15
Aidan
Ich hatte mich immer gefragt, was Durchschnittsgroßeltern mit ihren Enkelkindern wohl so unternahmen. Die Mutter meines Vaters war gestorben, noch bevor er meine Mutter kennengelernt hatte. Sein Vater lebte in einem anderen Staat und ich hatte ihn kaum gesehen, weil es ihm gesundheitlich nie besonders gut gegangen war. Und zu den Eltern meiner Mutter hatte ich immer nur bei Familienfesten Kontakt gehabt, was größtenteils die Schuld meiner Mutter war. Aber mittlerweile war der Vater meiner Mutter auch schon verstorben, so dass mir im Endeffekt eine psychisch kranke Großmutter und ein physisch kranker Großvater blieben.
Ich nahm an, dass die meisten Großeltern mit ihren Enkelkindern Freizeitparks besuchten, ein entspanntes Wochenende irgendwo fernab der Stadt verbrachten, und einem auch mit zwanzig noch sagten, dass man zu dünn war und mehr essen sollte. An Weihnachten bekommen die Enkelkinder Geld, selbstgestrickte Socken, und viele Kekse. Das war meine Vorstellung von Bilderbuchgroßeltern. Bei ihnen darf man Dinge, die man bei den Eltern nicht darf.
Nun ja. Meine Großmutter saß in einer Nervenheilanstalt und wollte, dass ich in einer andere fuhr, um ein Mädchen ausfindig zu machen, das ich nicht einmal kannte. Nicht, dass mich das gestört hätte, aber ich bezweifelte, dass es ein normaler Großmutter-Enkelkind-Zeitvertreib war.
Ich hatte mich an den kleinen weißen Tisch auf den Stuhl gesetzt und sah meine Großmutter abwartend an. Seit sie mir gesagt hatte, dass sie wollte, dass ich Beverly suchte, hatte ich kein Wort mehr gesagt. Genauso wie sie. Ich war mir nicht sicher, ob sie auf eine Reaktion von mir wartete, oder ich auf eine von ihr. Hätte ich gewusst, was heute alles auf mich zukommen würde, wäre ich vielleicht im Bett geblieben. Natürlich wollte ich Beverly um jeden Preis wieder sehen. Aber gleichzeitig hatte ich genau davor Angst. Was würde denn passieren, wenn ich sie wieder sehen würde? Wie sollte ich mich verhalten? Was sollte ich sagen?
Ich seufzte tief und beschloss das Schweigen zu unterbrechen.
„Was soll das alles?"
Meine Großmutter bewegte sich nicht. Hätte sie nicht alle zehn Sekunden geblinzelt, hätte man meinen können sie wäre tot. Langsam wurde mir klar woher ich diese stille, ruhige, aber gleichzeitig angespannte Art hatte. Meine Mutter hatte sie nicht, was wohl einer der Gründe dafür sein dürfte, dass sich die beiden nicht verstanden.
Dann regte Rosemary sich doch. Sie setzte sich ein wenig aufrechter hin und ließ ihren Blick gemächlich durch den Raum schweifen.
„Modoc ist ein grausamer Ort", sagte sie schließlich. „Und Beverly ist..." Sie schien nach dem richtigen Wort zu suchen, aber während sie keines zu finden schien, kamen mir gleich mehrere Adjektive in den Sinn. Atemberaubend, unvergleichlich, faszinierend, wunderschön, einzigartig. Ich hätte diese Liste noch weiter führen können. Aber ich hatte das Gefühl, dass meine Großmutter etwas wie gebrechlich hatte sagen wollen, ein Wort, dass ich nie im Zusammenhang mit Beverly verwendet hätte. Du kennst sie nicht, Aidan.
„Ich denke nicht, dass es Beverly dort gut geht", seufzte Rose schließlich. Ich bezweifelte stark, dass es in Modoc, nach allem was ich bisher wusste, irgendjemandem gut gehen würde.
„Warum ist sie überhaupt dort?", fragte ich und lehnte mich zurück. Draußen zogen ein paar Wolken auf, die den Raum in ein kühleres Licht tauchten. Sanftes Stimmengewirr drang aus dem Flur und Gegenstände klapperten.
„Sie hat zwei Pfleger verletzt. Vor drei Tagen. Kurz nachdem du das letzte Mal hier warst."
