Der Anruf
Der Anruf kommt um 23:55 Uhr. Wir liegen schon längst im Bett, lesen aber noch.
"Ja?", melde ich mich.
"Der Bus fährt nicht."
"Warum nicht?"
"Er kommt von der anderen Seite nicht durch, oder so; ich weiß es nicht."
"Kannst du bei jemandem unterkommen?"
"Nee, Bea und Tim sind schon weg, und sonst kenne ich hier niemanden mehr. Könnt ihr mich abholen?"
Ich sehe Anja an.
Anja sieht mich an, seufzt und lässt den Kopf hängen.
"Wir kommen", sage ich.
Wir ziehen uns wieder an. Anja schreibt eine Nachricht für Emma und Felix; wir wecken sie lieber nicht. Die Jacken angezogen, die kleine Tasche über meine Schulter, die Helme in die Hand, die große Tasche tragen wir gemeinsam. Fertig.
Wir verlassen leise das Haus und gehen zu unserem Wagen. Ein Familienauto, hat der Verkäufer gesagt. Ein Hochdachkombi, hat der Versicherungsmensch gesagt. Ein Nachttaxi, würde ich im Moment sagen.
Die große Tasche laden wir durch die linke Schiebetür auf zwei Sitze der Rückbank, Anja setzt sich auf den verbliebenen Platz rechts.
Ich steige vorne ein, lege meinen Helm und die kleine Tasche auf dem Beifahrersitz ab. Anja hasst es, nachts zu fahren.
Den Wagen gestartet, kurzer Check – Bordcomputer sagt alles gut, das Kästchen im Fach in der Mittelkonsole liegt auch bereit. Los geht's.
Am Ortsrand sind die Tore geschlossen; mehrere Polizisten stehen davor herum. Ich halte neben einem von ihnen und lasse die Scheibe herunter.
"Guten Abend", grüße ich. Um diese Zeit könnte man auch schon "Guten Morgen" sagen. "Wir müssen jetzt einmal passieren und kommen etwa in einer Dreiviertelstunde zurück. Wir haben die Ausrüstung für Nacht-Überlandfahrten und die nötigen Lizenzen." Ich halte ihm meinen Ausweis hin.
Der Polizist scannt den Ausweis mit seinem Tablet. Eine Kollegin tritt heran und sieht ihm über die Schulter.
"Alles in Ordnung", sagt er. "Ich muss Ihnen dennoch raten, auf die Fahrt zu verzichten. Es hat größere Ausbrüche auf der anderen Seite Mittelbergs gegeben; auf dieser Seite überblicken wir die Lage noch nicht."
"Wir müssen unsere Tochter aus Mittelberg holen", erkläre ich. "Sie ist da gestrandet, weil der Bus nicht fährt. Wahrscheinlich wegen der Ausbrüche, oder?"
"Wahrscheinlich", sagt der Polizist. "Trotzdem..."
"Ist schon in Ordnung", sagt die Polizistin und gibt dem Pförtner ein Zeichen.
Die Tore öffnen sich, erst das innere, dann, nachdem wir durchgefahren sind und das innere wieder geschlossen ist, das äußere.
Das erste Stück der Landstraße liegt noch im Licht der Scheinwerfer der Toranlage, dann fahren wir in die Dunkelheit, sehen nur noch, was im Lichtkegel vor uns liegt. Die Straße ist kurvig und geht leicht auf und ab; das macht es nicht einfacher, etwas zu erkennen.
Wir passieren eine kleine Ansammlung von Häusern etwas abseits, umgeben von einem stabilen hohen Zaun und einer grell ausgeleuchteten Zone. "Hier draußen wohnen immer noch Menschen, trotz allem", möchte ich sagen, aber ich lasse es. Anja mag es nicht, wenn ich das Offensichtliche kommentiere. Sie hat ja auch recht damit.
Wir fahren schweigend weiter.
"Bist du noch wach?", frage ich.
"Gerade so eben", sagt Anja. "Wie weit ist es noch?"
"Gleich haben wir die Hälfte", antworte ich. Grob geschätzt.
