22
Beverly
Ich lag auf dem Rücken auf meinem Bett und starrte an die Decke. Draußen war es dunkel und auch wenn ich die genaue Uhrzeit nicht kannte, es musste sehr spät gewesen sein. Eng an die Brust gedrückt, hielt ich meine Zeichenmappe, in der sich momentan wahrscheinlich überwiegend Zeichnungen von Aidan befanden. Er hatte etwas an sich, das sonst keiner hatte, den ich kannte. Und das bezog sich nicht nur auf sein Äußeres, das ich zeichnete. Auch wenn ich es mir nicht ganz eingestehen wollte, er konnte mich zum Lächeln bringen. Ich war heute zum ersten Mal seit langem wieder glücklich gewesen. Ich hatte nicht gewusst wie sehr ich dieses Gefühl vermisst hatte. Aidan ließ alles so einfach wirken. Glücklich zu sein, fühlte sich bei ihm nicht wie eine Sünde, und Lächeln nicht wie Folter an. Das letzte Mal hatte ich mich mit Anthony Nelson so wohl gefühlt. Aber als unser Kontakt abgebrochen war, war es mir unmöglich gewesen einen anderen Menschen, außer Rose, so nahe an mich heranzulassen. Ich hatte bei ihr immer das Gefühl gehabt, mich nicht verstellen zu müssen. Und genau dieses Gefühl vermittelte mir Aidan auch. Deshalb wollte ich ihm nichts über mich verraten, denn ich wusste, was das bewirken würde. Er würde mich für das Monster halten, das ich war und sich nie wieder blicken lassen. Und das war das Letzte was ich wollte. Gott, war ich egoistisch.
Ich öffnete die Mappe und strich mit meinen Fingern über die oberste Zeichnung, die ich vor wenigen Minuten fertiggestellt hatte. In der Dunkelheit konnte ich die Linien und Schattierungen kaum erkennen, aber ich sah das Bild vor meinem inneren Auge. Obwohl ich vorgehabt hatte, ihn diesmal so zu zeichnen, wie er heute gewesen war, war es mir nicht gelungen. Obwohl Aidan gelacht und glücklich ausgesehen hatte, gab mir etwas in meinem Unterbewusstsein zu verstehen, dass es niemals der Wahrheit entsprochen hätte, wenn ich ihn so gezeichnet hätte. Er war vielleicht hier für ein paar Stunden glücklich gewesen, aber mir war auch klar, dass das bestimmt nicht seiner wahren Natur entsprach. Genauso wenig wie meiner. Deshalb wunderte es mich umso mehr, dass wir einander offensichtlich so gut taten. Ich wusste, dass ich eigentlich nicht sehr gesellig war, kaum redete und das Lachen praktisch verlernt hatte. Warum fielen mir all diese Dinge in seiner Gegenwart so leicht, ohne dass ich mich verstellte?
Ich drehte meinen Kopf nach links und sah auf das blaue Buch, das auf dem Nachttisch lag. Ich musste daran denken, wie Aidan mich danach gefragt hatte. Hoffentlich hielt er mich nicht für total gestört, weil ich vertieft in ein Buch gewesen war, das für ihn aus leeren Seiten bestand. Hatte er gesehen, dass auf den Seiten nichts geschrieben stand?
Meine Gedanken schweiften unwillkürlich zu Connor. Ich fragte mich wo er jetzt gerade war. Was mit ihm passierte. Ob sie ihn wirklich geholt hatten. Im selben Moment drängte sich Felicity in meine Gedanken und die Hexe, dessen Portrait wir uns angesehen hatten. Warum hing das Bild einer mächtigen Hexe in Modoc? Hier passierte doch nichts ohne Grund. Also was hatten Hexen mit all dem zu tun?
Ich rieb mir mit den Händen übers Gesicht. Obwohl es schon verwirrend war über Aidan nachzudenken, war es noch tausend Mal anstrengender über alles andere nachzudenken. Ich richtete mich auf und schob meine Mappe unter das Bett. Dann legte ich mich zur Seite und versuchte einzuschlafen. Vergeblich. Ich wälzte mich nach links, dann nach rechts, auf den Rücken, auf den Bauch, brachte meinen Kopf an das Fußende und meine Füße an das Kopfende. Nichts half. Bis ich es nach einer guten Stunde aufgab und mich seufzend in meinem Bett aufsetzte. Mein Dämon sah mich an, als sei ich gestört.
