06 | Somebody else
»If you never heal from what hurt you, you'll bleed on people who didn't cut you.«
"Hast du mir überhaupt zugehört? Ich habe dir gesagt, dass das halb so wild ist!" Daphnes Stimme klang schrill und am liebsten hätte sie ihr Handy auf den Boden geworfen, damit die wütenden Ausrufe ihrer Mutter verstummt wären.
"Ich entscheide, was hier 'halb so wild' ist. Was ist das überhaupt für eine Ausdrucksweise? Wo hast du sowas aufgeschnappt?", antwortete Daphnes Mutter zornig. Die Brünette presste die Lippen aufeinander. Sie verfluchte sich selbst dafür, dass sie ihre Vorgesetzte über die verhauene Klausur in Kenntnis gesetzt hatte. Sie hätte sie einfach nächstes Semester wiederholen und kein Wort sagen sollen.
Diese Situation hatte Daphne sich wohl selbst eingebrockt. Als sie sich das letzte Mal jedoch für die Möglichkeit entschieden hatte, ihrer Mutter nichts über eine nicht bestandene Klausur zu sagen und es ihr im Nachhinein versehentlich herausgerutscht war, war ihre Mutter noch ungefähr zehn Mal wütender gewesen.
Wie sie es auch drehte und wendete: Dem Zorn ihrer Mutter konnte Daphne nicht entkommen.
Sie zwang sich dazu tief Luft zu holen und etwas ruhiger zu sprechen: "Du brauchst dir wirklich keine Sorgen zu machen. Die Klausur muss ich sowieso erst nächstes Semester bestanden haben, ich gerate jetzt noch nicht in Schwierigkeiten, weil ich es noch nicht geschafft habe. Viele meiner Kommilitonen sitzen mit mir da im selben Boot, das ist kein Weltuntergang."
"Mir ist es völlig egal, wie es deinen Kommilitonen im Studium ergeht! Es geht mir um dich, Daphne! Das war das zweite und letzte Mal, dass du eine Klausur nicht bestanden hast. Andernfalls kommst du wieder nach Hause." Die Stimme ihrer Mutter klang boshaft und Daphnes Finger krampften sich um ihr Handy.
"Ich bin alt genug, um mir selbst auszusuchen, wo ich wohne. Schließlich bezahle ich die Miete selbst", antwortete Daphne zähneknirschend. Sie war erst vor zwei Monaten hier mit Ada in die WG gezogen, da sie es zuhause einfach nicht mehr ausgehalten hatte. Obwohl ein Job neben dem Jurastudium eigentlich Selbstmord war, war es ihr das wert. So wurde sie zumindest nicht jeden Tag von ihrer Mutter daran erinnert, was für eine riesige Enttäuschung sie war.
"Ich habe deinen Auszug akzeptiert. Aber dass du dort anscheinend nicht mehr lernst und dein Studium an der Uni, an der Elite-Uni, wenn ich dich dran erinnern darf, aufs Spiel setzt, für Partys oder was auch immer du tust, ist inakzeptabel. Und das ist mein letztes Wort, Daphne."
Da konnte die Brünette nur zustimmen.
Ohne sich zu verabschieden, beendete Daphne den Anruf und legte ihr Handy unsanft auf ihrem Tisch ab. Die angestaute Wut schien sie zu zerreißen.
Vor einem Jahr hatte sich Daphne von ihrer Mutter überreden lassen, ein Jurastudium zu beginnen. Ihr Vater war Jurist und ihre Eltern hatten sich, schon seit sie klein war, das gleiche für sie gewünscht. Durch die Kontakte ihrer Erziehungsberechtigten war Daphne dann in eine Elite Universität hier in New York gekommen.
Den ersten Gedanken, den sie in ihrer ersten Vorlesung gehabt hatte, war, dass sie die Leute und den Unterrichtsstoff hasste. Alle ihre Kommilitonen waren schnöselig und von sich überzeugt. Seit ihrer Kindheit hatte man ihnen gesagt, dass ihnen die Welt gehörte.
Jeder, dem sie das erzählte, fragte, wieso sie nicht einfach aufhörte. Doch das konnte sie nicht. Egal, wie rasend ihre Mutter sie machte, irgendwo ganz tief drin in Daphne, hatte sie das Bedürfnis sie zufriedenzustellen. Ihr ganzes Leben hatte sie danach gerichtet ihrer Mutter alles recht zu machen - und es bisher nie geschafft. Sie sehnte sich nach der Anerkennung von dieser Frau, die ihr diese seit dem Kindesalter verwehrte.
Je mehr Daphne sich das in diesem Moment eingestand, desto erbärmlicher kam ihr das vor.
Ihr ganzes Leben schien ein einziger Scherbenhaufen zu sein. Da war ihre Mutter, die sie, seit sie denken konnte, unter Druck setzte. Das Studium, dass sie über alles hasste. Und zusätzlich ihr Exfreund, der vor einem Monat mit ihr Schluss gemacht hatte.
Er hatte ihr gesagt, dass er sie nicht mehr wiedererkannte. Die Person, in die er sich verliebt hatte, wäre fort. Und je länger Daphne in den kleinen Schminkspiegel starrte, der auf ihrem Schreibtisch stand, desto mehr stimmte sie dem zu.
Sie war ständig gereizt, distanzierte sich von den Personen, die sich wirklich um sie sorgten, traf die falschen Entscheidungen. Sie fühlte sich als wäre sie in einem Käfig eingesperrt.
Daphne konnte nicht sagen wieso, aber in jenem Moment musste sie an Nylah denken. Nylah, das Mädchen, das bald zu ihnen in die WG ziehen würde. Nylah, das Mädchen, das ein perfektes Leben zu haben schien.
Daphne hatte sie von der ersten Sekunde an verachtet.
Das Auftreten von ihr war so eindrucksvoll gewesen. Sie war eine echte Persönlichkeit. Daphne erinnerte sich vage an eine Zeit, als die Menschen so über sie gedacht hatten.
Sie konnte es kaum vor sich selbst eingestehen, aber tief im Innern wusste sie, dass sie Nylah beneidete. Darauf, dass sie tragen, sagen und tun konnte, was sie wollte. Am liebsten würde Daphne mit ihr tauschen: In eine unbekannte Stadt ziehen, um dort ein neues Leben beginnen? Das was Nylah gerade durchlebte, war für sie ein unerreichbarer Traum.
Wütende Tränen stiegen ihr in die Augen. Wut über ihre Mutter, ihren dämlichen Exfreund und vor allem über sich selbst.
Daphne sehnte sich danach, jemand anders zu sein.
Daphne sehnte sich danach, frei zu sein.
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