verlockend. Der kleine Ort wirkte noch schlichter und bescheidener als sie ihn bei ihrer Durchfahrt in der Nacht empfunden hatte, nur wenige Häuser hoben sich farbig aus dem grauen und weißen Einerlei ab. Was die kleine Bucht und den Strand betraf, hatte sie aber Recht behalten; die Richtung, in die das schmale Schild mit der gälischen Aufschrift wies, ließ vermuten, dass es hier direkt in die Bucht hinunter ging. Und die war einigermaßen idyllisch, wie sie bereits von dort, wo sie stand, erkennen konnte. Es gab einen leichten Anstieg der Küste, er verlief ungefähr über zwei Drittel der Strandlänge. Der Rest war Strand und Land in Einem; Gras und Steine hörten irgendwann einfach auf und gingen in hellen Sand über. Drei Fischerboote lagen auf dem Trockenen und ein Mann warf Stöcke, die sein Hund aus dem bewegten Wasser holte. So weit sie den Strand überblicken konnte, schien dieser ansonsten aber menschenleer.

Mit freudiger Aufregung im Bauch bog sie in den sandigen Weg ein und bremste dann ihr Tempo, ließ sich Zeit, bis sie sah, dass der Mann mit dem Hund sich entfernte. Sie wollte mit dem Meer allein sein. Während sie hinab lief, verschwand der Ort für einige Zeit vollständig hinter der zerklüfteten Küste.

Der Strand zeigte sich schmaler, als er von weitem ausgesehen hatte. Das Wasser war herrlich; die hier und da durch die Wolken blitzende Sonne ließ die Wellen unter den weißen Schaumkronen aufleuchten. Begeistert hielt sie ihr Gesicht in den Wind und atmete die salzige Luft ein. Das Rauschen des Meeres und das Geschrei der Möwen vermischten sich zu einem einzigen Klang; mitten darin stand sie und spürte, wie ihr Kopf und die Gedanken darin leichter wurden. Schließlich öffnete sie die Augen wieder und machte sich daran, die kleine Bucht zu erkunden.

Einige Hundert Meter war sie bereits über den nassen Sand gelaufen, da tauchte Dunfanaghy hinter den Felsen wieder auf. So übel war der kleine Ort aus der Nähe gar nicht - zumindest die winzige Promenade mit den schlichten kleinen Häuschen dahinter wirkte jetzt, wo das Sonnenlicht mehr und mehr heraus kam, sogar ganz hübsch. Einige der verputzten Fronten hoben sich in Türkis, Orange, Gelb und Braun von den anderen ab. Ursprünglich waren sie wohl alle einmal weiß gewesen, die hellsten sahen zumindest an der Seeseite ein wenig schmuddelig aus. Wahrscheinlich hatte der schnelle Alterungseffekt, den das raue Wetter auf die Hauswände hatte, manche Bewohner inspiriert, ihren Häusern einen farblich weniger empfindlichen Anstrich zu geben. Mit zunehmendem Gefallen betrachtete sie die bunten Fassaden; wenn sie hier gewohnt hätte, das gelbe Haus wäre ihres gewesen. Die Fenster der oberen Etage wirkten sehr schmal, wahrscheinlich hatte man bei ihren Proportionen an den Wind gedacht, der stetig gegen die Küste blies. Unten beherbergte es einen kleinen Laden oder ein Café. Mit seinem Schaufenster und dem winzigen Klapptisch nebst passend hellblau gestrichenen Stühlen schien es irgendwie ein wenig von beidem zu sein; jedenfalls sah es heimelig und gemütlich aus.

Die drei Fischerboote, die sie bereits auf dem Weg zum Strand hinunter entdeckt hatte, lagen an einer niedrigen Kaimauer. Dicht dahinter gab es eine Fischbude, über deren Eingang ein hölzerner Thunfisch prangte.
Aufgetankt mit neuer Energie stapfte sie um einen riesigen Anker herum, der wohl bereits vor Jahrzehnten halb im Sand versunken sein musste; er war über und über mit Rost und pockigen Muschelschalen bedeckt. Zum zweiten Mal blieb sie stehen, blickte abwechselnd auf die brausenden, von Möwen umflogenen Wellen und die farbige Häuserzeile. Was hinter den Gebäuden lag, sah man vom Strand aus kaum, und das war wunderbar; es verlieh diesem kleinen Küstenabschnitt ein abgeschlossenes, beinahe privates Ambiente. Sie genoss es, hier nun ganz allein und für sich zu sein, der restliche Ort interessierte sie nicht.

