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Aidan
„Wo ist denn Trevor?"
Es war eine gewisse Ironie, dass unsere Mutter uns genau am Valentinstag besuchte -einem Tag, den man eigentlich mit den Menschen verbringen sollte, die man liebt. Ich liebte meine Mutter, keine Frage. Auch, wenn sie es einem manchmal schwer machte.
Aber Addie sah das ein bisschen anders. Unsere Mom in unserer Wohnung zu dulden, war schon das das äußerste Maß an Billigung, das man von Addie erwarten konnte. Deshalb überraschte es mich nicht, dass sie auch dementsprechend genervt war, aber versuchte, gute Miene zum bösen Spiel machte.
„In New York", antwortete Addie widerwillig. Mom zog eine Augenbraue hoch und musterte Addie.
„Mit wem?"
Ich kniff die Lippen zusammen und warf Addie einen raschen Blick zu. Sie würde nicht mehr lange so ruhig bleiben, wie sie vorgab zu sein.
„Mit niemandem. Alleine."
„Dass du das denkst, glaube ich gerne." Sie trank einen Schluck Kaffee aus ihrer Tasse. Addie warf mir einen angespannten Blick zu, also beschloss ich ein etwas neutraleres Gespräch zu beginnen.
„Mom, was machst du überhaupt hier?" Unsere Mutter besuchte uns nie ohne Grund. Sie tat generell nichts ohne Grund. Hinter allem was sie sagte und tat, steckte eine ausgeklügelte Absicht, die man nicht vorhersehen konnte.
Addie stand auf und begann ihre Tasse abzuwaschen. Sie musste sich sichtlich abregen und ich war verwundert, dass die Tasse in ihrem festen Griff nicht zerbrach. Ich stand ebenfalls auf, und stellte mich neben sie.
„Geh nicht drauf ein", flüsterte ich ihr zu, während ich mir eine Tasse aus dem Schrank nahm. Es wäre nicht nötig gewesen, denn ich hatte meinen Kaffee in meinem Zimmer stehen, aber am Tisch zu sitzen und von Mom beobachtet zu werden, war auch nicht das Angenehmste.
„Ich habe meinen Besuch doch angekündigt. Außerdem war ich gerade in der Nähe, und dachte ich besuche zwei meiner Lieblingsmenschen."
„Und was will sie dann hier?", raunte Addie mir zu, woraufhin ich amüsiert den Atem ausstieß.
„Wo ist Dad?", fragte ich dann, während ich den Kaffee in die Tasse goss.
„Er arbeitet." Sie hielt mir ihre halbvolle Kaffeetasse ebenfalls hin, damit ich ihr nachschenken konnte. „Manche Menschen müssen nämlich arbeiten, um Geld zu verdienen, weil sie keine Eltern haben, bei denen sie monatlich Geld schnorren können." Mom tat gerne so, als würde sie ihr Leben aufgeben, um arbeiten zu können, damit Addie und ich nicht auf der Straße sitzen mussten. Das Ding war nur, dass Mom's Arbeit ihr Leben war. Sie war vielleicht ehrgeizig, legte die Latte immer um eins zu hoch und versuchte sich und uns einzureden, was für eine hingebungsvolle Mutter sie war, ohne es je gewesen zu sein, aber in ihrem Job war sie wirklich gut. Mit gerademal dreißig war sie Oberärztin geworden, was lediglich dazu geführt hatte, dass sie ihre Familie vernachlässigt hatte. Sie war immer und überall abrufbereit gewesen, was Addie und mir schon den einen oder anderen Ausflug in unserer Kindheit ruiniert hatte.
Unser Dad war nicht viel anders, auch er liebte seine Arbeit, aber im Gegensatz zu Mom, konnte er von zu Hause aus arbeiten und hatte auch immer gewusst, wann Addie und ich ihn gebraucht hatten. Nie hätte er seine Arbeit über uns gestellt, oder uns aus seinem Arbeitszimmer geworfen.
Addie stellte die tropfnasse Tasse geräuschvoll auf der Küchenplatte ab.