Als wir um die nächste Kurve gefahren sind, piept es. Ein Warnsignal. Das Navi blendet Markierungen in die Landschaft ein, wo das System aufgrund der vom Infrarotsensor empfangenen Signale Lebewesen vermutet, mit denen wir kollidieren könnten.
Ich bremse ab, schalte Fernlicht ein. Die Straße ist hier ein Stückchen abschüssig; das meiste Licht geht in der Senke vor uns in den Boden. Dahinter kann ich schemenhaft ein paar Gestalten ausmachen, von denen man vor allem je ein oder zwei kleine Leuchtpunkte erkennen kann. Alle rechts der Straße, wenn ich mich nicht täusche.
Ich halte an und wende mich der kleinen Tasche auf dem Beifahrersitz zu.
"Schalt die Warnblinkanlage ein", sagt Anja.
"Gute Idee." Ich drücke den Knopf und ziehe gleichzeitig die Pistole aus der Tasche. Ich mache die Innenbeleuchtung an und checke zweimal, dass ich die richtige Patrone habe, bevor ich sie einlege.
Ich drehe mich zu Anja um. "Am besten machen wir uns direkt bereit. Sie müssten auf deiner Seite sein; du sitzt schon passend."
Anja stöhnt, aber sie macht sich bereit. Sie legt den Zusatzgurt an, holt das Gewehr aus der großen Tasche und legt ein Magazin ein. Helm auf, Schiebetür auf. Sie beugt sich einmal probeweise raus, kommt wieder rein – passt.
Ich habe meinen Helm inzwischen auch aufgesetzt.
"Bereit", höre ich Anja aus dem Lautsprecher.
"Bereit", bestätige ich. Ich lasse die Seitenscheibe runter, lehne mich raus, spanne, ziele und schieße; es funkt und kracht. Nach ein paar Sekunden leuchtet es hell am Himmel vor uns und ein Donner hallt durch die Nacht.
Ja, da stehen sie, beziehungsweise bewegen sie sich jetzt. Sie gehen weiter nach rechts, gut.
Ich lege die Pistole weg und fahre wieder los. Im Außenspiegel sehe ich, wie Anja sich rauslehnt, das Gewehr im Anschlag.
Als wir die Senke durchquert haben, sind sie rechts von uns auf einem Feld.
Ein schrilles, langgezogenes Brüllen ertönt. Klingt, als wäre jemand ziemlich ungehalten.
"Die kommen zurück!", sagt Anja.
Ich blicke am Straßenrand entlang. Leider gibt es da nur Reste von einem Zaun und einen Graben, der nicht der Rede wert ist. Das hält sie nicht auf.
"Schieß auf die, die die Straße als erste erreichen", sage ich.
"Fahr schneller!", verlangt Anja.
Ich beschleunige, aber nur ein bisschen, sonst wird es zu gefährlich.
Anja schießt, einmal, zweimal.
"Verdammt, ich treff nicht!", ruft sie.
"Soll ich langsamer fahren?"
"Nein!"
Ich halte die Geschwindigkeit, Anja schießt weiter. Es läuft ganz gut, nur wenige kommen uns überhaupt nah.
"Treffer!", sagt Anja.
"Glückwunsch!"
"Guck nach vorn!"
Tue ich doch! Und sehe mehrere hinter einem Busch hervor auf die Straße kommen. Ausweichen? Zu spät, zu viele; sie versperren die ganze Fahrbahn.
"Festhalten!" Ich bremse scharf.
"Au!", sagt Anja. Wenn man draußen hängt, ist das Bremsen immer doof. Anja legt wieder an, zielt nach vorn.
"Nicht schießen! Wenn du sie triffst, bleibt die Fahrbahn blockiert!"
"Und jetzt?"
Sie kommen näher.
"Festhalten!" Ich lege den Rückwärtsgang ein und beschleunige stark.
"Was machst du?", sagt Anja.
