18 | When you're around
»Your eyes stole all my words away.«
Nylah prüfte ein letztes Mal ihr Aussehen im Spiegel und zupfte zum gefühlt fünften Mal ihr Oberteil zurecht. Heute war es soweit, heute war der Auftritt in der Bar.
Allein, weil sie nur daran dachte, brach ihr der kalte Schweiß aus. Sie holte tief Luft und versuchte ihr Spiegelbild aufmunternd anzulächeln, aber es glich eher einer Grimasse.
Obwohl sie es liebte, auf der Bühne zu stehen, war das auch gleichzeitig die Situation, die ihr am meisten Angst machte. Sobald sie dort stand und sang, war alles gut. Dann war es ihr möglich alles andere auszublenden und den Moment zu genießen. Aber die Minuten, teilweise sogar Stunden davor, waren die Hölle für Nylah.
Sie schüttelte den Kopf, wie als ob sie damit diese dunklen Gedanken ebenfalls von sich lösen könnte und verließ ihr Zimmer.
„Ich gehe schon mal los, wir sehen uns später?", erkundigte sich Nylah bei Ada, die gerade am Esstisch saß. Wie immer war vor ihr ein Laptop aufgebaut, auf dem sie eifrig herumtippte und nur kurz innehielt, um an ihrem Tee zu nippen.
Daphne einzuladen hatte sich Nylah nach ihrem letzten "Gespräch" gespart. Sie hatte versucht so höflich wie möglich zu sein, aber es war offensichtlich, dass sie nichts mit ihr zu tun haben wollte. Deswegen hatte Nylah nicht vor, sich noch weiter Mühe zu geben.
Adas Augen richteten sich nun auf sie und ihre blonden Haare tanzten um ihr Gesicht, als sie nickte. „Ja, ich werde da sein! Schon mal viel Erfolg, falls wir davor nicht nochmal sprechen können."
Nylah lächelte unsicher, verabschiedete sich für den Moment von Ada und verließ die Wohnung. Sie hastete die Stufen nach unten, ihre Anspannung war ihr bis in die Knochen übergegangen. Unruhig sah sie sich draußen angekommen um, bis sie schließlich Nathans Auto auf der gegenüberliegenden Straßenseite entdeckte.
Mit eiligen Schritten überquerte sie die Straße und öffnete die Beifahrertür um einzusteigen.
„Hey", begrüßte sie ihn und versuchte nicht wie ein verängstigtes Reh zu wirken.
Nathan zog eine Augenbraue nach oben. Offensichtlich ließen ihre Schauspielkünste zu wünschen übrig. „Ist alles in Ordnung?"
Sie nickte zuerst und schüttelte dann doch den Kopf. „Ich bin ein wenig nervös", gestand sie und sie spürte, wie sich ihre Wangen rot färbten. Irgendwie war ihr das peinlich.
Nathans grüne Augen lagen auf ihr, als er den Motor startete. „Wie lange ist dein letzter Auftritt her?", erkundigte sich.
Nylah, die auf diese Frage nicht vorbereitet gewesen war, benötigte einen Moment, um darüber nachzudenken. Ihren letzten Auftritt hatte sie auf jeden Fall gehabt, als Kol noch in der Band gewesen war.
„Vor einem halben Jahr schätze ich?", überlegte sie laut und versuchte den stechenden Schmerz in ihrer Brust, den sie immer verspürte, wenn ihr Kol ins Gedächtnis kam, zu ignorieren.
„Bist du sonst vor Auftritten auch nervös oder ist das jetzt einfach der Tatsache geschuldet, dass du schon länger nicht mehr auf der Bühne gestanden bist?", erkundigte sich Nathan, als er sich nun in den Verkehr einfädelte.
„Eigentlich immer. Aber heute besonders, vor allem, weil das ja unser erster Auftritt in dieser Konstellation ist", sie bemühte sich ruhig zu bleiben, aber ihre Hände fühlten sich schweißnass an und ihr Herz klopfte unruhig in ihrer Brust.
„Okay, das verstehe ich", erklärte Nathan zu Nylahs Überraschung. Welche Frontsängerin fürchtete sich schon vor Auftritten? Das war ja so, als ob ein Fisch Angst vor dem Wasser hätte.
„Aber vielleicht hilft es dir dich daran zu erinnern, dass du nicht allein bist. Wir stehen, im wahrsten Sinne des Wortes, hinter dir." Nylah grinste über seine Wortwahl.
Die beiden fuhren noch ungefähr fünf Minuten, bevor Nathan sein Auto auf dem Mitarbeiterparkplatz abstellte. Für einen Moment saßen die beiden schweigend da, bis sich Nathan in Nylahs Richtung wand.
„Wir schaffen das. Okay?" Seine grünen Augen sahen sie eindringlich und entschlossen an. Für einen Moment fühlte sie sich davon seltsam eingenommen. Hatten seine Augen schon immer diesen helleren, leicht bläulichen Ton um die Pupille gehabt?