„Was?", brummte ich und stand auf. Ich stellte mich an das Fenster und sah in den Himmel hinauf. Es war die erste Nacht in diesem Jahr, in der keine Wolken den Blick auf die Sterne verhinderten. Wie gerne wäre ich jetzt draußen. Würde irgendwo auf einer Wiese liegen und in dem Meer von Sternen versinken, die kühle Nachtluft auf meiner Haut spüren und die Stille genießen, wenn es schien, als würde die ganze Welt sich in den Schlaf wiegen.
Ich wünschte ich wüsste, wo am Himmel der Widder zu sehen war. Ich musste schmunzeln, als ich an Aidans überraschten Blick dachte, als ich den Zeitraum seines Geburtstages hatte einschätzen können. Ich hatte keine Ahnung von Sternzeichen, oder Sternbildern und ich interessierte mich auch nicht sonderlich dafür. Es waren doch bloß beliebige Sterne, die zu einem Symbol zusammengewürfelt worden waren. Und wer konnte schon sagen, ob diese Sterne nicht schon längst erloschen waren? Was würde wohl passieren, wenn der Schütze plötzlich nur noch zur Hälfte da war? Der Grund, warum ich wusste wann Widder geboren werden, war der, dass das Einzige für das sich meine Schwester jemals tatsächlich leidenschaftlich interessiert hatte, außer sich selbst, Sternzeichen und Sternbilder gewesen waren. Sie selbst war auch Widder gewesen und hatte an ihrem Geburtstag immer darauf hingewiesen.
Ich schüttelte den Kopf, um alle Gedanken an meine große Schwester zu vertreiben. Ich wollte jetzt nicht an sie denken, sondern an Aidan. Ich fragte mich, warum diese Mädchen in Büchern und Filmen immer in die Sterne, oder auf den Mond sahen, und hofften, dass ihre große Liebe gerade dasselbe tat. Einen Mond konnte ich am Himmel nicht sehen. Wahrscheinlich war er von der anderen Seite des Gebäudes zu sehen, oder es war Neumond. Und wenn in-die-Sterne-schauen-und-an-den-Anderen-denken das einzige Verbindungsglied zwischen zwei Personen war, dann war das wirklich mehr als erbärmlich.
Ich wandte mich vom Fenster ab und drehte mich zu meinem Dämon. Er lag am Fußende des Bettes und tat so, als würde er schlafen. Ich verdrehte die Augen. Dämonen schliefen nicht...
Ich legte mich wieder auf mein Bett und wickelte mich in die Decke ein, in der Hoffnung endlich einschlafen zu können. Ich wollte weder an Connor, noch an Felicity, noch an Aidan denken. Ich wollte einfach nur schlafen.
~~ ~~
Es wäre schön gewesen, wenn das mit dem Schlafen geklappt hätte. Doch ich war erst eingeschlafen, als der Himmel sich lila färbte und in dem Moment aufgewacht, als die ersten ungebetenen Sonnenstrahlen mein Zimmer durchfluteten. Ich zog mir sauer die Decke über den Kopf. Eigentlich hätte ich den ganzen Tag hier liegen und schlafen können. Ich musste nämlich nicht zur Therapie, wie ich bereits feststellen durfte. Nein, denn meine Dämonen bestanden nicht aus Selbstmordgedanken. Zumindest nicht mehr.
Ich wälzte mich ungelogen noch mindestens drei Stunden hin und her und versuchte mühsam einzuschlafen, bis ich mir der Aussichtslosigkeit meiner Situation bewusst wurde und aufstand. Denn war ich einmal wach, konnte ich nicht mehr einschlafen. Ich zog mich um, band mir die Haare aus dem Gesicht und trabte nach unten. Heute war es draußen wieder alles andere als kuschelig. Das war wohl der Ausgleich zu gestern, denn es begann wieder ganz leicht zu schneien. Zum Glück war ich nicht wetterfühlig. Ich wollte gerade aus dem menschenleeren Flur in den Speiseraum gehen, als ich merkte, dass jemand hinter mir war. Ich wollte reagieren, aber ich hatte die Person zu spät bemerkt und wurde mit einem Mal herum gedreht und gegen die Wand gedrückt. Die Person drückte mir ihren Unterarm gegen die Kehle, sodass ich nach Luft rang. Als ich sah, dass sie mir nun auch noch einen Doch aus Dämonenglas vors Gesicht hielt, wusste ich sofort wer es war.