Mist, ich fahre zu weit nach rechts. Ich lenke gegen – ups, zu doll! Ich reiße das Lenkrad nach rechts, der Wagen ruckt, ich trete automatisch voll auf die Bremse. Der Wagen dreht sich um sich selbst, Anja kreischt, mir bleibt ein Schrei im Hals stecken, aber wir kippen nicht um. Ich gehe von der Bremse, schalte, drehe das Lenkrad gerade – wir fahren vorwärts. Das Fahrtraining hat sich ja doch gelohnt.
Ich bremse ab. Wir haben etwas Abstand gewonnen, aber sie kommen hinterher.
"Wir können nicht zurückfahren", sagt Anja. "Wir können Leonie nicht im Stich lassen!"
"Hab ich nicht vor." Ich halte an, drücke den Knopf für die Kofferraumklappe, nehme das kleine Kästchen aus der Mittelkonsole und warte bis die Klappe ganz offen ist.
"Mach links auf und schieß auf alle, die von der Seite kommen", sage ich. Dann drücke ich den Knopf auf dem Kästchen.
Ein Riesenradau geht los. Funken sprühen, es zischt, blitzt, knallt, donnert. Dazwischen ist mehrstimmiges, hohes Brüllen herauszuhören.
Anja ist nach links gewechselt, hat die Schiebetür geöffnet und zielt raus. Ich weiß nicht, ob sie schießt; ich könnte es nicht hören.
Schließlich hört das Spektakel auf. Die Fahrbahn hinter uns ist frei. Ich lege noch eine Patrone in die Pistole – ja, wieder die richtige –schieße sie nach hinten in den Himmel. Die Leuchtkugel flammt auf, begleitet von einem weiteren donnernden Knall. Japp, sie fliehen.
Da – ein rotes Signal steigt hinter dem erleuchteten Bereich auf.
"Da ist noch jemand!", ruft Anja.
Soll sie sich noch einmal über Kommentieren des Offensichtlichen beschweren.
Ich wende den Wagen, diesmal ganz zivil, und fahre vorsichtig weiter. Hinter der nächsten Kurve steht ein Kombi quer auf der Fahrbahn. Er sieht leicht lädiert aus, aber nichts Ernsthaftes, würde ich sagen. Im Scheinwerferlicht sehen uns fünf junge Leute mit großen Augen entgegen.
"Da sind Bea und Tim", sagt Anja. "Zwei Freunde von Leonie. Leonie ist aber nicht dabei."
Weiß ich doch. Auch wenn ich die beiden nicht erkannt hätte. Aber ich glaube, das sind die zwei auf der uns zugewandten Seite auf der Rückbank.
Ich halte dicht neben dem Kombi, nehme den Helm ab und strecke den Kopf aus dem Fenster. "Was macht ihr denn hier?"
"Die hatten uns eingekesselt!", ruft das Mädchen, das am Steuer sitzt. "Wir konnten nichts machen! Wo ist die Polizei?"
"Nicht hier", sage ich.
"Waren Sie das, haben Sie die vertrieben?", fragt der Beifahrer.
"Wahrscheinlich schon", sage ich.
"Wu-huuu, die Familienkutschen-Kavallerie ist da!", schreit der Jung... das Mäd... die Person auf der anderen Seite der Rückbank. Klingt auf jeden Fall nicht ganz nüchtern.
"Sei einfach still, Charlie", sagt der Beifahrer nach hinten.
"Es ist keine Polizei da? Was machen wir denn jetzt?", fragt die Fahrerin, Panik in den Augen.
"Einfach vorsichtig weiterfahren", sage ich. "Ihr müsst darauf achten, dass ihr sie gar nicht so weit rankommen lasst. Nicht zu schnell fahren, die Strecke vor euch mit Fernlicht und notfalls Leuchtraketen checken. Eine Leuchtpistole habt ihr ja, richtig?"
Der Beifahrer hält sie hoch.
"Gut. Habt ihr auch eine Stungun?"
Der Junge hinten, Tim, hält sie hoch.
"Gut. Cakebox?"
"Was?", fragt die Fahrerin entgeistert.
"Das Feuerwerk im Kofferraum", sagt der Beifahrer. "Haben wir alles."
