36 | Shadows
»Goodbyes hurt when the story is not finished
and the book has been closed.«
Der Umzug nach New York war jetzt bald ein halbes Jahr her und seitdem schien die Zeit, rasend schnell vergangen zu sein. Als sie angekommen waren, waren Nylah und ihre Bandkollegen beinahe vom Sommer New Yorks, von der unbarmherzigen Hitze erschlagen worden. Doch jetzt, nachdem die Blätter der Bäume sich verfärbt und die Straßen der Stadt gesäumt hatten, kündigte sich die kältere Jahreszeit an.
Zwischen all dem, was sie seitdem erlebt hatten, hatte Nylah gar keine Zeit gehabt, um wirklich Heimweh zu haben. Ständig war sie mit irgendwas beschäftigt gewesen: Auftritten, Schichten in der Bar, den Proben, der Tatsache, dass sie immer noch Kol vermisste, den neu entdeckten Gefühlen für Nathan und die Erstickung von diesen, bevor es zu spät war,... In all dieser Hektik war Montreal eine Abwechslung gewesen, von der sie gar nicht wusste, dass sie sie gebraucht hatte.
Endlich hatte sie tatsächlich mal abschalten, mit ihren Eltern und ihren drei älteren Brüdern unbeschwert lachen können. Und obwohl diese Auszeit so erholsam gewesen war, war jeder Moment auch irgendwie bittersüß.
Ihr ganzes Leben hatte Nylah davor bei ihren Eltern gewohnt, hatte sie jeden Tag gesehen. Dadurch, dass sie nun so viele Kilometer trennte, die es nicht erlaubten, jedes Wochenende den weiten Weg auf sich zu nehmen, nahm sie jeden einzelnen Moment viel bewusster wahr.
Außerdem fielen ihr plötzlich Kleinigkeiten auf, die sich verändert hatten, seit sie Montreal verlassen hatte, um ihrem Traum näherzukommen. Seien es die grauen Haare, die langsam dabei waren, den Haarschopf ihres Vaters zu durchziehen; das verstärkte Humpeln ihrer Mutter, die schon immer ein Problem mit ihrem rechten Bein gehabt hatte; ihr altes Kinderzimmer, das verlassen und trostlos wirkte... Überall würde sie daran erinnert, dass die Zeit nicht stehen blieb, nur, weil sie nicht mehr hier war. Sie konnte nicht irgendwann wieder zurückkommen und alles genau so vorfinden, wie sie es verlassen hatte.
Früher hatte der Gedanke, dass alles endlich war, Nylah verrückt gemacht. Sie hasste es, dass sie über manche Dinge keine Kontrolle hatte, dass sie zusehen mussten, wie Menschen, die sie liebte, irgendwann nicht mehr sein würden. Während einige Menschen dies mit einem Schulterzucken und mit der Aussage, dass das Leben nun mal so sei, abtaten, wurde Nylah damals davon zerfressen.
Doch irgendwie hatte sie gelernt, damit umzugehen. Sie hatte erkannt, dass es keinen Sinn hatte, vor etwas Angst zu haben, worauf sie keinen Einfluss hatte und dass sie das eher als eine Chance ansehen musste. Die Welt stand ihr offen und sie musste etwas aus ihrem Leben machen. Deshalb hatte sie sich dafür entschieden, nach New York zu gehen. Denn die Zeit blieb nicht stehen. Egal, ob sie sich in ihrem Zimmer verkroch und jedem vergangenen Moment hinterher trauerte.
Dieser Meinungsumschwung kam nicht von heute auf morgen und hatte Nylah einiges abverlangt. Zwischen Panikattacken, Angstzuständen und einer ständigen inneren Unruhe war sie eine Weile lang nicht in der Lage gewesen, das Haus zu verlassen. Aber in dieser Zeit hatte eine Person sie nie aufgegeben: Kol.
Egal, wie oft sie zusammenbrach, wie oft es schien, als ob sie drei Schritte rückwärts statt vorwärts machte; er war immer da gewesen. Seine Liebe schien bedingungslos zu sein.
Zumindest hatte Nylah das geglaubt.
Sie schluckte und bedeckte ihre Augen mit der Hand. Sie würde nicht weinen. Heute nicht.
Was auch immer Kols Gründe gewesen waren - sie wollte ihn so in Erinnerung behalten, wie er damals gewesen war. Nur so würde sie irgendwann ihren Frieden damit schließen können.
Nylah holte tief Luft und ein Lächeln bildete sich auf ihren Lippen. Obwohl es vielleicht merkwürdig erschien, war sie stolz auf sich. Viel zu oft in ihrem Leben hatte sie sich schwach gefühlt, weil sie sich selbst immer wieder mit ihren eigenen Gedanken runtergerissen hatte. Doch heute hatte sie sich zum ersten Mal selbst daran erinnert, dass sie loslassen musste. Die Beziehung zu Kol lag außerhalb ihrer Reichweite, sie hatte keine Kontrolle darüber. So wie sie über viele Dinge im Leben keine Kontrolle hatte. Aber sie würde nicht daran zerbrechen. Ironischerweise halfen ihr Kols Worte von damals auch jetzt noch.