„Und manche Eltern lieben ihre Kinder genug, um sie auch nach ihrem Auszug finanziell zu unterstützen, bis sie ein gesichertes Einkommen haben, ohne sich darüber zu beklagen, stell dir vor."
Unsere Mutter lachte auf. „Wenn du weiterhin Ethnologie und Linguistik studierst, hast du mit dreißig noch kein gesichertes Einkommen, Adeline Liebling. Du weißt noch nicht einmal, was du arbeiten willst und suchst dir ausgerechnet ein Studium, ohne Zukunftschancen. Guter Schachzug."
Das boshafte Mundwerk hatte Addie von unserer Mutter geerbt, keine Frage, der Unterschied war nur, dass Mom solche Dinge ernst meinte. Meine Schwester wusste nicht was sie darauf hätte antworten sollen, aber es war nicht zu übersehen, dass sie wohl gerne mit einer Ohrfeige geantwortet hätte.
Trotzdem war ich, im Gegensatz zu Addie, immer noch davon überzeugt, dass die beiden nicht deshalb so oft aneinander gerieten, weil sie so unterschiedlich waren, sondern weil sie sich in vielen Dingen so sehr ähnelten. Beide waren sturköpfig, ehrgeizig und würden nie nachgeben, wenn es nicht um Leben und Tod gehen würde. Beide wussten was sie wollten und wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatten, war es praktisch unmöglich, sich dem in den Weg zu stellen. Auch ihre Locken hatte Addie von unserer Mutter (wir beide, um genau zu sein), nur hatte unsere Mutter ihre braunen Haare blondiert und immer zurückgesteckt.
„Dein Bruder studiert immerhin Neurowissenschaften und Mathematik. Damit kann man etwas anfangen, etwas erreichen. Sogar groß werden. Man braucht immer einen Studiumabschluss, auf den man im Notfall zurückgreifen kann."
Addie atmete angespannt durch. „Kommt jetzt die Nimm dir ein Beispiel an deinem Bruder Rede?" Bitte nicht. Mom hatte die Nummer schon öfter abgezogen und es endete praktisch immer damit, dass Addie sauer auf mich war. Verübeln konnte ich ihr das aber nicht. Ich war nämlich fauler als Addie, in der Schule hatte sie die besseren Noten geschrieben und sie war mir in fast allen Belangen überlegen und unsere Mutter hielt ihr dennoch vor, dass ich der „gute Sohn" war, was in meinen Augen kompletter Schwachsinn war. Ich war derjenige mit den Drogenproblemen gewesen. Gut unsere Mom hatte davon nichts gewusst, aber ich konnte Addie's Wut nachvollziehen.
„Die Prüfung gestern habe ich aber komplett in den Sand gesetzt", warf ich daher ein und erntete einen warnenden Blick meiner Mutter.
„Das will ich nicht für dich hoffen. Ich will nicht um sonst tausende Dollar zahlen." Sie stellte ihre Kaffeetasse vor sich auf den Tisch. „Aber dein Studium verlangt einiges an Anstrengung, wenn eine Prüfung nicht so gut verläuft, kann ich das verstehen." Ich hatte es versucht. Ich hatte versucht meine Schwester zu schützen, aber es war zwecklos. Addie warf mir erneut einen angestrengten Blick zu, aber ich konnte nur mit den Schultern zucken.
„Dafür arbeitet Addie schon." Einen letzten Versuch startete ich doch noch.
„Und trotzdem bekommt sie genauso viel Geld von mir und eurem Dad wie du", bemerkte Mom spitz, bevor sie Addie kopfschüttelnd ansah. „Wofür gibst du das ganze Geld bloß aus, dass du nebenbei noch einen Job brauchst? Schlecht bezahlt noch dazu, und wenn irgendein Möchtegern-Gesetzeshüter dahinter kommt, dass eine achtzehnjährige in Kalifornien in einer Bar arbeitet und das meldet, dann kannst du deinen Freund anheuern, dich aus dem Knast zu holen, sofern er es nicht war, der dich überhaupt erst dort reingebracht hat. Aus diesem Jungen wird nie ein richtiger Anwalt, oder gar Richter, wenn du mich fragst. Bei der Vergangenheit. Er hat sich doch selbst kaum im Griff, es ist nur eine Frage der Zeit, bis er durchdreht und so wird wie sein Vater. Und meine Tochter träumt auch noch von einer Zukunft, mit diesem Mann. Der Traum jeder Mutter."