Ich zog die Augenbrauen zusammen. Warum hätte sie das tun sollen? Ich konnte mir absolut keinen Grund vorstellen, warum dieses zarte Mädchen an einem einzigen Tag, drei Menschen hätte verletzen sollen. Rosemary bemerkte meinen verwirrten Blick.
„Ich denke nicht, dass sie weiß was sie getan hat. Sie hat einfach um sich geschlagen und dabei einem Pfleger die Nase und einer Pflegerin die Hand gebrochen, als sie sich losreißen wollte." Jetzt fehlte mir ein Adjektiv, um Beverly zu beschreiben. Vielleicht würde es exzentrisch tun. Das war nicht ganz so negativ. Nichts an Beverly hätte negativ sein könne, oder?
„Und du willst, dass ich sie suche."
„Suchen musst du sie nicht", schmunzelte meine Großmutter. „Du sollst sie besuchen." Ich schüttelte den Kopf und sah aus dem Fenster. Sie konnte das doch unmöglich ernst meinen. Wie um alles in der Welt kam sie auf mich?
„Ich kenne sie nicht", warf ich ein.
„Aber du kennst mich. Und ich kenne sie."
„Und was soll ich ihr sagen?"
„Jetzt tu nicht so, als würdest du sie nicht sehen wollen!"
Darauf konnte ich nichts antworten. Ich wollte Beverly ja sehen. Aber ich wollte nicht wie ein gestörter Stalker rüberkommen.
„Warum ich? Warum nicht jemand aus ihrer Familie? Oder jemanden den sie kennt, wie einen Freund?"
Plötzlich lag ein Ausdruck in den Augen meiner Großmutter, den ich nicht richtig deuten konnte. Sie machte aber auch keinerlei Anstalten mir zu erklären was dieser Blick bedeutete.
„Aidan", seufzte meine Großmutter. „Ich würde gerne selbst nach Modoc fahren und nach ihr sehen, aber das kann ich nicht."
Versuchte sie jetzt wirklich mir einzureden, dass sie auf mich angewiesen war? Wollte sie mir ein schlechtes Gewissen machen? Dummerweise klappte das sogar.
„Was ist in dieser Mappe überhaupt drinnen?", fragte ich und stand wieder auf. Ich ging zum Fenster und stellte mich neben meine Großmutter, sah sie allerdings nicht an.
„Du hast nicht hineingesehen?", fragte sie überrascht. Jetzt sah ich sie doch an. In ihren stechend grünen Augen lag tatsächliche Verwunderung.
„Hätte ich sollen?", entgegnete ich. Meine Großmutter schüttelte den Kopf.
„Du bist ehrlicher, als ich gedacht hätte."
„War das ein Kompliment oder eine Beleidigung?"
Rose schmunzelte. „Such's dir aus."
Damit war wohl beschlossen, dass ich nicht in diese Mappe sehen würde. Egal wie neugierig ich werden würde. Aber ich war mir noch immer nicht sicher, ob ich tatsächlich nach Modoc fahren würde. Modoc lag immerhin an der Grenze zu Oregon. Wir waren in Fresno. Das wären mit dem Auto über sieben Stunden Fahrt. Es war jetzt neun. Wenn ich sofort losfahren würde, wäre ich im besten Fall, würde ich mich nicht verfahren, und würde ich in keinen Stau geraten, um drei in Modoc. Wenn ich die Zeit miteinberechnete, die ich dort verbringen würde, wäre ich wohl um elf Uhr nachts wieder zu Hause. Klar, ein kleiner Tagesausflug in ein Horrorhaus, warum auch nicht? Ich wäre wahrscheinlich auch in einen anderen Bundesstaat geflogen um Beverly wieder zu sehen, aber ich konnte doch nicht einfach spontan über vierzehn Stunden Fahrt auf mich nehmen, weil ich ein Mädchen sehen wollte, welches ich nicht einmal kannte. Ich musste an die Uni. Und Addie, Trev und Chase würden Fragen stellen. Und eine Antwort hatte ich nicht parat. Besser gesagt keine Ausrede.
„Beverly ist ein nettes Mädchen", sagte meine Großmutter. Sie hatte sich endlich für ein Adjektiv entschieden. Allerdings war nett nicht gerade das Wort, das ich gewählt hätte. Sie legte eine Hand auf meinen Unterarm. „Ich mache mir Sorgen um sie." In ihrer Stimme lag beinahe so etwas wie Angst, aber das konnte ich ihr nicht verübeln. Wenn sie auch nur halb so viel über Modoc wusste wie ich, dann wunderte mich ihre Sorge kein bisschen. Und obwohl sie hier drinnen schon seit mehreren Jahren festsaß, hatte ich das Gefühl, dass sie weitaus mehr wusste, als ich.
