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Mit zittriger Hand nahm Emma ihr das Gerät ab. "Emma Sperling. Hallo Mrs. Chapman", sagte sie und bekam keinen Bezug zur Situation, so sehr ließ die Aufregung sie neben sich stehen.
Hallo Emma..." Mrs. Chapman klang ernst. Nicht fröhlich und spontan, wie Emma sie in Erinnerung hatte. "Tja... was soll ich sagen..." Ein schweres Seufzen war hörbar. "Ich habe schlechte Nachrichten. Das ist leider schief gelaufen, fürchte ich."
"Oh", brachte Emma nur knapp heraus und ihr Blick huschte zu Ms. Potts herüber, der das erwartungsfrohe Lächeln aus dem Gesicht fiel. Betroffen, ungläubig wirkte die Betreuerin, als sie Emmas Gespräch weiter verfolgte.
"Also... bitte sei jetzt nicht allzu entmutigt", fuhr Mrs. Chapman fort. "Ich möchte auf keinen Fall, dass du das falsch auffasst. Du bist eine sympathische junge Frau und die Kinder und ich... wir mochten dich vom ersten Augenblick an. Ich sagte dir ja schon, dass wir dich sehr gerne bei uns haben würden, aber meine Mutter... ich hoffe, du verstehst das und nimmst es ihr nicht übel. Sie ist alt und sie ist auf dem Land aufgewachsen. Will sagen, sie ist ein wenig... traditionell eingestellt. Ein wenig zu sehr, meine ich, aber das waren die Zeiten... Sie ist sehr abergläubisch." Sie machte eine Pause.
Emmas Stimme klang fremd. Sie hatte einen Kloß im Hals. "Aber... Mrs. Chapman, ich verstehe nicht.... Was hat das mit meiner Stelle zu tun? Ich sollte doch für Sie arbeiten, nicht für Ihre Mutter..."
"Ich erkläre es dir", kam es vom anderen Ende. "Denk aber bitte nicht, wir sind verrückt! Auch meine Mutter ist es nicht, sie ist nur... Wir können uns nicht einfach über sie hinweg setzen, das ist das Problem." Sie seufzte wieder. "Es tut mir wirklich sehr leid für dich, Emma. Du sollst wissen, es lag nicht an uns... und auch nicht an dir. Wir hätten dich so gerne bei uns haben wollen, die Kinder und ich sind selbst furchtbar enttäuscht, dass du nicht zu uns kommen kannst."
Das war ein geringer Trost. Emma nahm es ihr ab; sie hielt Mrs. Chapman für ehrlich, für gerade heraus. Sie war keine Frau, die eine alte Mutter vorschob, um nicht zugeben zu müssen, dass sie persönliche Abneigungen gegen jemanden hegte. Emma spürte, wie schwer ihr dieser Anruf fallen musste.
"Sagen Sie es mir einfach, Mrs. Chapman. Es ist schon in Ordnung, ich werde es verstehen." Sie verstand es nicht. Gar nicht. Sie unterdrückte die Tränen, die sich jetzt so unpassend aufdrängten. Sie hatte getan, was Ms. Potts ihr geraten hatte, sie hatte sich in ein gutes und sicheres Gefühl, in eine positive Überzeugung hinein gesteigert. Und sie war jetzt kein bisschen vorbereitet auf eine Absage. Es traf sie wie ein Stein gegen den Kopf. Die Stimme aus dem Handy nahm sie wie im Traum wahr... die Worte jedoch rüttelten sie im ersten Augenblick wach, als Mrs. Chapmann ihre Erklärung begann.
"Emma... Sie glaubt an Leute, die... Geister sehen können. Aus der Sicht meiner Mutter sind diese Menschen nicht verflucht, aber sie sind.... sagen wir einmal... auch nicht gesegnet. Sie haben es schwer im Leben. Ihre Schwester - also meine Tante - litt darunter, bis sie früh verstarb, das war es, was meine Mutter immer erzählte. Meine Tante lebte an der Südküste, in Sussex. Wir haben die weitere Verwandtschaft meiner Mutter nie kennengelernt, daher kann ich das nicht beurteilen. Ich selbst bin da sehr kritisch, ich bin nicht gläubig in diesem Sinn, das kann ich dir sagen. Meine Mutter ist aber fest davon überzeugt, es läge in der Familie. Ich hatte eine Zeitlang Differenzen mit ihr, weil sie glaubte, Holly... ihre Enkelin, also meine Tochter... sie hätte diese Gabe ebenfalls. Holly ist aber ok, sie ist ein fröhliches und offenes Mädchen! Ich bin ihre Mutter, weißt du. Wenn es da etwas gäbe, ich hätte es ihr längst angemerkt. Mir gegenüber hat sie etwas Derartiges nie erzählt."