„Woher kennst du ihn?", knurrte der blondhaarige Dämonenjäger, den Felicity Kober genannt hatte. Ich brachte keinen Ton heraus, weil ich mich um Sauerstoff bemühen musste. Ich versuchte ihn mit meinen Händen wegzudrücken, aber ich hätte genauso gut gegen eine Mauer drücken können.
Als ich nicht antwortete, drückte er seinen Arm noch ein Stück enger gegen meine Kehle. Ich berührte den Boden bloß mit den Zehenspitzen und es fühlte sich an, als würde ich im Leben keinen Sauerstoff mehr bekommen.
„Der Junge der gestern hier war, woher kennst du ihn, und was hast du vor?" Er sprach diese Worte mit einer solchen Abscheu, dass ich mich wirklich fragte, ob nicht er der gestörte von uns beiden war.
Man könnte meinen, dass ich mit mangelndem Sauerstoff, einer schmerzenden Kehle, und einem Dolch vor dem Gesicht, genug Sorgen gehabt hätte. Trotzdem fragte ich mich unwillkürlich, ob Kober Aidan kannte und das hier etwas Persönliches war, oder ob es ihm generell nicht passte, dass ich Kontakt zur Außenwelt hatte. Er kam mit seinem Gesicht ganz nahe.
„Ich warne dich, Anderson", zischte er. „Solltest du ihn verletzten, oder sollte dein Dämon ihm zu nahe kommen, dann werde ich dich töten, so wahr mir Gott helfe." Das war die zweite Morddrohung innerhalb von zwei Tagen. Und das von demselben Kerl.
„Töte mich doch, wenn du dich traust.", presste ich heiser hervor. In seinen Augen glänzte purer Hass. Mir war bewusst, dass es ihn nur eine kleine Bewegung gekostet hätte, mich zu töten, aber irgendetwas tief in mir, sagte mir, dass er mich nicht töten würde. Zumindest noch nicht. Wahrscheinlich war es der naivste Gedanke, den ich in den letzten Jahren gehabt hatte, aber wenigstens würde ich dann genauso sterben wie ich geboren worden war. Absolut und total bescheuert.
„Ich freue mich schon auf den Tag, an dem ich dich endlich aufschlitzen kann, Miststück." Im selben Moment in dem er mich losließ, fiel ich auf die Knie und schnappte hustend nach Luft. Als ich mich wieder umsah, war Kober verschwunden. Ich rappelte mich auf und sprintete zurück auf mein Zimmer. Offenbar war Modoc nur dann ein halbwegs angenehmer Ort, wenn man nicht von kranken Dämonenjägern bedroht wurde. Ich schlug die Türe hinter mir zu.
Was hatte ich diesem Mann getan, dass er mich offensichtlich so sehr verabscheute? Ja, ich war an einen Dämon gebunden. Ja, ich hatte Menschen getötet. Aber um genau zu sein, war das alles die Schuld meines Dämons gewesen. Warum also mich verteufeln, wenn mein Dämon Scheiße baute?
„Menschen...", murmelte ich und legte mir eine Hand auf den Hals. Ich ging zum Fenster und sah mich in der Reflexion an. Hinter mir erschien mein Dämon und knurrte verärgert.
„Das war nicht meine Schuld!", entgegnete ich empört. Ich sah dabei zu, wie die geröteten Stellen langsam verschwanden. Manchmal war ein Dämon praktisch. Obwohl nichts mehr von dem Abdruck zu sehen war, spürte ich Kobers Unterarm noch immer auf meiner Kehle.
Ich hatte eigentlich etwas Frühstücken wollen, aber der Appetit war mir gehörig vergangen. Diese Morddrohung war bei weitem nicht meine erste gewesen, aber die erste echte, seit langem. Die Drohung gestern hatte ich noch auf die leichte Schulter genommen. Aber jetzt hielt ich Kober nicht mehr für einen Möchtegernjäger. Da war etwas in seinen Augen gewesen. Eine Entschlossenheit, die wahrscheinlich gefährlicher war, als das Messer mit dem er mich hätte töten können. Entschlossenheit, Wut, Hass, Verbitterung. Ich fragte mich, was einem Menschen passieren musste, dass er so wurde. Mir waren ja schon schlimme Dinge passiert, aber ich war noch weitestgehend normal. Was verursachte denn einen solchen Hass gegenüber Dämonen?