Irgendetwas sagte mir, dass ich es schrecklich bereuen würde, nach Modoc zu fahren. Aber gleichzeitig wusste ich, dass ich es noch viel mehr bereuen würde, wenn ich nicht fahren würde. Wahrscheinlich würde ich wie ein absolut kranker Stalker auf Beverly wirken, aber wenigstens hatte ich einen Vorwand. Ich konnte sagen, dass Rose mich geschickt hatte, um ihr diese Mappe zurück zu geben, was in Anbetracht dieser weiten Distanz eigentlich lächerlich erschien. Andererseits wollte ich aber auch nicht, dass es so aussah, als würde ich nur um meiner Großmutter Willen zu Beverly fahren. Ich wollte, dass Beverly wusste, dass ich sie sehen wollte, was mich wieder einmal dazu brachte, über mich selbst verärgert den Kopf zu schütteln. Im Grunde genommen konnte ich mich auch gleich einweisen lassen, wenn das so weiter ging.
„Also fährst du?", fragte Rosemary nach. Sie sah mich mit gespielt hoffnungsvollen Augen an, denn sie wusste genau, dass die Antwort schon lange feststand. Trotzdem nickte ich, um ihr diesen Triumph zu gönnen.
Die Fahrt nach Hause war mir noch nie so lang vorgekommen. Jetzt da beschlossen war, dass ich tatsächlich nach Modoc fahren würde, wollte ich das auch so schnell wie möglich tun. Immerhin trennten mich noch über sieben Stunden Fahrt von Beverly.
Als ich zu Hause ankam musste ich feststellen, dass Trev und Addie nicht mehr da waren.
„Soll mir nur recht sein", murmelte ich und ging schnell in mein Zimmer, um die Mappe aus meinem Schrank zu holen. Wenn Addie und Trev nicht da waren, konnten sie auch keine Fragen stellen. Ich lief wieder nach unten, setzte mich erneut in mein Auto und legte die braune Mappe auf den Beifahrersitz. Das dürfte eine spannende Fahrt werden.
Vor meinem inneren Auge sah ich mich bereits im Motel übernachten, weil ich mich total verfahren würde. Ich schaltete das GPS ein, um nicht ganz planlos in der Gegend herumzukurven. Und einen Beifahrer hatte ich auch nicht, der mir mit einer Landkarte hätte sagen können, wo ich lang fahren musste. Mir war bereits jetzt langweilig und ich wünschte Addie würde jetzt neben mir sitzen. Sie war die perfekte Beifahrerin. Sie meckerte nie über meinen Fahrstil, beschimpfte mit mir zusammen die anderen Autofahrer und konnte weitaus besser koordinieren, als ich. Mit ihr wäre auch die längste Autofahrt nicht langweilig gewesen, und wären die Umstände anders gewesen, hätte ich sie jetzt gerne neben mir sitzen gehabt.
Ich fuhr aus der Parklücke und musste an den Tag denken, an dem Addie und ich drei Autos auf einmal beschädigt hatten. Oder besser gesagt ich. Ich war ein bisschen zu schnell unterwegs gewesen und hatte nicht auf meine Schwester hören wollen, als sie meinte ich sollte langsamer fahren. An einer roten Ampel war ich dann dem Fahrer vor mir ins Auto gefahren. Und als ich wieder ein Stück zurückfahren wollte, war ich auch noch dem Fahrer hinter uns ins Auto gefahren. Addie hatte nicht einmal gesagt: „Ich habe dir ja gesagt, du sollst langsamer fahren!", sondern lediglich angefangen über die Situation zu lachen. Und wie sie gelacht hatte. Sie war fast buchstäblich aus dem Auto gefallen und hatte vor Lachen kein Wort herausgebracht, wahrscheinlich weil keiner verletzt worden war. Vielleicht hatten die Wagenbesitzer auch wegen Addie, die lachend auf der Straße gesessen hatte, keine Anzeige erstattet. Für mich war die Situation zwar weniger lustig gewesen, weil ich, oder besser gesagt meine Eltern, den Schaden hatten bezahlen müssen, aber ich hatte meinen Führerschein behalten dürfen. Meine Mutter hätte mich wahrscheinlich am liebsten umgebracht, als sie erfahren hatte, dass ich nicht nur mein neues Auto, sondern auch zwei andere beschädigt hatte. Trotzdem hatten mir meine Eltern den Führerschein nicht weggenommen, wofür ich ihnen sehr dankbar war. Addie hatte ihren Führerschein auch schon, aber sie ließ sich lieber überall hin fahren. Und um ehrlich zu sein, war mir das auch lieber. Sie war zwar keine grottenschlechte Autofahrerin, aber sie war definitiv eine bessere Beifahrerin. Sie fuhr einfach viel zu selten mit dem Auto.