Sie lachte unsicher. "Aber das ist nur die eine Hälfte der Geschichte. Du bist... wir haben dich so ins Herz geschlossen, dass ich hier keine bequeme Ausrede gebrauchen möchte. Du hast es verdient, die Wahrheit zu erfahren. Meine Mutter - und nimm es ihr bitte nicht übel! - Sie glaubt, dass es nicht nur Menschen gibt, die Geister wahrnehmen können, sondern auch Leute, die Geister... anziehen." Sie lachte auf. "Verstehst du? Als du ihr zur Begrüßung die Hand gabst, meinte sie es an dir gespürt zu haben. Ich habe mit ihr gestritten und diskutiert bis eben gerade, aber sie bleibt dabei. Sie ist sich ganz sicher. Sie meint es ganz bestimmt nicht böse, glaub mir bitte! Es ist nur so... Sie liebt ihre Enkel abgöttisch und sie will nicht, dass jemand... also dass da jemand mit uns lebt, der Holly irgendwelche Geister ins Haus bringen könnte. Mein Gott, klingt das albern! Aber bei uns wird alles über Kopf gehen, wenn wir meiner Mutter jemanden vor die Nase setzen, der ihren Aberglauben noch anheizt. Nicht, dass du das tatsächlich tun würdest, nein! Du weißt, wie ich es meine. Ich muss ganz ehrlich sagen... Ich kann sie ja schlecht in ein Wohnheim geben. Sie ist noch nicht pflegebedürftig - aber auch nicht mehr so fit, dass ich sie allein leben lassen wollte. Sie gehört zu den Kindern, zur Familie. Darum muss ich das respektieren, ihre Stimme zählt. So unglaublich ich das auch finde. Es tut mir so leid für uns alle. Die Kinder haben geweint. Holly möchte dir ein Bild malen. Darfst du uns die Adresse der Familie, bei der du jetzt bist, heraus geben? Oder sollen wir es besser zu Ms. Potts schicken?"
Emma schluchzte auf. Ihre Nase war verstopft. Sie brauchte ein Taschentuch. Von der anderen Seite des Tisches wedelte Ms. Potts mit der Hand, winkte ihr eindringlich, sie solle ihr das Handy reichen, aber Emma war wie gelähmt. Dass ihr Traumjob, ihre Anstellung bei einer so sympathischen Familie an etwas so Bizarrem, dem Aberglauben einer alten Frau, scheitern musste! Sie konnte kaum glauben, dass ihr das passierte. Das war Mittelalter! Das passte einfach nicht in ihr modernes Leben, und doch... schien es gerade fester, unwiderruflicher Bestandteil davon zu werden.
"Ah... du weinst! Das ist verständlich!" Emma konnte der Stimme, die aus dem Handy drang, kaum mehr folgen. Sie musste sich konzentrieren, um den Inhalt noch mit zu bekommen. Der Wirbel in ihrem Kopf riss sie vollständig weg. "Emma, es tut mir so leid. Bitte nimm es nicht zu schwer, du bist... Ich hoffe, du weißt, dass es absolut nicht an dir liegt."
Ms. Potts fuchtelte jetzt mit beiden Händen und zog Grimassen, um ihr zu zeigen, sie solle auf keinen Fall das Gespräch beenden, sondern ihr die Sache übergeben.
Emma nickte tränenblind. Sie gab sich Mühe gefasst zu sprechen. "Nein, ich verstehe das. Alles. Mrs. Chapman... Ms. Potts möchte Sie noch einmal sprechen. Dann... dann verabschiede ich mich also. Grüßen Sie Ihre Kinder von mir... Ich schulde Jasper ein Pappschwert. Und wenn Holly.... wenn sie mir etwas malen möchte, dann freue ich mich natürlich sehr. Senden Sie es besser zu Ms. Potts, sie wird es mir weiterreichen. Dann machen Sie es gut... Ich wünsche Ihnen alles Gute."
Mrs. Chapman sagte noch irgendetwas, aber Emma hörte es nicht mehr. Sie reichte Ms. Potts das Handy zurück.
"Potts... Das hört sich ja nicht gut an, Mrs. ... Sie verstummte. Leise hörte Emma die Stimme von Mrs. Chapman. Mit einem leeren Gefühl im Kopf beobachtete sie den Gesichtsausdruck der Betreuerin, wie er von "hoffnungsvoll-energisch" über "erstaunt" bis hin zu "fassungslos-geschockt" abglitt. Genauso war es ihr auch gerade ergangen.
"Oh", sagte Ms. Potts schließlich still. "Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. So etwas kam noch nicht vor, das ist..." Mrs. Chapman sprach wieder und sie verstummte. Sie nickte immer wieder, verzog resigniert den Mund. "Gut, Mrs. Chapman. Ja, danke. Dann wissen wir jetzt Bescheid. Das tut mir alles sehr leid. Für Sie und die Kinder. Aber vor allem auch für Emma. Ja, ich rede mit ihr... Nein! Ich bin sicher, sie wird es nicht falsch auffassen. Ja, danke, Mrs. Chapman. Ihnen auch. Aber falls Sie Ihre Entscheidung noch einmal überdenken sollten, sagen Sie mir bitte gleich Bescheid. Das Mädchen sucht wirklich ganz dringend eine neue Stelle. Oder wenn Sie jemanden wissen, der eine Betreuung für die Kinder sucht... Emma würde sich freuen. Vielen Dank, trotzdem... und alles Gute."