Während die Wellen heran rollten, gab das tief stehende Licht ihnen etwas Gläsernes: Flaschengrün und graublau, dazu mal mehr, mal weniger transparent wirkte das Wasser je nach Einfall der Sonnenstrahlen. Die Wolken fegten schnell über die blendend helle Sonnenscheibe hinweg und die Luft flimmerte und funkelte, wenn der Wind den Schaum von den Wellen pustete und ihn als feinen Sprühnebel bis in ihr Gesicht trug.

Helle Reflexe und Schatten jagten einander über den festen Sand und sie versuchte sich vorzustellen, wie es war, hier im Sommer barfuß zu laufen. Jetzt war November, sie würde sich gedulden müssen.

Ihre Haare mit beiden Händen festhaltend sog sie die salzige Luft ein. Es roch nach Fisch und Algen und nach dem Kalk der zahlreichen Muscheln, die das Meer in langer Reihe an den Strand gespült hatte. Eine Weile stand sie nur und ließ die Eindrücke wirken; dann erinnerte sie sich an ihr Haarband, fischte es aus ihrer Hosentasche und flocht die wild umher fliegenden Haare zu einem provisorischen Zopf. Der Wind zwang sie die Augen zusammen zu kneifen, als sie über das Wasser in die Ferne sah. Der Horizont ließ Meer und Himmel in trübem Grau verschmelzen, die Grenzen schienen aufgelöst. Da hinten war der Himmel düster und Wolken türmten sich zu gewaltigen Bergen auf, aber sie selbst stand inmitten einer sonnendurchfluteten Welt.

Eine Treppe, die zur Promenade hinauf führte, lockte sie vom Wasser weg. Die zweitunterste Stufe war mit einer Nummer bemalt, in weißen Buchstaben leuchtete ihr eine Zweiunddreißig entgegen. Sie wollte sich ein wenig setzen und die Möwen über den Wellen beobachten, doch dann entschied sie sich anders. Die steilen Stufen waren schnell überwunden, oben war der Weg asphaltiert. Zögernd sah sie sich vor der kleinen Häuserzeile um. Im Dunkel der offen stehenden Fischbude lief ein Schatten hinter dem Tresen hin und her und zwei Männer mit blauen Steppjacken und Gummistiefeln standen draußen vor der Tür und rauchten. Der Duft nach Fish and Chips zog über die Promenade hinweg und streifte ihre Nase verführerisch, aber ihr stand der Sinn nach etwas anderem. Während sie das kleine gelbe Ladencafé anvisierte, schob sie ihre Hand in die Jackentasche und beförderte einige Münzen ans Licht. Es war nicht viel und sie musste sparsam mit ihrem Geld sein, bis sie wusste, wie viel Hagan ihr zahlen würde - aber ganz sicher gab es da drinnen irgendeine Kleinigkeit für unterwegs. In England hatte sie ihre Leidenschaft für Veilchenpastillen entdeckt. Sie hoffte auf etwas in der Art.

