Schenk mir dein Vertrauen
June dachte nicht nach, als Severus die Tür aufschloss. Es drehte sich alles. Ihr war schwummerig und schlecht.
Sein wie immer ausdrucksloser, fieser Blick. Wie er die Kessel beäugte und ihr knurrend erlaubte, gehen zu dürfen.
Snape fiel jedoch sofort auf, dass etwas nicht stimmte.
„Alles in Ordnung, June?", fragte er überrascht nach.
An anderen Tagen hätte sie sich gefreut, wenn er sich um ihr Wohlbefinden erkundigt hätte. Das kam ihr jetzt makaber vor. Wie eine Maske, die er trug.
„E-Es ist nichts...gar nichts..."
Mit ihrem Zauberstab verließ June blitzartig den Raum. Sie schlug die Tür hinter sich zu.
Severus hörte, wie sie die Kerkertreppen hinaufrannte. Aber er machte keine Anstalten, ihr zu folgen. Er war immer noch ziemlich verwundert.
Es kam ihm eine wage Vermutung in den Geist.
Er lief zur Schublade und kramte in seinen Unterlagen. Die Pergamente waren durcheinandergebracht worden. Das Blatt von Ariano lag ganz oben.
Nachdenklich nahm er es in die Hand und betrachtete das lebensfrohe Gesicht des verstorbenen Spaniers.
Er schloss die Augen. Selbst könnte er sich eine verpassen für seinen Leichtsinn. Er hätte damit rechnen sollen, dass sie seine Sachen durchwühlen würde. Snape hätte gerade dieses Dokument besser verstecken sollen.
Vermutlich hatte sie es gefunden und schloss nun daraus ein falsches Ergebnis.
Snape sollte ihr hinterher. Aber er war zu aufgebracht.
Er wusste nicht, wie er es ihr erklären sollte.
Wie er mit June umgehen konnte, ohne sie weiter ins Verderben mit hineinzuziehen. Sie steckte schon zu tief mit drin.
Das durfte nicht passieren. Er musste sie schützen.
Severus hielt sich die Hand an die Stirn.
Das war zu viel für ihn.
Er musste zu Dumbledore. Auf der Stelle.
June indessen rannte ohne Orientierung durch das schloss. Ihr Kopf arbeitete nicht, nur ihre Beine trugen sie durch die Korridore.
Sie beachtete die jubelnden und grölenden Schüler um sich herum nicht. Sie schaltete sie aus ihrer Umgebung einfach aus.
Sie rempelte sich einfach durch die Mengen. Lief, wie ein Reh, panisch durch die Gemäuer. Auf der Flucht vor etwas, vor dem es kein Entkommen gab.
Erst als die vom Innenhof aus in die Ländereien kam, wurde sie langsamer.
Sprintete nur noch im halben Tempo durch das feuchte Gras.
June passte nicht genau auf. Sie stolperte über einen Stein, fiel in das Gras und blieb einfach liegen.
Es gab für sie keinen Sinn, aufzustehen.
June fing an zu weinen. Bitterlich. Grenzenlos. Verloren. Verzweifelt. Enttäuscht. Verraten.
Dieser Mann war nicht mehr der, den sie jahrelang zu kennen meinte.
Sie hatte ihm vertraut. Geglaubt, dass er nie zu so etwas in der Lage sei.
Er hätte doch noch nicht einmal ein Motiv dafür gehabt.
Was hatte man ihr noch verschwiegen?
Junes Körper bebte unter den zahlreichen Schluchzern.
Sie war allein.
Nach einer Weile beruhigte sie sich wieder. Liegend im schützenden Gras sah sie ausdruckslos und matt in den dämmernden Himmel.
Von hier fiel ihr das erste Mal auf, wie friedvoll und harmonisch die Natur doch war. Wieviel Trost sie spenden konnte.
Ihre Brust durchzuckte immer noch heftiges Schluchzen. Ihre Hände waren neben ihrem Gesicht gebettet.