Ms. Potts sah Emma entgeistert an. Sie packte das Handy in ihre Tasche. "Tja... was soll man dazu sagen, Emma. Mein Gefühl war richtig. Sie mochten dich... Es hätte perfekt werden können." Sie wirkte nachdenklich.
Emma sagte nichts. Sie zog ein Taschentuch aus ihrer Tasche und putzte sich die Nase. Sie hatte Kopfschmerzen. Die Vorstellung, in diesem Zustand nun zu Mrs. Saunders zurück kehren zu müssen, einer Mrs. Saunders, die nun ganz bestimmt noch unfreundlicher zu ihr sein würde als bisher, setzte sie unter Schock. Alles war schief gelaufen. Alles. Sie blickte auf den Rest der Torte, schob den Teller von sich weg, als sie den mitfühlenden Blick ihrer Betreuerin bemerkte. Sie versuchte zu lächeln, ihr zu zeigen, dass sie das packen würde.
"Emma, ich stehe zu meinem Wort. Ich werde einen Job für dich finden. Gleich heute Nachmittag fahre ich meine Antennen aus und sehe, was ich für dich tun kann! Es gibt immer Möglichkeiten."
"Danke, das ist... nett von Ihnen." Emma kämpfte immer noch mit den Tränen. Das war nicht eine der üblichen Absagen. Das war sehr persönlich. Ihr wurden Dinge unterstellt, die weder Hand noch Fuß hatten. Man kannte sie gar nicht und erlaubte sich trotzdem ein solches Urteil über sie. Es machte sie wütend und hilflos.
Ms. Potts beobachtete sie; das Graublau ihrer Augen hatte jetzt etwas sehr Ernstes. Die Betreuerin atmete tief ein und wieder aus, man konnte die Anspannung hören. "Emma", begann sie schließlich, "... eine Frage. Mir kommt da nämlich gerade ein Gedanke. Könntest du dir eventuell auch vorstellen, irgendwo anders als in England untergebracht zu sein?"
Emma sah auf. "Irgendwo anders? Wo denn... was meinen Sie?"
"Nun, ich meine schon die Britischen Inseln. Und auch Schottland wäre eine Option. Also nicht den Mars oder Jupiter oder so", scherzte sie. "Wenn ich weiß, dass es z.B. auch Irland, die Shetland-Inseln, Orkney oder die Isle of Wight sein dürfen... Wir hätten mehr Möglichkeiten! Ich habe eine Kollegin, die für eine andere Organisation arbeitet. Sie vermitteln Au Pair Stellen auf den kleineren Inseln und haben mehr suchende Familien als Mädchen, die sich mit diesen Orten arrangieren möchten. Oft gehen gerade die Familien in den abgelegenen Orten leer aus, die meisten jungen Leute geben England als ersten oder auch einzigen Wunsch an, und das ist verständlich; hier ist natürlich mehr los. Meine Kollegin würde sich sicher freuen, wenn sie dich an eine ihrer Familien vermitteln dürfte! Wenn ich also für dich hier in England nichts finden würde... Soll ich die Suche ausweiten?"
Emma war nicht mehr ganz da. Sie glaubte an nichts mehr. "Ich müsste dann aber wissen, wie ich dorthin käme", murmelte sie. "Ich habe kein Geld für Überfahrten mit der Fähre. Oder für einen Flug."
Ms. Potts nickte. "Das denke ich mir. Lass mich mal machen. Das findet sich dann schon." Sie warf Emma einen weiteren prüfenden Blick zu, dann sah sie blinzelnd aus dem Fenster, durch das jetzt die Sonne herein strahlte. "Es hat aufgehört zu regnen... Wollen wir zahlen?"
Stumm stand Emma auf. Sie dachte daran, wie gut es war, dass wenigstens Samstag war. Und morgen war Sonntag, da hatte sie frei. Der Nachmittag würde herum gehen. Sie würde mit den Mädchen spielen, sie konnten nach draußen gehen, Kastanien sammeln, auf dem nahen Spielplatz schaukeln. Am Abend würde sie Tante Moni schreiben. Und vielleicht konnte sie sich bis dahin so weit beruhigen, dass sie wieder in ihre alte Situation hinein fand - denn das war alles, was sie tun konnte: Nun wenigstens nicht auch noch Anlass zu irgendwelchen Konflikten mit Mrs. Saunders zu geben. Sie wollte sich reinknien, nicht auffallen, sich unsichtbar machen. So lange, bis eine gute Nachricht von Ms. Potts sie wieder hoffen ließ.
Der Pulli wärmte sie tröstlich, als sie ihn von der Heizung nahm und überzog. Wenn sie jetzt bei Tante Moni in Griechenland wäre... in der Sonne und in Freiheit. Der Gedanke erschien ihr auf einmal paradiesisch. Als sie gezahlt hatten, das Café verließen und zum Wagen gingen, nahm sie sich vor, unter den aktuellen Umständen auch darüber noch einmal neu nachzudenken.
Ende Teil 4
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