Das GPS lotste mich auf die Hauptstraße, auf der ich erst mal eine ganze Weile fahren durfte. Gott, wie sehr ich lange, gerade Strecken doch hasste. Besonders heute. Jede weitere Sekunde in der ich in diesem Auto festsaß war pure Folter. Die Wolken wurden immer dunkler und die Äste der Bäume schwangen wild hin und her.
Ich fragte mich, was mich in Modoc wohl erwarten würde. Es hatte jedenfalls nicht wie ein allzu gemütliches Plätzchen ausgesehen. Bei dem Gedanken daran, dass ich Beverly vielleicht gar nicht sehen würde, weil ihr etwas zugestoßen war, zog sich alles in mir zusammen. Meine Hände umklammerten das Lenkrad fester, ich musste mich zusammen reißen, um nicht schneller zu fahren und meine Augen wanderten viel zu schnell und unruhig auf der Straße hin und her. Es wurde langsam warm im Auto und ich zog mir an einer roten Ampel die Jacke aus und warf sie neben mich auf die Mappe. Genau in dem Moment summte mein Handy in meiner Jackentasche. Ich warf einen kurzen Blick auf die Ampel. Normalerweise nahm ich während der Autofahrt keine Anrufe entgegen, aber ich musste nicht einmal raten, um zu wissen, dass Addie diejenige war, die mich anrief. Und sie würde definitiv nicht so schnell aufgeben. Ich griff noch einmal nach meiner Jacke und zog mein Handy heraus.
„Überraschung", murmelte ich ein wenig genervt und nahm den Anruf entgegen. Wie gesagt, unter anderen Umständen, hätte ich mich jetzt über ihren Anruf gefreut. Aber ich hatte grade keine Lust auf ein Frage-Quiz. „Ja?" Die Ampel wurde grün und ich trat wieder auf das Gas.
„Wo zur Hölle steckst du?" Addie klang nervös und besorgter als sonst.
„Addie, ich bin zwanzig Jahre alt. Ich kann auf mich aufpassen." Ich versuchte, eine Balance zwischen dem Verkehr und Addies Worten zu finden.
„Wo fährst du hin?" Ich seufzte. Warum war sie so hartnäckig?
„Ich muss etwas erledigen."
„Was kann so wichtig sein, dass du an einem Dienstagmorgen um kurz vor neun das Haus verlässt?" Sie hatte recht damit, dass das ziemlich untypisch für mich war. Normalerweise zögerte ich Dinge viel lieber hinaus. Und vor elf Uhr verließ ich die Wohnung für gewöhnlich auch nicht. Schon gar nicht mit dem Auto. Aber ich war alt genug um auf mich selbst aufzupassen.
„Tut mir leid, Ads, aber das geht dich nichts an." Es wunderte mich, dass an einem Arbeitstag so unfassbar wenige Autos auf dem Highway unterwegs waren. Trotzdem galt meine Aufmerksamkeit mehr dem was auf der Straße geschah, als dem was Addie zu sagen hatte. Addie sagte lange nichts mehr, zumindest nicht zu mir. Sie diskutierte mit jemandem, aber ich konnte weder sagen über was, noch mit wem.
„Aidan."
„Trev." Das GPS zeigte mir an, dass ich abbiegen musste.
„Addie dreht durch", meinte er, als ob er erwartete, dass ich auf der Stelle kehrt machen würde. Ich wusste nicht, ob die Besorgnis in seiner Stimme mir oder ihr galt.
„Ist nicht mein Problem." Trev seufzte. „Wo seid ihr zwei überhaupt? Ich war nochmal zu Hause, ihr wart nicht da."
Trev sagte kurz nichts. Vielleicht fragte er sich, warum ich kurz zu Hause gewesen und dann wieder verschwunden war.
„Naja, jetzt sind wir zu Hause", sagte er. „Vorhin waren wir in der Mall."
„War es nett?" Ich spürte förmlich, dass Trev mit den Augen rollte.