Ihre Lippen hatten die Worte geformt, bevor sie sie überhaupt gedacht hatte: „Okay".
Sie nickte nochmal, wie um sich selbst zu überzeugen. Das Innere des Wagens fühlte sich mit einem mal viel zu heiß an.
„Wir sollten reingehen", hörte sie Nathans Stimme sagen und sie schluckte. Warum fühlte sich ihre Kehle so trocken an?
„Ja", sie machte eine Pause, bevor sie sich räusperte, „Ja, das sollten wir." Sie riss ihren Blick von ihm los.
Schnell schnallte sie sich ab und stieg aus dem Auto aus. Die kühle Abendluft des Herbsts schlug ihr entgegen und gierig füllte sie ihre Lungen damit. Einen Augenblick stand sie einfach so da und genoss die Ruhe vor dem Sturm.
„Ewan und Reece kommen nach, oder?", ergriff sie dann das Wort, woraufhin Nathan nickte.
„Was war denn so wichtig, dass sie es heute noch davor reinschieben mussten?" Nylah konnte nicht anders, als sich über ihre Bandkollegen zu ärgern. Wenn die beiden zu spät kommen würden, konnte sie für nichts garantieren.
„Reece hat heute seine Schicht im Kino und was Ewan macht, weiß ich nicht", erklärte Nathan achselzuckend.
Sie schnaubte. Das war wieder typisch. Die Angst, dass die beiden möglicherweise nicht rechtzeitig da sein würden, kam nämlich nicht von irgendwoher. Nylah konnte sich noch zu gut an einen Auftritt auf einer Party, auf der sie als Live-Band gebucht worden waren, erinnern. Eben genannte hatten sie und Kol im Endeffekt nämlich alleine stemmen müssen. Zum Glück waren die Gäste, und vor allem die Gastgeber, zu dem Zeitpunkt des Auftritts bereits betrunken genug, weshalb ihnen nicht mal auffiel, dass irgendwas nicht ganz richtig lief.
Obwohl damals also alles glatt gelaufen war, konnte sie auf eine Wiederholung eines solchen Ereignisses verzichten.
„Hey, töte bitte nicht den Boten", Nathan hob gespielt ängstlich die Hände in die Luft. Nylah stieß die Luft aus und lachte. Ihre Schultern entspannten sich ein wenig.
„Na gut, lass uns trotzdem schon mal reingehen", überlegte sie, woraufhin sie die Bar gemeinsam mit Nathan betrat. Im Gebäude wurden sie sofort von Lucas begrüßt, der wie immer ein breites Grinsen im Gesicht hatte. Er war ein Berg von einem Mann und die Nähte seines Shirts schienen sich verzweifelt aneinander zu klammern, um den Träger des Kleidungsstücks nicht zu entblößen.
„Ah, da kommt ja schon die eine Lieblingshälfte meiner Lieblingsband!", grölte er laut. Er besaß wirklich ein beeindruckendes Stimmorgan.
„Wir sind die Lieblingshälfte? Wahrscheinlich nur, weil wir für dich arbeiten, oder?" Nathan zog eine Augenbraue nach oben. Lucas Grinsen wurde, sofern das überhaupt möglich war, noch breiter.
„Ganz genau!" Er lachte, als ob er einen besonders guten Witz gemacht hatte. Nylah konnte nicht anders als miteinzustimmen. Lucas war ein herzensguter, wenn auch seltsamer Kerl. Man konnte nicht anders, als ihn zu mögen.
In diesem Moment öffnete sich die Tür der Bar und Ewan und Reece betraten, zu Nylahs Erleichterung, das Lokal. Während Ewans Grinsen sich mit dem von Lucas hätte messen können, sah Reece so lustlos und gelangweilt aus wie eh und je.
„Ah, da kommt ja auch schon der Rest!", bemerkte Lucas mit einem Blick auf die beiden.
„Ewan sieht wieder so glücklich und freudestrahlend wie immer aus!" Der Besitzer der Bar legte einen Arm um Ewans Schultern, der sich unter diesem Gewicht kaum noch aufrecht halten kann.
„Jawoll, Sir!", entgegnete er dennoch und lachte.
„Und Reece hat nach meinem Urteilsvermögen wieder absolut keine Lust auf das alles hier." Lucas legte seine freie Hand auf Reece Schulter, der daraufhin nur mit den Achseln zuckte.
„Ich habe ein Image zu verlieren", antworte er.
„Du hast Glück, die Frauen stehen auf solche geheimnisvollen Typen wie dich", verkündete Lucas mit plötzlicher Ernsthaftigkeit, die selbst Reece zum Lachen brachte.
„Na wenn du das sagst, kann ja nichts mehr schief gehen", entgegnete er.
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