Eine kleine Raupe krabbelte an ihrer Kuppe entlang.
June beobachtete sie, ohne sie richtig wahrzunehmen.
Sie sah sie sich nur an. Wie sie langsam, still und leise ihren winzigen Körper über ihre dunkle Haut bewegte.
Ob diese Raupe auch Familie hatte?
Das fragte sich June, als sie gedanklich in die Realität zurückkehrte.
Sie setzte sich auf und schubste die Raube vorsichtig auf ein kleines Blatt.
So konnte sie nicht weiter machen. Erstmal musste sie zurück ins Schloss.
Dann konnte sie weitersehen.
Benommen stand sie auf und ging mit zitternden Beinen zurück zum Gebäude. Sie hatte Kopfschmerzen.
Auf dem Innenhof war es leer. Der Himmel war dunkel.
Die Grillen fingen an, zu zirpen. Der Brunnen in der Mitte des Hofes plätscherte leise vor sich hin.
Sie war allein.
Immernoch.
„June?"
.Als June sich umdrehte, sah sie Ivan.
Er kam eilig auf sie zu. Mit besorgter Miene sah er zu ihr herab:
„Oh nein, June. Was ist passiert?"
June biss sich auf die Lippen. Sie wollte nicht vor Ivan weinen. Sie nickte. Auch wenn das nicken nicht wirklich überzeugend war.
Ivan nahm sie in den Arm und drückte sie an sich:
„Shhhhhhh! Alles gut.", flüsterte er einfühlsam und strich ihr über den Rücken.
June krallte sich in sein Hemd und fing abermals an, zu schluchzen.
„Komm mit, wir gehen zu mir. Wenn du willst, können wir reden. Manchmal hilft es schon, wenn nur jemand zuhört."
Er nahm vorsichtig ihre Hand. Die Berührung löste in June etwas aus. Wie ein Blitz fuhr es durch ihren Körper.
Es fühlte sich schön an.
Gemeinsam gingen sie zum Meer. Dort, wo das große Schiff stand.
Im Bootshaus setzten sie sich in eines der Boote.
Zusammen fuhren sie zu dem monströsen Gehäuse.
June fand es unheimlich.
Es stand dort auf dem See wie ein riesiges Geisterschiff. Das einzige, was Leben versprach, waren die leuchtenden Fenster.
Ivan half ihr wie ein Gentlemen beim aussteigen.
Durch eine Luke kamen sie ins innere des Schiffs.
Die Gänge waren leer. Aus den geschlossenen Türen hörte man tiefe Stimmen und leise Musik. Die Geländer der Treppen waren wundervoll verziert.
Ivan hatte sein Zimmer ziemlich weit hinten. Sie mussten ein ganzes Stück gehen. Hinter der Tür verbarg sich ein edler Raum. Ein großes Himmelbett stand links an der Wand. Der Schreibtisch war zweimal so groß wie der von June. Am Fenster stand ein Teleskop und an den Wänden hingen riesige Landkarten. Ganz im Pergamentstil gehalten. Lediglich schwarze Linien, die sich über die Oberfläche zogen.
June war fasziniert. Ivan bemerkte ihren faszinierten Blick und lächelte:
„Ich möchte nach der Schule eine Weltreise machen. Auf einem großen Schiff. Das war schon mein größter Traum, als ich noch ein kleiner Junge war."
Er ging in eine kleine Kajüte neben dem eigentlichen Wohnraum. Währenddessen ging June umher, um das Zimmer zu erkunden. Mit den Händen strich sie über die rauen Wände.
Ähnlich wie in Hogwarts waren zwei Portraits angebracht worden. Ein kleines Bücherregal stand auch dort.
Schwarze Magie...Maya hatte also recht gehabt.Die Schüler in Durmstrang waren damit vertraut. In Hogwarts waren sämtliche schwarzmagische Bücher in der verbotenen Abteilung abgeschottet.