„Wo bist du?"
„Ich sitze in meinem Auto."
„Und wo ist das?"
„Auf einer Straße."
„Und auf welcher?" Wow. Trev konnte ja noch nerviger sein als Addie. Aber gut, ich war ja auch nicht gerade unkompliziert.
„Auf einer Betonstraße." Ich hätte schwören können, dass Trev gelacht hatte. Aber wenn, dann nur für eine Sekunde.
Die ersten Regentropfen klatschten gegen die Scheiben des Autos.
„Bitte komm zurück." Addie hatte Trev ihr Handy offenbar wieder abgenommen. „Was auch immer du vorhast, ich hab ein Scheißgefühl dabei!" So viel Nervosität und Sorge, hörte ich in Addies Stimme eher selten. Und das Wort Scheiße war nicht in ihrem täglichen Gebrauch enthalten. Vielleicht lag es am Schlafmangel.
„Was soll denn passieren?" Ich fand Addies Sorgen mehr als lächerlich. Trotzdem war es nach dieser Frage still in der Leitung.
„Pass einfach auf dich auf", sagte sie leise.
„Addie-" Sie hatte aufgelegt. Seufzend legte ich mein Handy auf meine Jacke, ohne meine Augen von der Straße zu nehmen.
Ich machte mir um Addie nicht weniger Sorgen, als sie sich um mich. Der Unterschied war nur, dass meine Sorgen berechtigt waren, ihre dagegen unbegründet. Trotzdem musste ich zugeben, dass ich mir jetzt noch mehr Sorgen um sie machte. Sie benahm sich wirklich immer seltsamer. Ich nahm mir vor mit ihr zu reden, sobald sich die Gelegenheit dazu bieten würde.
Nach zweieinhalb Stunden befand ich mich in Sacramento und konnte feststellen, dass ich auf dem richtigen Weg war. Trotzdem würde es noch über fünf Stunden dauern, bis ich in Modoc sein würde. Ich suchte mir einen Drive In und holte mir etwas zu Essen, bevor ich weiter fuhr. Mittlerweile regnete es ganz schön heftig, sodass ich die Scheibenwischer einschalten musste. Die Tropfen prasselten auf die Straße und die Autos die mich überholten, zogen mit einem rauschenden Laut an mir vorbei.
Das Autofahren wurde ermüdend, aber ich zwang mich konzentriert zu bleiben. Um auf den endlos, geraden, langweiligen Strecken nicht einzuschlafen, fuhr ich auf eine Nebenstraße. Von hier aus würde es zwar etwas länger dauern, aber das war in Anbetracht des Zeitaufwandes auch schon egal. Wenigstens war die Umgebung hier weitaus interessanter, als auf dem Highway. Viele Wälder und luxuriöse Anwesen säumten die Seiten der Straße. Die Gegend hier erinnerte mich an meine Kindheit. Ich war auch in so einem großen Haus aufgewachsen, bevor ich mit meinen Freunden in eine WG gezogen war, und meine Eltern nach Washington übersiedeln mussten.
Nach vier Stunden lotste mich das GPS in die Nähe eines Waldes. Von hier aus dauerte es nur noch eine Stunde. Sechzig Minuten. Dreitausendsechshundert Sekunden, die mich noch von Beverly trennten. Ich hatte es beinahe geschafft.
Ich lenkte das Auto auf die Kiesstraße und fuhr zwischen den Bäumen hindurch. Der Regen wurde von den Nadelbäumen aufgefangen und tropfte von dort aus auf mein Auto. Der Kies knirschte unter den Reifen. Mein Handy summte erneut und ich stöhnte genervt auf. Wenn das wieder Addie war, würde ich sie umbringen. Ich war ein bisschen überrascht, als ich sah, dass Trish mich anrief.
„Was?"
„Ich freu mich auch jedes Mal deine warme Stimme zu hören, Schatz", gab Trish zuckersüß zurück. „Also, hör zu: Mir ist ziemlich egal was du gerade machst, aber Addie steht am Abgrund zum Wahnsinn. Wärst du also bitte so freundlich und würdest zurückkommen, damit sie aufhört mir die Ohren vollzuheulen?" Wenn das so einfach gewesen wäre. Ich war fast sieben Stunden von zu Hause entfernt.
„Ich kann nicht. Ich bin nicht gerade um die Ecke." Der Kiesweg ging leicht bergauf und ich fragte mich, wie Modoc wohl wirklich aussehen würde. Ich hatte zwar Fotos gesehen, aber die waren schon etliche Jahre alt gewesen.