Anders als ich es nach dieser Lobeshymne erwartet hätte, war Addie nicht wütend, sondern wirkte verschlossen. Sie warf mir keinen ihrer typischen Mom-hasst-mich Blicke zu, sondern stand einfach nur regungslos vor der Küchenzeile und sah auf unsere Mom hinab. Unsere Mutter hatte aber auch auf alle wunden Punkte meiner Schwester gezielt –und getroffen. Ihr Studium, das Myway, Trev. Außerdem hatte sie vor Addie (mal wieder) auf Trev's wunde Punkte gezielt –und auch getroffen. Nur, dass sie damit diesmal nicht Trev getroffen hatte, sondern ebenfalls meine Schwester. Und die Ironie an der Sache war, dass sie es noch nicht einmal bemerkt hatte.
„Du bist unzufrieden mit meinem Studium", begann Addie monoton. „Mit meinem Job. Mit meinem Freund. Mit meiner Einstellung. Mit meinen Entscheidungen. Mit der Art, wie ich mein Leben lebe. Was zur Hölle bleibt dann noch?"
„Ich bitte dich, Adeline, fang nicht schon wieder damit an. Du bist meine Tochter und ich liebe dich." Der genervte Tonfall unserer Mutter hatte nicht im Geringsten dazu beigetragen, dass sich Addie's Laune besserte. Mom warf einen flüchtigen Blick auf ihre Armbanduhr. „Ich muss jetzt zurück ins Krankenhaus, meine Schicht beginnt bald. Die Rate an Pärchen die am Valentinstag in der Unfallchirurgie aufgenommen werden, wegen kleiner Missgeschicke, ist erschreckend hoch."
„Und wie hoch ist die Rate verunglückter Mütter an Muttertagen?", knurrte Addie so leise, dass nur ich es hören konnte. „Das würde mich mal interessieren." Vermutlich hätte ich unter anderen Umständen über ihren Kommentar lachen können, aber ich musste sofort an Beverly denken. An Vaya. Die roten Augen. Trotzdem fiel es mir schwer, Addie diesen Kommentar übelzunehmen, nachdem unsere Mutter ihr mal wieder eine volle Ladung ihrer Liebe geliefert hatte.
Mom schob ihren Stuhl zurück, stand auf, zog sich ihren beigefarbenen Mantel über, und hing sich ihre Tasche über die Schulter. Sie umarmte erst mich und dann Addie, meinte, wir sollten uns gelegentlich mal melden und verließ die Wohnung. Augenblicklich stürmte Addie auf ihr Zimmer, und schlug die Türe hinter sich zu.
~~ ~~
„Oh nein, du hörst mir zu, Mr. Ich-fliege-nach-New-York-und-melde-mich-nicht-weil-mir-meine-Freundin-am-Arsch-vorbei-geht!" Hätte Addie heute nicht Besuch vom Teufel höchstpersönlich bekommen, wäre ihr Telefonat mit Trev vielleicht auch ein bisschen angenehmer ausgefallen. Für sie, für ihn und vor allem für mich, den Kerl, der das alles mitanhören musste. „Entweder du bist bis morgen Früh wieder hier, mit einem Strauß Rosen, kniest vor mir nieder und bittest mich um Verzeihung, weil du mich, von allen Menschen aus deinem gottverdammten Leben, am meisten liebst, oder du kannst mich mal kreuzweise!" Ich konnte hören, wie sie ihr Telefon auf den Tisch knallte. So oft wie sie das schon getan hatte, wunderte es mich ehrlich, dass es noch immer funktionierte. In solchen Momenten war ich heilfroh, single zu sein.