In dem Laden roch es nach Tabak und Kaffee - und nach der alten Beize der mächtigen Balken, die sich wie Adern durch die Wände und über die niedrige Decke zogen, gebogen, verzweigt und mal schmaler, mal breiter verlaufend. Schüchtern grüßte sie ins Halbdunkel des engen Raumes, aber niemand schien da zu sein; hinter den vielen Aufbauten und Warenständern, die auf dem Tresen standen, konnte sie niemanden entdecken. Auch der Platz zwischen den vollgestopften Regalen, die sich kreuz und quer verteilten, war leer. Sollte sie die Tür bewegen, damit die Glocke ein zweites Mal erklang? Einige Sekunden verharrte sie ratlos und lauschte, aber niemand kam.
Die eckigen Blechdosen, die in einen der Ständer auf dem Tresen einsortiert waren, verlockten sie, sich weiter vor zu wagen. Peppermint, Salt, Licorice, Lemon las sie auf den nostalgisch anmutenden Etiketten; das waren sie, diese kleinen Pastillen, die sie so gerne mochte. Aber Veilchen gab es nicht. Sie entschied sich daher für eine Dose mit der Aufschrift "Anise & Clove" - Anis liebte sie seit ihrer Kindheit und Clove, das musste Nelke sein; sie erinnerte sich an das Gingerbread Rezept, das Mrs. Saunders ihr gegeben hatte, als sie wollte, dass Emma mit den Mädchen Lebkuchen für den Kindergarten backte.

Entzückt und neugierig zugleich ließ sie ihren Blick wandern. Da gab es verschiedene Lakritzsorten, auf deren Verpackung ein Pfeife rauchender Seemann und ein Dreimaster abgebildet waren, und in den Löchern eines schäbig lackierten Holzkastens steckten runde Lutscher mit Kirsch- und Johannisbeergeschmack. Die dunklen Regale hinter dem Verkaufstisch beherbergten neben Zigaretten, Schnapsflaschen und Putzmitteln eine Reihe zylinderförmiger Dosen mit einer geschwungenen Aufschrift, die versprach: Hier bekam man die besten Toffees der Insel. Trotz der abgewetzten und fleckigen Borde und manchem Spinnengewebe schien der Laden eine Fundgrube für kleine und große Schätze zu sein, die meisten essbar, manche lediglich Dekoration - oder so verstaubt, dass sich nicht sagen ließ, ob das Dargebotene beim Aussortieren vergessen worden oder tatsächlich noch käuflich war. Eine Rosinenschnecke hätte sie hier wohl nicht probieren wollen, aber mit den Bonbons konnte man nichts falsch machen, die waren sicher ewig haltbar.
In einem Regal an der Seite gab es mehrere aus Muscheln zusammen geklebte Gestalten, die wohl eine Art musizierende Frösche darstellen sollten. Sie musste grinsen, als die kitschigen Kerlchen ihr ins Auge fielen. Dass es so etwas noch gab! Souvenirs dieser Art fanden sich offenbar nicht nur an der deutschen Nord- und Ostseeküste oder in Griechenland, sondern auch hier.

Sie war so vertieft in die Betrachtung der vielen Dinge, dass sie nicht bemerkte, wie sich der Vorhang hinter dem Tresen öffnete. Erst als sie schlurfende Schritte von der Seite nahen hörte, zuckte sie zusammen. Schnell legte sie die kleine Dose mit den Anis Pastillen auf den Tresen. Auf keinen Fall wollte sie den Verdacht erwecken, sie hätte die unbeobachtete Situation ausnutzen und etwas einstecken wollen.

"Guten Tag", grüßte sie ein wenig zu leise.

Die dürre Gestalt blinzelte nur. Sie stand da, die Hände an ihrer geblümten Schürze, die zahllosen Falten ihres runzeligen Gesichts erinnerten an einen verdorrten Apfel. Auch sie trug ihre langen Haare zu einem Zopf geflochten, der ihr über die Brust hing. Während die Frau hinter den Tresen trat und mit zittriger Hand nach den Anis Pastillen griff, ließen ihre trüben Augen Emma nicht aus dem Blick. Sie versenkte die flache Dose in eine braune Papiertüte, legte diese auf dem glatt polierten Holz ab und schob sie ihr entgegen.

