38 | Entertain me
»Normality is a paved road:
It's comfortable to walk, but no flowers grow.«
„Dann hat dir das Interview also wirklich gefallen?", fragte Nylah ungläubig. Aus dem Augenwinkel bemerkte sie Ewans triumphierendes Lächeln.
„Was ich davon halte, ist vollkommen nebensächlich. Das Wichtige ist, dass es seinen Job erfüllt hat: Die Leute sind auf euch aufmerksam geworden", erklärte Ben, der Chef ihres Plattenlabels, zufrieden. Wie so oft trug er ein Karohemd, das er unordentlich in seine Hose gesteckt hatte. Auch seine langen, braunen Haare hatte er nachlässig zu einem Dutt gebunden.
„Ihr seht ja selbst, wie viele Anfragen eingetrudelt sind", fuhr er fort und deutete mit einer Handbewegung auf den Display des Laptops, der ein übervolles Emailfach zeigte, „die nächsten Wochen stehen auf jeden Fall einige Auftritte an. Das Angebot mit dem Musikvideo ist aber bisher immer noch das eindrucksvollste."
„Dann nehmen wir das jetzt also an?", mischte sich Reece ein. Er tat sich schon mit dem Songschreiben schwer, der Dreh eines Musikvideodrehs war ihm aber sogar noch ferner.
Ben nickte. „Wir wären dumm, wenn wir es nicht tun würden. Ich habe mich jetzt auch ein wenig über die Produzenten informiert und sie wirken sehr professionell, auch, wenn sie relativ neu im Business sind. Die Referenzen sahen wirklich gut aus, sie treffen genau den Zahn der Zeit."
„Und wie genau läuft das ganze dann ab?", erkundigte sich Nathan, der wie ein kleiner Junge mit dem Stuhl herumwippte.
„Ich würde sagen, dass wir uns die nächsten Tage mal dran setzen und überlegen, was wir uns denn für das Video vorstellen. Und dann müssen wir natürlich mit den Produzenten sprechen, um herauszufinden, ob man diese Ideen auch tatsächlich in die Tat umsetzen kann."
Nylah nickte, während sie auf der Innenseite ihrer Wange herumkaute. Als sie nach New York gekommen waren, hatte sich das mit der Band eher sehr schleppend angefühlt. Doch seit sie bei „Looking Glass" unter Vertrag standen, ging alles Schlag auf Schlag. Und obwohl sie sich über diese Erfolge freute, machte ihr das Unbekannte auch irgendwie Angst.
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Die nächsten Tage verliefen genau so, wie Ben es angekündigt hatte: In mehreren Meetings überlegten sie, wie genau das Musikvideo aussehen sollte. Und das stellte sich anfangs als eine große Herausforderung dar, da keiner damit wirklich Erfahrungen hatte. Doch Ben bestand darauf, dass sie zumindest eine Grundidee an die Produzenten leiten sollten. Denn im Endeffekt waren sie nur dafür verantwortlich, ein gutes Video auf die Beine zu stellen. Was genau daran passieren wollte, war künstlerische Freiheit.
Und so brüteten sie an einigen Herbsttagen über diesem Problem und nach und nach formte sich aus vielen Einzelheiten tatsächlich ein Konzept: Die Band hatte sich dafür entschieden "Flowers" mit einem Musikvideo zu bereichern, das Lied, welches Ada und Reece zusammengeschrieben hatten. Es war ein sehr romantischer und emotionaler Song, der sich um eine Liebe drehte, die immer weiter erblühte und dennoch ständig irgendwie auf der Kippe stand, bei der es immer noch die Möglichkeit gab, dass sie verwelken würde.
Serendipity hatte sich dafür entschieden diese Emotionalität noch durch eine weitere Kunstform darzustellen: das Tanzen. Es war eigentlich nur ein spontaner Einfall von Nylah gewesen, doch je länger alle über diese Idee nachdachten, desto besser schien sie zu passen. So würde dieses Gefühl nicht nur über die Liedzeilen begreiflich werden, sondern auch dadurch, wie die Tänzer es darstellen würden.
Das Video würde dann jeweils aus getanzten Szenen und Einschnitten mit der Band bestehen. So zeigten sie sich zwar ebenfalls, jedoch lag nicht die ganze Aufmerksamkeit und Last auf ihnen.
Doch dieser Vorschlag brachte natürlich nochmal etwas mit sich, dem sie sich annehmen mussten: Sie brauchten Tänzer. Denn weder Nylah, noch Ewan, Reece oder Nathan hatten in diesem Bereich wirklich etwas vorzuweisen. Und deshalb begab sich die Band, gemeinsam mit Ben, ein paar Tage später zu einem Tanzstudio.
Nylah wischte ihre schweißnassen Handinnenflächen an ihrer Jeans ab. Obwohl sie heute nicht wirklich eine Leistung erbringen musste, war sie nervös. Sie überkam die irrationale Angst, dass niemand zu dem Casting erscheinen würde. Dass sie sich doch etwas anderes für das Musikvideo würden ausdenken müssen – und das obwohl auch bereits die Choreographie, die von einem Profi erstellt worden war, stand.
Mit erhöhtem Herzschlag folgte Nylah den anderen durch die Glastür ins Innere. Eine Frau, die Sportklamotten trug und sie freundlich anblickte, führte sie einen langen Flur entlang und blieb schließlich vor einer Tür stehen. Der zarte Windstoß, der durch das Öffnen der Tür entstand, fegte alle Sorgen weg, die Nylah eben noch gehabt hatte: Der Saal war zum Brechen voll. Neugierige und abwartende Gesichter blickten ihnen entgegen.