Ich konnte nicht aufhören, an Beverly zu denken. Um präziser zu sein: An das, was sie mir über Addie gesagt hatte. Alleine die Tatsache, dass sie meiner Schwester einen Mord zutraute, war für mich Indiz genug dafür, dass sie ernsthafte Probleme hatte. Unsere Freundschaft (sofern überhaupt eine bestanden hatte) hatte sie verspielt. Wann, wie, wen und warum hätte Addie denn jemals töten sollen? Dieser Gedanke war noch viel absurder, als die Vorstellung, dass Dämonen tatsächlich existierten. Auf dem ganzen Heimweg gestern hatte ich mir den Kopf darüber zerbrochen und versucht mir auch nur eine einzige mögliche Situation vorzustellen, bei der Addie ein Familienmitglied getötet haben könnte, ohne dass es irgendjemand mitbekommen hatte, aber mir war keine einzige eingefallen. Sie hatte vor zwei Jahren einen Autounfall gehabt, bei dem ein älterer Mann verletzt worden war, aber Addie hatte sich jeden Tag erkundigt, ob es ihm besser ging, solange, bis er aus dem Krankenhaus wieder entlassen worden war. Sie schrieb ihm immer noch zu Weihnachten. Und so jemand sollte einen Mord begangen haben? Auch den Streit zwischen ihr und Chase, darüber, dass er Beverly töten wollte, hatte ich mir ins Gedächtnis gerufen. Der Gedanke an Mord war ihr doch selbst viel zu abwegig vorgekommen.
Ich beschloss, mir darüber nicht mehr den Kopf zu zerbrechen. Addie hatte größere Probleme, als Beverlys Mordanschuldigungen (von denen ich ihr nichts erzählt hatte) und ich auch.
Ich griff nach meinem Handy, das auf der Couch neben mir lag, und wählte Chase' Nummer. Im Leute-aufheitern oder trösten war ich noch nie besonders gut gewesen. Er ging nach dem ersten Klingeln ran.
„Hey Mann, was gibt's?" Ich fasste das Telefonat zwischen Addie und Trev, sowie den Besuch unserer Mutter in knappen Sätzen zusammen.
„Wir müssen was machen", sagte ich abschließend. „Sie irgendwie aufmuntern, sonst wird sie noch depressiv, oder tut was Dummes."
„Was können wir schon machen? Sie will Trev und den können wir ihr nicht geben." Er war keine große Hilfe. „Oder wir besorgen ihr einen neuen Freund." Ich zog die Augenbrauen zusammen. „Gibt's bestimmt auf ebay."
Ich warf einen schnellen Blick auf die Uhr. Es war gerade Mal elf Uhr vormittags. „Bist du blau?"
„Ein bisschen." Ich konnte das Klimpern von Glas hören. „Bev's Bar ist echt krass. Ich könnte mich glatt dran gewöhnen, wenn es nicht Beverlys Bar wäre. Diese Ratte geht mir wirklich gehörig auf den Sack."
„Wem sagst du das..." Ich senkte meine Stimme. „Kannst du dir vorstellen, dass Addie einen Mord begangen haben soll?" Für einen Augenblick war es still in der Leitung.
„Was hast du gerade gesagt?" Es wunderte mich nicht im Geringsten, dass Beverly Chase nichts von ihrer abgedrehten Theorie erzählt hatte. Warum auch? Er hätte sie vermutlich gleich auf der Stelle dafür umgebracht. Ich erschrak über meine eigenen Gedanken, weil sie mir so gar nicht realitätsfern schienen. Wann waren solche Vorstellungen Teil meiner Fantasie geworden?
Nachdem ich auch den gestrigen Abend so leise wie möglich erzählt hatte, damit Addie davon nichts hören konnte, stieß Chase ungläubig die Luft aus.
„Vielleicht hat sie gelogen. Sie ist verlogen. Es würde mich nicht wundern", meinte er angespannt, aber ich konnte an seiner Stimme erkennen, dass er selbst nicht ganz überzeugt von seinen Worten war.