Während Emma sich bemühte, in der Dämmerung, die im Laden herrschte, die passenden Münzen aus ihrem Portemonnaie zu fischen, fühlte sie sich beobachtet; die neugierigen Blicke spürte sie wie eine Berührung, zweimal musste sie das Geld neu abzählen, bis sie sicher war, dass es stimmte. Die Frau nahm die Münzen in ihrer schmalen, faltigen Hand entgegen. Der Ärmel ihres Pullovers, den sie unter ihrer Schürze trug, gab einen Augenblick lang den Blick auf feine Narben frei, sie hoben sich weiß von der wettergegerbten Haut des Handgelenks ab. Umständlich prüfte sie das Kleingeld auf ihrem Handteller; schließlich nickte sie bestätigend, holte eine Zigarrenkiste unter dem Verkaufstisch hervor und ließ es hinein fallen.
Emma wollte sich grade verabschieden und zur Tür wenden, da griff die mit Altersflecken bedeckte Hand plötzlich über den Tresen hinweg und nach ihrer Tüte. Erstaunt ließ sie los. Die stille Verkäuferin sagte auch jetzt kein Wort - stattdessen nahm sie die Dose wieder heraus, zog den Ständer mit den Pastillen zu sich herüber und kramte eine Weile darin. Sie wählte eine andere Dose - das hellblaue Etikett verriet, dass es dieselbe Sorte war - steckte diese in die Tüte und reichte sie ihr.
Ohne irgendeine Idee zu haben, was das sollte, bedankte Emma sich erneut. Wenn sie in diesem Moment nicht so verunsichert gewesen wäre, sie hätte schwören können, dass die eigenartige Frau gelächelt hatte. Wenn auch nicht mit dem Mund, nur ihre Augen hatten gestrahlt. Aber der Moment war vorbei und sie selbst bereits auf dem Weg zur Tür. Sie hätte zurück lächeln können. Sie hatte es versäumt.

Draußen umwebte sie der Geruch des Ladens noch einen Moment lang, dann erfasste ihn der Wind und trug ihn fort. In ihrem Rücken schloss sich langsam die Tür, wie zum Abschied klingelte die Glocke in hohen Tönen und sie blinzelte verwirrt. Ihr war, als sei sie gerade aus einer anderen Welt in die Wirklichkeit zurück gekehrt.

Eine große Wolke war heran gezogen und überschattete jetzt den Strand. Fröstelnd zog sie den Kragen ihrer Jacke höher, stopfte ihn unter ihren Schal und trat unter dem Eingang des Ladens hervor. Warum hatte die Frau die Dose ausgetauscht - war mit der anderen etwas nicht in Ordnung gewesen? Zögernd ging sie ein paar Schritte und blieb wieder stehen, warf einen Blick zurück, verwundert über ihre Erwartung, hinter der Scheibe das Gesicht der alten Dame zu sehen. Natürlich sah sie ihr nicht nach, warum auch. Schließlich öffnete sie die Tüte, nahm die Pastillen heraus und untersuchte die blecherne Dose. Daran gab es nichts Auffälliges. Auch das Haltbarkeitsdatum war in Ordnung, die Pastillen waren noch ein gutes Jahr lang genießbar. Ob es unter den Dosen einige gegeben hatte, die älter waren? Prüfend besah sie den Boden. Auf dem Aufkleber waren die Zutaten und Inhaltsstoffe aufgelistet, dazu gab es einen Code und einige winzige Buchstaben- und Zahlenreihen. Neben dem hübschen Logo des Herstellers, einer Manufaktur in Cork, gab es einen weiteren Aufkleber, der eine große Zweiunddreißig zeigte. Buchstäblich nichts an dieser Dose war ungewöhnlich.
Auf den Zustand der anderen, die ihre eigene Wahl gewesen war, hatte sie gar nicht so sehr geachtet, aber auch an dieser war ihr zumindest in dem Moment nichts aufgefallen. Und auch die alte Dame hatte die erste Dose doch vor dem Einpacken gar nicht genauer betrachtet, im Gegenteil, sie hatten einander angesehen, während sie sie in die Tüte fallen ließ ...
Warum würde sie die Dosen austauschen wollen? Das musste wohl ein Rätsel bleiben. Seufzend öffnete sie den messingfarbigen Deckel, nahm das feine Deckpapier ab und steckte sich zwei der kleinen Aniskügelchen in den Mund. Dann faltete sie die Tüte, verstaute sie zusammen mit den Pastillen in ihrer Jackentasche und ging wieder zum Strand hinunter.

Ende Teil 18


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