Ich ließ mich wieder auf mein Bett fallen und musste an Connor denken. Ich konnte seine Anwesenheit nicht mehr spüren. Ich wusste nicht wo er war. Es war, als wäre er nie hier gewesen. Daraus schloss ich, dass er an einem richtig dämonensicheren Ort sein musste, an dem ihn meine geschärften Sinne nicht erreichen konnten. Und ich hatte gedacht, Modoc selbst wäre dämonensicher. Aber erst jetzt wurde mir klar, dass ich nicht einmal sagen konnte, ob Connor überhaupt noch am Leben war.
Ich griff nach dem blauen Buch und schlug die Seite auf, an der ich ein Eselsohr hinein gemacht hatte. Ich war bereits bei der Auflistung und kurzen Beschreibung der Namen von Dämonen angekommen. Bis jetzt hatte ich alle Namen und Dämonen bereits gekannt. Größtenteils, weil ich jeden erdenklichen Dämon, schon mal in Betracht gezogen hatte, meiner zu sein.
Wer hatte dieses Buch wohl geschrieben? Die Handschrift war total verschnörkelt, aber wunderschön und sauber. Die Seiten waren schon etwas vergilbt. Ich schlug das Buch auf der letzten Seite auf. Auf der Innenseite des Buchumschlags stand in der rechten unteren Ecke ein Name. Iona Brooklynn, 1670. Ich schnappte nach Luft. Die irische Hexe? Sie hatte dieses Buch geschrieben? Sollte das bedeuten, dass vor mir in diesem Zimmer eine Brooklynnhexe gewohnt hatte? Felicity hatte erwähnt, dass das Buch im Besitz einer Familie war. Der Brooklynnfamilie?
„Warum sollten sich Hexen mit Dämonen befassen?", fragte ich und sah meinen Dämon an, der in einer Ecke hockte und mich stumm anstarrte. „Antworte mir!"
Plötzlich hörte ich einen dumpfen Knall, der erschütternder war, als alles was ich in meinem Leben je erlebt hatte. Mein Körper bebte. Es fühlte sich an, als würde eine Welle meinen Körper durchfluten. So stellte ich mir eine Atombombenexplosion vor, obwohl es bestimmt fernab der Realität war. Ich hörte die gewaltige Eingangstüre aufgehen. Schreie von Menschen. Ich warf das Buch zur Seite und sprang auf. Ich drückte mich an das Fenster, aber alles was ich erkennen konnte, waren panische Patienten, die aus dem Gebäude strömten. Ich presste mein Gesicht noch näher gegen die Glasscheibe und sah dunklen Rauch aus dem Gebäude kommen. Noch bevor ich darüber nachdenken konnte, was hier gerade geschah, nahm ich den mir wichtigsten Gegenstand, meine Zeichenmappe und auch das Buch, und lief die Treppen nach unten. Ich musste praktisch einfach nur dem Strom nachschwimmen. Alle liefen panisch nach unten. Je näher ich von den Menschen in den untersten Stock gedrängt wurde, desto rauchiger wurde es. War ein Feuer ausgebrochen?
Jemand packte mich am Arm und zog mich rasch aus dem Menschenstrom.
„Du musst hier weg!", rief Connor über die ganzen Geräusche hinweg. Ich war unfähig zu antworten und starrte ihn einfach nur an. Er rüttelte mich. „Beverly!"
„Wo warst du?"
„Du musst sofort hier weg!", wiederholte er. Es wurde schwerer die Luft einzuatmen und ich drückte meinen Mund und meine Nase in meine Armbeuge.
„Was passiert hier?", fragte ich gedämpft durch meinen Arm. Er umschloss meinen Oberarm und zog mich wieder in die Menge. Ich konnte mein Gesicht nicht mehr vor dem Rauch schützen, weil Connor mich an einem Arm wegzog, und ich im anderen das Buch und die Mappe hielt. Also hielt ich die Luft an. Wir liefen nach draußen, wo alle hektisch umherrannten. Ich schnappte nach Luft, aber selbst hier war die Luft rauchig und kaum zu ertragen.
„Connor!" Er sollte mir verdammt noch mal sagen was hier los war.
Er drehte sich zu mir um und packte mich an beiden Oberarmen.
„Hör mir gut zu! Sie werden mich einsperren dafür, dass ich dir geholfen habe zu fliehen, wenn sie mich nicht sogar umbringen.", sagte er und sah mir eindringlich in die Augen. „Den Leuten aus Modoc ist der Salvation-Vertrag egal. Sie werden nicht aufhören dich zu jagen, du musst hier sofort weg!"