„Ja, vielleicht." Ich war selbst nicht mehr ganz überzeugt, weil ich mich während des Zusammenfassens an jedes Wort und jede Geste von Beverly erinnern konnte. Auf mich hatte sie ehrlich gewirkt. Andererseits verbarg sie einen Dämon vor der Welt und eine, für sie vermutlich kleine, Lüge über Addie zu verbreiten, stellte für sie sicher keine allzu große Herausforderung dar.
„Oder es hat sich ihre eigene verdorbene Seele in Vaya's Augen widergespiegelt", brummte Chase. „Ich rede noch mal mit ihr. Versuch du lieber, unser Sonnenscheinchen hinter den Wolken zurückzuholen." Bevor ich darauf aufmerksam machen konnte, dass ich von ihm einen Plan haben wollte, wie ich das anstellen sollte, hatte er aufgelegt. Nach kurzem Zögern rief ich Trish an, was ich rückblickend vielleicht sofort hätte tun sollen. Sie kannte Addie besser, als Chase es tat, auch wenn sie nicht zusammen wohnten. Doch diesmal beschloss ich, das Thema Dämonen nicht anzusprechen.
„Was soll ich machen?", fragte ich erneut, nachdem ich Trish die Lage geschildert hatte. „Nach New York fliegen und Trev an der Leine zurück nach Fresno zerren? Unserer Mutter sagen, was für ein gewissenloser Teufel sie ist?"
Trish lachte. „Du machst weder das eine, noch das andere."
„Was denn sonst?"
„Alles was in so einer Situation hilft, sind eine Multi-Packung Ben&Jerry's, mit allen verschiedenen Sorten und ein Filmmarathon mit Schindlers Liste, Psycho, Sin City, Casablanca und Citizen Cane. Alle Filme mit Liam Neeson sind okay und alle mit Clooney verboten, sonst muss sie an Trev denken und fängt mit Sicherheit an, zu heulen. Vermutlich fängt sie auch so an zu heulen, spätestens bei Schindlers Liste, also leg ein paar Taschentücher bereit."
„Sie muss an Trev denken, wenn sie George Clooney sieht?"
„Schon vergessen? Bei ihrem ersten echten Date haben sie sich Michael Clayton angesehen." Ich beschloss Trish's Anweisungen nicht weiter zu hinterfragen. Addie war die letzten Tage todunglücklich gewesen und hatte es aufgegeben, Trev anzurufen. Nun hatte er sie endlich angerufen und sie war am Telefon explodiert, weil sie noch zu geladen wegen der Auseinandersetzung mit unserer Mutter gewesen war. Ich fühlte mich schlecht. Jedes Mal wenn es Addie schlecht ging, ging es mir keinen Deut besser. Das war eigentlich bei jeder Person, die mir wichtig war so, aber bei meiner Schwester litt ich wirklich buchstäblich mit. Ich würde so einiges geben, um sie wieder glücklich zu sehen und deshalb klopfte ich auch knapp eine Stunde später an ihre Türe.
„Was?", brummte sie missmutig. Ich steckte meinen Kopf durch die Türe und wie nicht anders zu erwarten, lag sie auf ihrem Bett und las Hamlet. Aber als ich die Riesenpackung Ben&Jerry's hochhielt, sowie ein Sortiment ihrer Lieblingsfilme (alle ohne Clooney), breitete sich ein breites Lächeln auf ihrem Gesicht aus.
„Du bist echt ein super Bruder", nuschelte sie, als wir auf der Couch saßen, sie mit Ben&Jerry's in den Händen. „Könnte mich dran gewöhnen, Besuch von unserer Mutter zu kriegen, wenn der Tag dann so weiter geht."
„Du kennst mich doch. Sieben Stunden mit meiner Schwester auf der Couch zu kleben und langweilige schwarzweiß Filme anzuschauen, ist für mich ein Heidenspaß."
Addie lachte. „Dich dieser Folter auszusetzen macht es noch um einiges besser."