Sie stieß den Atem aus und setzte sich ruckartig auf. Plötzlich war sie voller Tatendrang und eine gewisse Euphorie packte sie. Von außen betrachtet, musste Nylah wie eine Wahnsinnige wirken, aber sie war sich sicher: Heute war ein guter Tag.
-
Auch die nächsten Tage riss Nylahs Glückssträhne nicht ab. Zum ersten Mal seit einer Ewigkeit fühlte sie sich wohl und wieder wie sie selbst.
Das bedeutete jedoch nicht, dass sie wenig zu tun hatte. Ganz im Gegenteil: Seit sie vor ein paar Tagen wieder in New York angekommen waren, war sie die ganze Zeit eingespannt gewesen. In der Bar waren zwei Kollegen kurzfristig ausgefallen, weshalb sowohl Nylah, als auch Nathan, Überstunden machten.
Und auch mit der Band ging es voran. Die Wochenenden waren mittlerweile eigentlich immer mit Auftritten belegt, sie arbeiteten weiterhin an neuen Songs, probten so viel sie konnten, besprachen sich sehr oft mit Ben und dem Team von „Looking Glass" und heute stand sogar ein Interview mit einem kleineren Radiosender auf dem Plan.
Aufgeregt sammelte Nylah ihren Schlüssel und ihr Handy ein und verließ die Wohnung. Jedoch nicht ohne ein „Bis später", gerichtet an Daphne und Ada, die sich gerade in der Küche befanden, zu rufen.
„Viel Erfolg, ich drücke die Daumen!" Ada blickte sie strahlend an, was Nylah erwiderte. Ihr Lächeln verrutschte jedoch für einen winzigen Augenblick, als sie tatsächlich ein gegrummeltes „Bis später" aus Daphnes Richtung wahrnahm. Nylah war fest davon überzeugt, dass sie sich verhört haben müsste, aber Adas überraschter Gesichtsausdruck belehrte sie eines Besseren.
Die Sängerin grinste und verließ die Wohnung. Es geschahen anscheinend doch noch Wunder.
Mit federleichten Schritten lief sie nach draußen, wo bereits Nathans Wagen mit laufendem Motor stand. Nylah ließ sich neben Ewan auf die Rückbank gleiten und begrüßte ihre Bandkollegen.
Nathan, der direkt merkte, dass Nylah für ihre Verhältnisse viel zu motiviert wirkte, zog eine Augenbraue nach oben und sein Blick begegnete ihrem im Rückspiegel.
„Da freut sich aber jemand auf das Interview", stellte der Bassist fest und Nylah grinste als Antwort.
„Klar, wieso auch nicht? Die letzten Wochen läuft es schließlich sehr gut für uns." Nathan nickte und lächelte. Es freute ihn, Nylah so zu sehen.
„Kaum ist Ewan normal geworden, ist jemand anders da, um so nervtötend fröhlich zu sein", bemerkte Reece mit einem genervten Stöhnen.
Während Nylah ein „Reece, du bist ein Idiot" von sich gab, kam aus Ewans Richtung nur ein lahmes „Halt die Klappe". Und außerdem ein leichter Gestank nach Alkohol.
Irritiert warf Nylah einen Blick auf die Uhr. „Hast du etwa getrunken? Um viertel vor elf?", ihre Stimme schoss in die Höhe.
Ewan zuckte nur mit den Schultern. Dunkle Ringe zeichneten sich unter seinen Augen ab, seine Hand, die auf seinem rechten Oberschenkel lag, zitterte leicht. Sein sonst so gepflegter Drei-Tages-Bart wirkte verwuchert.
Nylah schüttelte den Kopf und presste die Lippen aufeinander. Obwohl sich ihre Stimmung in den letzten Tagen so schlagartig auf positive Weise verändert hatte, schien das nicht für alle zu gelten. Natürlich war ihnen allen aufgefallen, dass Ewan seit seinem Besuch bei Lexi beinahe beängstigend still war. Sein lautes Lachen, seine verschmitzte Art und die Gewohnheit, Reece zu nerven, hatte er seitdem für sich behalten. Auch die Antwort auf die Frage, was zwischen ihm und Lexi vorgefallen war, behielt er für sich.
Die Möglichkeit, dass sie sich möglicherweise getrennt haben könnte, drängte sich natürlich irgendwie auf. Aber Nylah konnte sich das einfach nicht vorstellen. Sie hatten immer so verliebt gewirkt.
Vielleicht kam Ewan gerade einfach nur nicht damit klar, dass ihn und Lexi wieder so viele Kilometer trennten? Das würde sein Verhalten zumindest erklären. Ob dem wirklich so war, konnte aber niemand sagen, denn Ewan wollte nicht darüber reden. Dass hatte er ihnen allen nun mehrmals klargemacht.
Auch wenn es Nylah schwerfiel, ihren Freund so zu sehen - vor allem dass er seine Sorgen anscheinend im Alkohol ertränkte, bereitete ihr mehr Sorgen, als sie zugeben wollte-, konnte sie ihn nicht dazu zwingen, mit ihr zu reden. Doch sobald er sich dafür entscheiden würde, würde sie da sein.
Nylahs Blick wanderte aus dem Fenster. Sie konnte nur hoffen, dass sich Ewan gleich irgendwie bei diesem Interview zusammenreißen würde.
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