„Was?", fragte ich überfordert, aber Connor reagierte nicht. Er sah mir über die Schulter.
„Ich habe die Teufelsfalle durchbrochen."
„Wie?" Er drehte uns beide herum, sodass wir Plätze tauschten und ich konnte bereits einige Pfleger sehen, die speziell die Menschen mit Dämonen am Flüchten hindern wollten.
„Verschwinde jetzt!" Er warf mir einen befehlerischen Blick zu, bevor er zurück zum Gebäude lief und sich auf einen Pfleger stürzte. Mein Gehirn war noch nicht so weit um über das Gesagte nachdenken zu können. Also setzte ich mich rasch in Bewegung. Ich hatte zwar keine Ahnung, wie ich durch das Tor kommen sollte, aber wenn sich mir schon die Möglichkeit zur Flucht bot, würde ich sie unter allen Umständen ergreifen. Ich lief zu dem Tor und rüttelte daran, aber natürlich bewegte es sich keinen Millimeter. Warum hätte es auch sollen? Die Sigillen schützten das Tor. Plötzlich wurde ich zu Boden gerissen und hatte ein schweres Gewicht auf mir. Im nächsten Moment sah ich meinen altbekannten Freund, den Dämonenglasdolch, auf mich zurasen. Mit aller Kraft umklammerte ich Kobers Handgelenke und hielt die Dolchspitze von meinem Hals fern. Er war viel stärker als ich, aber die Tatsache, dass ich in akuter Lebensgefahr schwebte, jagte mir Adrenalin in die Adern, das mir eine nie gekannte Stärke verlieh. Unser beider Arme zitterten, während die Spitze des Messers immer näher an meinen Hals gelangte.
Auf einmal sah ich aus dem Augenwinkel eine schnelle Bewegung. Kober fiel von mir runter und griff sich ans Kinn. Ich kroch rückwärts von ihm weg, bevor ich aufsah. Felicity warf Kober einen triumphierenden Blick zu.
„Eins zu null, Mistkerl." Sie lief zum Tor, und umklammerte zwei der Stäbe mit ihren Händen, als hätte ich das nicht schon versucht. Sie schloss ihre Augen und murmelte etwas, das ich absolut nicht verstehen konnte. Dafür war es zu laut. Meine Augen bahnten sich durch den Platz vor dem Gebäude, aber ich konnte nichts ausmachen, außer Pfleger und Wachen, die auf Menschen mit Dämonen einschlugen, bis sie ohnmächtig waren. Einige Patienten versuchten über die Mauer zu klettern, aber sie rutschten immer wieder ab. Dicke schwarze Rauchschwaden drangen unentwegt aus dem Gebäude. Das Nächste das ich spürte, waren Energiewellen. Ich drehte mich um. Sie gingen von Felicity aus und durchschwemmten meinen Körper, genau wie der Knall vorhin. War das etwa auch mit Magie ausgelöst worden? Felicity öffnete ihre Augen wieder und betrachtete das Tor, während sie einige Schritte rückwärts machte. Dann warf sie mir einen gehetzten und fast wütenden Blick zu.
„Jetzt hau schon ab, Maeve!", rief sie mir zu, bevor sie wie Connor zurück zum Gebäude lief. Ich verlor sie in dem Getümmel.
Ich rappelte mich hoch, hob das Buch und die Mappe auf, die bei meinem Sturz aus der Hand gefallen waren und hastete zum Tor. Ich drückte dagegen und es ließ sich öffnen.