Eigentlich machte es auch nur Sinn, dass so viele erschienen waren. In einem Musikvideo mitwirken zu können, war natürlich eine Chance, die den Bewerbern ebenfalls bei ihrer Karriere weiterhelfen konnte.
Nylah war froh, dass Ben und die Frau vom Eingang das Reden übernahmen. Sie gaben Anweisungen, wie das Casting ablaufen würden: die Tänzer und Tänzerinnen würden alphabetisch aufgerufen werden und paarweise zum Lied die Choreographie vorführen. Und ganz am Schluss würde die Band (hoffentlich) direkt eine Entscheidung treffen können.
Als schließlich alle Kandidaten den Saal verließen, setzte Nylah sich neben Reece auf einen Stuhl und nippte an dem Glas Wasser, das ihnen die Frau vom Eingang, die wohl die Leiterin des Studios war, gegeben hatte. Auch sie würde ihren Lehrlingen heute zuschauen, weshalb sie neben Ben Platz genommen hatte.
Und dann ging das Casting auch schon los. Es prasselten unendlich viele Eindrücke auf Nylah ein. Irgendwie erinnerte sie die Situation daran, als sie einen neuen Bassisten gesucht hatten. Und doch gab es einen signifikanten Unterschied: Während Nylah damals sehr penibel und schwer zu überzeugen war, fand sie nun an jeder Person etwas, das sie gut fand. Sie beneidete die Tänzer und Tänzerinnen geradezu, denn sie selbst hatte kein wirklich gutes Körpergefühl.
„Die waren wirklich toll, oder?", fragte Nylah die anderen, als sich die Tür hinter dem Paar, das gerade vorgetanzt hatte, schloss.
„Das hast du bei den letzten zwanzig auch schon gesagt." Reece verdrehte die Augen.
„Ich fand sie auch sehr gut", pflichtete Nathan Nylah bei. Sein Blick traf kurz auf ihren und obwohl sie es nicht wollte, verschnellerte sich ihr Herzschlag.
In den letzten Wochen hatte sie gelernt mit ihren Gefühlen umzugehen, sie zu unterdrücken. Dennoch besaß Nathan noch immer diese Anziehungskraft und jedes Mal kämpfte sie gegen sich selbst. Sie wollte ihn immer noch. Aber sie begann langsam zu akzeptieren, dass das ein Wunsch bleiben musste.
„Ich kann euch nur zustimmen, sie waren phänomenal – so wie eigentlich alle deine Schüler und Schülerinnen", schmeichelte Ben der Leiterin des Tanzstudios, die das Kompliment mit einem strahlenden Lächeln beantwortete.
„Trotzdem haben wir ja noch einige Kandidaten vor uns und denen wollen wir ja auch eine Chance geben! Wir können das Paar von eben ja im Hinterkopf behalten. Bis wir eine Entscheidung treffen müssen, ist ja zum Glück noch ein wenig Zeit!", schon Ben hinterher. Nylah nickte zustimmend.
Bens Blick wanderte über die Liste, die auf seinem Schoß lag und mit lauter Stimme rief er die nächsten rein.
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Die Stunden vergingen. Es dauerte bis 20 Uhr, bis schließlich alle Paare vorgetanzt hatten. Obwohl Nylah von vielen sehr angetan war, entschied sie sich, gemeinsam mit den anderen, tatsächlich für die, die vorhin von ihr und Nathan gelobt worden waren. Neben den tänzerischen Fähigkeiten hatten diese beiden einfach das gewisse Etwas gehabt.
„Okay, dann hole ich die beiden rein?", schlussfolgerte die Leiterin des Studios und alle Beteiligten nickten. Nach einem kurzen Augenblick betrat das Tanzpaar schließlich erneut den Saal.
„Hallo nochmal", begrüßte Ben die zwei freundlich, was sie ihm gleichtaten. Er warf einen kurzen Blick in die Runde, bevor er verkündete: „Ich glaube, ich mache es kurz und schmerzlos. Wie ihr vielleicht vermutet, haben wir uns für euch beide entschieden. Wir freuen uns sehr auf die Zusammenarbeit!"
„Wir uns auch!", entgegnete der Junge prompt mit einem strahlenden Lächeln. Nylah konnte nicht leugnen, dass er durchaus attraktiv war. Sein athletischer Körper bezeugte die vielen Tanzstunden, die er hinter sich hatte. Seine braunen Haare waren ein wenig verwuschelt, was jedoch einen schmeichelnden Kontrast zu seinem kantigen Gesicht bot. Aber was am meisten an ihm auffiel, waren seine geradezu lächerlich blauen Augen.
„Vielen Dank für diese Chance!", stimmte das Mädchen euphorisch zu. Sie war beinahe wie eine Elfe. Ihre Statur war so zart und als sie vorhin getanzt hatte, hatte es gewirkt, als ob sie über das Parkett geschwebt wäre.
„Super, ihr bekommt dann natürlich noch alle Einzelheiten, wo und wann das ganze schlussendlich stattfindet. Wir bedanken uns für eure Zeit heute und freuen uns, wie bereits gesagt, mit euch zusammenzuarbeiten... Entschuldige, wie waren eure Namen nochmal? In der ganzen Aufregung habe ich das total vergessen." Unruhig huschten Bens Augen über die Liste.
„Ich bin Jude Carter!", half ihm das elfenhafte Mädchen aus.
„Und ich bin Thane Jacobs", stellte sich auch der Junge nochmal offiziell vor. Das charmante Funkeln in seinen blauen Augen ließ diese wie zwei Diamanten erscheinen.
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