Gegen neun legte Addie die letzte DVD ein, wie ich beschloss. Ich hatte das Gefühl, einen Migräneanfall zu bekommen, würde ich noch weitere vier Stunden mit diesen Filmen gequält werden. Das lag jedoch nicht an den Genres, die mir absolut nicht zusagten, oder an Addie's Testungen, wie sie sich am besten auf der Couch platzieren konnte, so dass mir ein Areal von gefühlten zehn Zentimetern blieb, sondern daran, dass ich aufgrund der uninteressanten Geschehnisse, ständig an Beverly denken musste. Und je länger ich das tat, desto mehr schwächte meine Wut ab und die Schuldgefühle übernahmen das Steuer. Ich hatte ihr schon wieder nicht zugehört. Dabei hatte ich immer gedacht, dass Zuhören das war, was ich am besten konnte.
Als gegen Ende des Films plötzlich an unsere Wohnungstüre geklopft wurde, sahen Addie und ich einander verwirrt an. Ich schaltete den Ton weg, während Addie aufstand, um die Türe zu öffnen. Als ich sah, wer es war, musste ich mir das Lachen verkneifen.
„Alter, du stehst unter dem Pantoffel", zog ich Trev auf, als ich sah, dass er mit einem Strauß Rosen vor der Türe stand.
„Du doch auch!", schoss er amüsiert zurück und zeigte auf den Fernseher. „Was ist das? Casablanca? Seit wann siehst du dir freiwillig Liebesfilme an?"
Addie verschränkte die Arme vor der Brust und musterte Trev. Ich konnte ihren Blick nicht sehen, aber ich war sicher, dass sie versuchte stur und beleidigt dreinzuschauen, es ihr aber verdammt schwer viel.
„Ich hasse Rosen", bemerkte sie.
„Ich weiß." Trev zuckte mit den Schultern. „Aber du hast gesagt, ich soll Rosen mitbringen."
„Und was habe ich noch gesagt?" Sie klang ein bisschen wie eine Mutter, die mit ihrem Kind diskutierte. Trev seufzte und kniete sich mit einem Schmunzeln hin.
„Du verlierst deine Männlichkeit!", rief ich ihm zu, da Chase nicht hier war, um es zu tun.
„Wenigstens hab ich eine, Rick Blaine", entgegnete er, bevor er wieder zu Addie aufsah. Belustigt drehte ich mich wieder zum Bildschirm, weil mein Nacken vom Umdrehen wehtat, verfolgte ihr Gespräch aber trotzdem lieber, als den stumm vor sich herlaufenden Film.
„Es tut mir leid", begann Trev.
„Und?"
„Und ich bin der größte Volltrottel auf dieser Welt."
„Und?"
„Und ich liebe dich von allen Menschen aus meinem gottverdammten Leben am meisten."
„Und?"
„Und ich würde jetzt wirklich gerne reinkommen, weil ich sieben Stunden im Flieger gesessen bin, um vor morgen Früh hier zu sein, und dann noch mal eine Stunde in der Gegend herum gefahren bin, um ein Geschäft zu finden, das um elf Uhr nachts noch offen hat und Rosen verkauft."
Ich konnte ihr amüsiertes Schnauben hören und dass sie zur Seite trat, um Trev in die Wohnung zu lassen.
„Glaub' bloß nicht, dass du mir so einfach davonkommst, Trevor Catrell." Sie ging in die Küche und stellte sich auf die Zehenspitzen, um an eine der Vasen ranzukommen, in die die Menge an Rosen vermutlich passen würde. Sie hielt das Gefäß unter den Hahn und ließ Wasser ein. Dann stellte sie die halbvolle Vase auf den Küchentisch. „Du hast noch eine Menge gut zu machen, Freundchen." Das war mein Stichwort. Ich sprang auf und ging zu Trev, der die Rosen vorsichtig auf dem Küchentisch ablegte und seine große Tasche von der Schulter rutschen ließ.