„Wo zur Hölle steckst du?", fragte Trish verwirrt.
„Hat dich nicht zu interessieren."
„Okay, also, du besuchst dieses Mädchen."
„Trish-"
„Versuch gar nicht erst rum zu lügen, Aidan, wir wissen beide wohin das führt." Sie klang wesentlich entspannter als vorhin. Ich hingegen wurde immer angespannter. „Wo bist du?" Stille. Ich würde ihr kein Wort verraten. Niemals. So weit würde sie mich nicht bringen. Trish seufzte gedehnt. „Entweder du sagst mir wo du bist, oder ich sage Addie warum du gerade wo-auch-immer bist." Ich zog die Augenbrauen zusammen.
„Willst du mich erpressen?"
„Du lässt mir doch keine Wahl."
Ich warf einen Blick auf das GPS. Ich sollte in ein paar Minuten angekommen sein. Mein Herz begann so wild zu klopfen, dass es schon beinahe wehtat. Ich war fast bei Beverly. Ich würde sie gleich wieder sehen. Hoffentlich.
„Modoc", sagte ich schließlich mit zusammen gebissenen Zähnen. Trish konnte doch ohnehin nichts damit anfangen.
„Deine Braut sitzt in der Irrenanstalt?!" Hoppla. Offenbar wusste sie es doch. Ich versuchte vor Schreck nicht die Kontrolle über das Auto zu verlieren.
„Okay, stopp", sagte ich nach ein paar Sekunden, in denen ich versucht habe mich wieder zu fangen. „Als erstes bezeichnest du sie bitte nie wieder als Braut. Und zweitens, woher zum Teufel kennst du Modoc?" Trish sagte kurz nichts und ich sah sie förmlich vor mir, wie sie mich geheimnisvoll anlächelte.
„Ich kenne eine Menge Orte."
„Modoc ist nicht gerade ein typischer Sightseeing Ort."
„Da hast du vielleicht recht." Nur noch ein paar wenige Minuten. Ich hätte das Tempo gerne beschleunigt, aber ich würde gerne ohne Totalschaden in Modoc ankommen. Und auf diesem gewundenen Kiesweg, umringt von Bäumen, wollte ich kein Risiko eingehen. „Mann, langsam versteh ich, warum Addie so ausrastet. Modoc ist verflucht gruselig."
„Aber das kann sie doch gar nicht wissen. Woher soll sie wissen, dass ich hier bin?"
Trish lachte. „Du kennst sie doch. Sie hat einen sechsten Sinn für sowas." Stimmt, und genau das war das Unheimliche an ihr. Ich sah zwischen den Bäumen ein Steingebilde durchblitzen. Verdammte Scheiße. Ich war wirklich da.
„Ich muss aufhören", sagte ich zu Trish ungeduldig.
„Okay. Wir wollen ja nicht, dass deine psychisch gestörte Freundin ausrastet, weil du dich ein bisschen verspätest", sagte Trish.
„Halt den Mund." Bevor sie das letzte Wort haben konnte, legte ich auf. Trish konnte mir manchmal unfassbar auf den Geist gehen. Vor allem fragte ich mich, woher sie Modoc kannte. Es war unwahrscheinlich, dass es zufällig ein Suchvorschlag auf Google gewesen war, auf den sie geklickt hatte. Ich kannte Trish schon sehr lange, aber ich wusste bei weitem nicht alles über sie. Ob sie vielleicht Verwandte oder Bekannte hatte, die in Modoc waren?
Ich lenkte mein Auto an der Steinmauer entlang, bis zum Eingang. Auf den Fotos die ich gesehen hatte, war ein Zaun um das zylinderförmige Gebäude gespannt gewesen. Diese Mauer wirkte viel bedrohlicher. Massiver. Und um ein Vielfaches unheimlicher. Mir drängte sich mehr und mehr die Frage auf, ob ich jetzt wirklich aus diesem Auto steigen wollte. Vielleicht hatte Addie mit ihrem unheimlichen Gefühl recht und ich hätte einfach umdrehen und hinnehmen sollen, dass ich viele Stunden um sonst gefahren war. Ich betrachtete das Gebäude, während ich alle Pros und Kontras abwog. Beverly war so ziemlich das einzige Pro, das ich finden konnte, aber es genügte mir definitiv, um aus dem Wagen zu steigen.
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