Schockiert sah ich zurück, konnte aber weder Felicity noch Connor entdecken. Ich schloss kurz meine Augen, wartete auf den Moment, in dem sich mein Dämon um mich legte, dann öffnete ich sie wieder und erkannt voller Entsetzen, dass alle Sigillen nach und nach verblassten und schließlich ganz verschwanden. Das musste Felicity gewesen sein, aber warum war sie zu so etwas in der Lage? Ich hätte gerne länger über diese Frage nachgedacht, aber Kober stand wieder auf, nahm den Dolch und kam bedrohlich auf mich zu. Das war wohl der Zeitpunkt an dem ich verschwinden sollte. Ich drehte mich um und begann zu rennen. Ich rannte direkt in den Wald hinein, während ich versuchte die beißende Kälte zu ignorieren. Ich konnte hören, dass Kober mich verfolgte. Er wollte mich töten. Er wollte mich wirklich töten. Und es würde mich absolut nicht wundern, wenn es ihm diesmal gelingen würde. Trotzdem rannte ich weiter. Ich fühlte mich wie damals, vor vier Jahren. Ich war auch weggelaufen. Nur mit dem Unterschied, dass mich keiner verfolgt hatte. Mein Pech war, dass man im Wald unwillkürlich bei jedem Schritt ein Geräusch erzeugt. Ja, sogar bei jeder Bewegung. Nicht, dass es einen Unterschied gemacht hätte, denn Kober war so dicht hinter mir, dass ich mich wunderte, dass er mich nicht längst eingeholt hatte. Zu früh gefreut. Mein Gehirn konnte die Dinge die passierten nicht zu dem Zeitpunkt verarbeiten, in dem sie passierten. Im nächsten Moment fielen wir beide einen Hügel hinunter und rollten durch das Laub, die Äste und den Schnee. Als ich unten auf den Boden aufschlug, hatte ich das Gefühl zu ersticken. Ich konnte mich nicht bewegen und mir schossen die Tränen in die Augen. Aber ich wusste, wenn ich jetzt liegen bleiben würde, würde ich mit Sicherheit sterben. Ich hatte beim Sturz die Sachen nicht fallen lassen, das war gut. Ich wollte mich eben aufrichten, als ich einen brennenden Schmerz an meinem rechten Schienbein spürte. Ich schrie auf und zog mein Bein weg. Ich griff an die schmerzende Stelle, und griff in Blut. Kober lag zwar auf dem Boden, aber er hatte den Arm ausgestreckt und mich geschnitten. Er hob das Messer noch einmal. Ich kroch rückwärts weg von ihm, griff nach etwas auf dem Boden. Irgendetwas! Bis mir einfiel, dass ich ein Buch in der Hand hatte. Und schon im nächsten Moment schlug ich es ihm auf den Kopf. Einmal. Zweimal. Dreimal. Bis er sich nicht mehr bewegte. Aber er war nicht tot. Noch nicht. Ich keuchte und ließ das Buch in den Schnee fallen. Vorsichtig nahm ich den Dolch in die Hand, um das Dämonenglas nicht zu berühren, umschloss den Griff mit beiden Händen, hob meine Arme und war bereit zuzustechen. Mein Verstand sagte mir, dass ich ihn auf jeden Fall töten musste. Mein Gewissen riet mir davon ab. Ich verharrte einige Sekunden in meiner Position bevor ich das Messer schließlich sinken ließ.
„Nein", stieß ich entschlossen aus und schüttelte den Kopf. Ich konnte mich nur zu gut daran erinnern, wie lange es gedauert hatte, bis ich über die Sache von vor vier Jahren halbwegs hinweggekommen war. Aber ich hatte keine andere Wahl gehabt. Jetzt hatte ich sie. Ich war keine Hobbymörderin. Es machte mir absolut keinen Spaß. Wenn ich Kober jetzt töten würde, dann wäre sein Hass auf mich gerechtfertigt gewesen. Ich stach den Dolch in die Erde, hob meine Sachen erneut auf, und lief tiefer in den Wald hinein. Die Wunde an meinem Bein war tief, tat höllisch weh und blutete wie verrückt. Das würde auch nicht so schnell aufhören. Wunden, die durch Dämonenglas verursacht werden, konnte mein Dämon nur sehr langsam heilen, und Narben blieben so gut wie immer zurück. Mir fiel auf, dass ich nicht einmal Zeit gehabt hatte zu atmen. Wie viel Zeit war überhaupt vergangen? Fünf Minuten? Zehn? Eine Stunde? Ich hätte es nicht sagen können. Ich rannte so schnell ich konnte, wobei jeder Schritt eine Höllenqual für mein Bein war. Ich knickte zweimal um, rappelte mich aber sofort wieder auf und lief weiter.
Einmal mehr versuchte ich davon zu laufen. Vor Dingen, denen ich mich eigentlich hätte stellen müssen. Irgendwann hielt ich an. Ich stützte mich keuchend an einem Baum ab. Wenn ich noch eine Minute in dem Tempo weiter gelaufen wäre, wäre ich mit Sicherheit zusammengeklappt. Ich schloss meine Augen und konzentrierte mich. Aber außer meinem eigenen Herzschlag und meinem gehetzten Atmen, konnte ich kein anderes Geräusch in meiner Nähe ausmachen. Ich ließ mich auf den Boden fallen und klammerte mich an dem Baum fest. Ich hatte mich schon wieder in einem Wald verirrt, war verletzt und komplett auf mich alleine gestellt.
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