„Und ich weiß auch schon, womit du anfangen kannst." Ein bisschen schadenfroh schob ich ihn zur Couch und drückte ihn auf den Platz, auf dem ich bis eben noch gesessen hatte. „Du kannst dir jetzt Casablanca zu Ende ansehen und weil du den Anfang verpasst hast ist es vielleicht eine gute Idee, den Film von vorne zu starten, was meinst du Ads?" Meine Schwester war gerade dabei die Rosenstängel schräg anzuschneiden und die Blumen dann in die Vase zu stellen und warf mir ein fast diabolisches Lächeln zu.
„Das ist ein toller Plan, nicht wahr, Trev?"
Trev sah mich vernichtend an. Es war kein Geheimnis, dass er dramatische Liebesfilme mindestens so sehr hasste wie ich. Ich konnte mein Grinsen nicht unterdrücken.
„Ich kann's gar nicht erwarten. Prinzessin."
„Nicht frech werden", warnte Addie. „Ein kluger Mann widerspricht seiner Frau nicht. Er wartet bis sie es selbst tut. Die nächsten paar Tage hast du kein Recht, dich über irgendwas zu beschweren, oder dich gegen meine Wünsche zu wehren."
„Dann ist ja alles geklärt", sagte ich zufrieden, und ging in Richtung meines Zimmers. „Ich lass euch mal allein. Ich will nicht stören, wenn ihr euch diesen herzerwärmenden Film zu Gemüte führt."
~~ ~~
Addie war wieder glücklich.
Als ich am nächsten Morgen in die Küche kam, stand Trev am Herd und machte Frühstück, während Addie selig lächelnd auf der Arbeitsplatte saß und ihm wie ein verliebtes Schäfchen dabei zusah.
„Morgen", lächelte Trev, als er mich bemerkte. Ich ließ mich auf meinen Stuhl fallen. „Eier?"
„Wenn du noch welche hast."
Addie musste lachen und ich konnte förmlich spüren, wie Trev die Augen verdrehte. „Bringst du jetzt stellvertretend für Chase die bescheuerten Sprüche?", fragte er, ohne sich umzudrehen, aber er klang nicht verärgert, sondern genauso gut gelaunt, wie Addie aussah. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis das Essen auf dem Tisch stand, weil sich die beiden nach jedem Satz, den sie sagten, küssten. Aber ich beschwerte mich nicht, denn Addie war wieder glücklich, Trev war kein Miesepeter und ich bekam ein unfassbar leckeres Frühstück. Und offenbar hatte er Addie's Worte ernst genommen, denn selten kochte er so umfangreich wie heute. Eier Benedict mit Speck für mich und Trev und mit Tomaten und Spinat für Addie, Pancakes mit Ahornsirup und aufgetauten Früchten. Und weil Addie manchmal fressen konnte wie ein Staubsauger, machte er ihr noch einen French Toast, bevor er im Bad verschwand, weil er nach Stanford musste. Zum ersten Mal seit langem, schien Addie das Wort Stanford nicht die Laune zu verderben.
„Er hat das alles ziemlich gut aufgenommen, oder?", fragte ich, als das Wasserrauschen der Dusche durch die geschlossene Türe drang.
„Was meinst du?" Addie steckte sich den letzten Bissen ihres French Toasts in den Mund und spülte ihn mit Orangensaft hinunter.
„Die Sache mit Vaya. Dass du jetzt an einen Dämon gebunden bist. Ich meine er war einkaufen und hat Frühstück gemacht. Ein verdammt leckeres, wann hat er das zum letzten Mal getan?" Kopfschüttelnd trank ich einen Schluck Kaffee.
„Ja..." Addie wich meinem Blick aus. „Er hat das ziemlich gut... aufgenommen."
Misstrauisch stellte ich meine Tasse wieder ab. „Du verarschst mich", sagte ich tonlos. Addie stand auf und begann den Tisch abzuräumen. „Du hast es ihm nicht gesagt?" Sie reagierte nicht auf meinen ungläubigen Blick. „Addie."
„Nein, hab ich nicht. Zufrieden?" Sie begann die Teller abzuwaschen.
„Machst du Witze?"