"Können Sie uns nicht begleiten?", fragt die Fahrerin. "Nur bis Südberg! Nochmal stehe ich das nicht durch!"
"Tut mir leid", sage ich. "Wir müssen nach Mittelberg, unsere Tochter abholen. Wir stehen das auch nicht die ganze Nacht durch."
"Sie sind Leonies Eltern, oder?", fragt Tim.
"Sie hat echt nicht mehr reingepasst, sonst hätten wir sie natürlich mitgenommen", sagt Bea.
Was auf dem Hinweg passt, muss doch auch auf dem Rückweg passen? Egal. Ich nicke höflich.
"Dann fahren Sie doch noch zurück nach Südberg, oder?", fragt der Beifahrer.
"Was bringt uns das?", fragt die Fahrerin aufgebracht. "Sollen wir so lange hier warten? Spinnst du?"
Der Beifahrer hebt beschwichtigend die Hand. "Wir könnten mitfahren, gegenseitig auf uns aufpassen, und so."
Gegenseitig? Na ja.
"Von mir aus könnt ihr hinter uns herfahren", sagt Anja, "aber wir müssen jetzt auf jeden Fall weiter."
Ich nicke und lächle, dann fahre ich los, langsam und vorsichtig durch die enge Lücke zwischen dem Heck des Kombis und einem Baum am Straßenrand. Aus dem Kombi kommt noch etwas Gezeter, das ich nicht verstehe, weil ich nicht zuhöre. Als wir durch sind, dreht der Kombi eilig und fährt hinter uns her.
Ich fahre besonders vorbildlich, langsam, blende öfter das Licht auf, um den jungen Leuten zu zeigen, wie man es richtig macht.
"Übertreib's nicht", sagt Anja. "Ich will noch vor dem Morgengrauen wieder ins Bett."
Jetzt ist es ja wohl sie, die übertreibt, denn wir sind schon am Südtor von Mittelberg.
Drinnen muss ich einer ziemlich sauertöpfischen Polizistin erklären, warum wir um diese Zeit hier auftauchen und was unterwegs passiert ist.
"Das war sehr riskant", schimpft sie. "Sie hätten das umgehend melden und auf Hilfe warten sollen, oder wieder umkehren. Dann muss die junge Dame halt mal eine Nacht hier im Ort auf der Straße verbringen, wenn sie ihre Rückkehr nicht anständig organisieren kann!"
Die junge Dame steigt gerade auf der Beifahrerseite ein und wirft der Polizistin tödliche Blicke zu, während sie von hinten von den Armen der Mutterkrake umschlungen und mit beruhigenden Lauten eingehüllt wird.
Ein älterer Polizist kommt dazu, nimmt sein Funkgerät vom Ohr. "Lass mal gut sein", sagt er zur Polizistin, dann wendet er sich an uns. "Hören Sie, könnten Sie vielleicht noch eine Person in ihrem Wagen mitnehmen? Und wir haben hier noch einen Minivan voller Leute, aber mit unzureichender Ausrüstung; wenn Sie und der andere Wagen den Van in die Mitte nehmen...? Für so einen Konvoi kann ich einen Hubschrauber kriegen, dass der Sie ein Stück begleitet. Wir haben gerade sonst alle Kräfte Richtung Nordberg im Einsatz; da ist eine ganze Horde außer Rand und Band."
"Wenn uns diese verrückten Mistviecher mal eine Nacht in Frieden lassen könnten!", schimpft die Polizistin. "Warum knallt man die nicht einfach alle ab?"
"Ach ja?", ereifert sich Leonie. "Haben die Kühe etwa darum gebeten, ein ganz klein wenig genmanipuliert zu werden, damit sie uns weiterhin Milch und Fleisch liefern können, aber jetzt angeblich klimaneutral? Als Nebeneffekt sind sie nun halt ein bisschen schlauer, schneller – und viel, viel aggressiver. Und ich finde, sie haben sich genau die richtigen ausgesucht, gegen die sie jetzt ihre Wut richten – nämlich gegen uns!"
Wo sie recht hat, hat sie recht.
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