„Macht du Witze?", schoss sie zurück und drehte sich kurz um. „Er ist gestern erst aus New York zurückgekommen. Wir wissen doch beide, dass er nicht nur wegen seines Großvaters dort war." Sie ließ das Wasser ins Waschbecken laufen und trocknete sich die Hände ab. „Wir haben noch nicht über diese ganze Dämonensache geredet, weil ich weiß, dass er einfach wieder abhauen würde. Für ihn ist diese ganze Sache einfach nur verrückt und unrealistisch, unmöglich, ein Hirngespinst und einfach inakzeptabel." Sie sah flüchtig zur Badezimmertüre, bevor sie zu mir kam und sich über den Tisch beugte. „Wir hatten gestern Sex", zischte sie. „Weißt du wann das das letzte Mal passiert ist?" Ich verzog das Gesicht. Woher zum Geier hätte ich das denn wissen sollen? Ich war froh, dass ich es nicht mehr jedes Mal mitbekam.
„Nein?"
„Ich auch nicht!" Sie griff nach der Packung Orangensaft und stellte sie in den Kühlschrank. „In den letzten Wochen haben wir nur noch gestritten. Meine Alpträume und die Schlaflosigkeit, sein Jurastudium, meine Arbeit im Myway, daran geknüpft Jacob, Trev's Wunsch nach Stanford zu ziehen, unsere nervtötende Mutter und sein Großvater und die spontane Ich-muss-nach-New-York Aktion. Dann der Flugzeugabsturz, den ich vorhergesehen habe. Dann die Sache mit Beverly, bei der wir uns alles andere als einig waren und immer noch sind und jetzt die ganze Dämonengeschichte mit mir und Vaya." Addie griff nach dem Ahornsirup und stellte ihn geräuschvoll ins Regal zurück, bevor sie angestrengt seufzte und sich wieder zu mir drehte. „Ich bin froh, dass ich ihn wiederhabe und wenn es nur für heute ist, weil wir uns beide vormachen, dass zwischen uns alles okay ist, mir egal. Ich werde es ihm sagen, aber ich will noch ein paar Stunden mit Trev in meiner Welt leben, in der alles in Ordnung ist. Denn sobald ich ihm davon erzähle, kann ich es nicht mehr rückgängig machen und ich habe Angst, dadurch alles zu zerstören." Traurig hievte sie sich wieder auf die Küchenzeile und ließ ihre Beine baumeln. Zum ersten Mal fragte ich mich, ob Addie's und Trev's Beziehung eine Zukunft haben würde. Sie schien bereits vor der Dämonensache Risse gehabt zu haben, aber jetzt fehlten bereits ganze Tragesäulen. In meinem naiven Kopf hatte ich immer gedacht, die zwei würden für immer zusammen sein, einfach weil sie, trotz aller Streitigkeiten, zusammen passten, einander brauchten und liebten. Ich konnte Addie's Beweggründe nachvollziehen. Aber Trev nichts davon zu sagen, würde früher oder später lediglich einen neuen Streit auslösen.
„Wir sind wie zwei parallele Geraden, die in dieselbe Richtung führen, das gleiche Ziel haben, sich aber selbst in der Unendlichkeit nicht treffen werden...", murmelte sie niedergeschlagen. Wenn sie eine mathematische Metapher verwendete, um mir ihre Situation zu schildern, musste es ihr wirklich ernst sein. Sie würde ihre Beziehung nicht so einfach aufgeben, dafür hatten sie und Trev zu viel durchgemacht.
Sobald Trev wieder aus dem Bad kam, setzte Addie gekonnt ein Lächeln auf und wenn ich nicht selbst dabei gewesen wäre, hätte ich wohl selbst nicht bemerkt, dass sie vor fünf Sekunden nicht mehr als ein Häufchen Elend gewesen war. Doch sobald Trev die Wohnung verlassen hatte, um nach Stanford zu fahren, trottete Addie auf ihr Zimmer und ließ die Uni für heute ausfallen, wohl um sich darauf vorzubereiten, Trev heute Abend die Wahrheit zu sagen.
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