Irgendwie reizte es June, vielleicht einmal einen Blick auf die Seiten zu werfen. Nur einen. Aber sie widerstand der Versuchung. Sie sollte die Hände davon lassen. Wer weiß, was das Wissen über dunkle Magie mit einem anstellte. Dumbledore hatte bestimmt einen guten Grund, diese Exemplare von den Schülern fernzuhalten.
Ivan kam mit einem Tablett aus der Kajüte.
Er hatte Tee gekocht. Auf dem Schreibtisch stellte er das Tablett ab:
„Vorsicht, ist noch ein wenig heiß", mahnte er mit einem Lächeln.
June entdeckte einen runden Gegenstand. Er sah aus wie eine Uhr. Interessiert nahm sie in die Hände und betrachtete ihn von allen Seiten.
„Ah", machte Ivan. „Das ist ein Kompass. Der rote Pfeil, den du siehst, zeigt eigentlich immer nach Norden."
„Eigentlich?"
June sah ihn fragend an. Er schmunzelte:
„Nun, dieser Kompass wurde verzaubert. Er zeigt in die Richtung, was wir uns am meisten wünschen."
June betrachtete die Nadel. Sie bewegte sich hektisch in alle Richtungen. Schien sich nicht zu beruhigen. Es machte sie vollkommen wirr im Kopf, dabei zuzusehen. Ivan lachte beherzt mit seiner schönen Stimme.
„Das ist normal. Wenn du dir innerlich nicht sicher oder durcheinander bist, dann spielt sie verrückt."
Er nahm June den Kompass ab und legte ihn in seine Hände. Der Pfeil drehte sich ein paar mal und zeigte dann auf June.
Sie sah ihn misstrauisch an.
Er erörterte dieses Phänomen:
„Nun, ich habe dich vorhin gesucht. Ich wollte dich eigentlich etwas fragen. Deswegen war ich auf dem Weg in den Innenhof. Die Nadel hat mir diese Richtung angegeben."
„Ahja.", meinte June unsicher. „Und was wolltest du mich fragen?"
Ivan holte tief Luft. June sah, wie er innerlich nach Worten Rang. Er zwinkerte in die Luft und lächelte. Dann fragte er:
„Würdest du mit mir zum Weihnachtsball gehen?"
June war verwundert:
„Weihnachtsball?", fragte sie irritiert.
„Haben euch das die Lehrer noch gar nicht erzählt?"
June schüttelte den Kopf. Sie hatte noch nie etwas von einem Weihnachtsball gehört.
Ivan legte die Hände in den Schoß und betrachtete sie. Er dachte nach:
„Mein Meister hat es uns heute erzählt. Dass dieses Jahr in unserem Schiff ein Weihnachtsball stattfinden wird für alle drei Schulen. Wir sollen uns eine Begleitung suchen. Und da habe ich gleich an dich gedacht. Ich mag dich sehr gerne. Du bist hübsch....und äußerst sympathisch..."
„Heyy alles gut.", grinste June und griff beruhigend seine Hand.
Sie sah, wie nervös er war und in seinem Kopf nicht die richtigen Worte fand. Sie mochte Ivan auch gerne. Er war sehr nett. Man konnte sich wahnsinnig gut mit ihm unterhalten.
„Ich gehe mit dir hin."
Ivan sah auf und seine Augen leuchteten:
„Echt?"
„Ja, aber...", sie machte eine dramatische Pause.
„Ich kann nicht tanzen."
Sie kicherte. Er kicherte mit.
„Wenn dies das größte Problem sein sollte."
Er wurde still und sah ihr tief in die Augen. Dann strich er ihr eine Haarsträhne hinter das Ohr.
June erschauderte. Das hatte Severus manchmal bei ihr gemacht.
Sie wich ihm aus. Ivan schien das zu verletzen:
„Verzeihung, ich wollte nicht..."
„Schon ok.", winkte sie ab.
Sie nahm sich ihre Teetasse und pustete in den Qualm hinein.
Die warme Brise wirkte beruhigend auf sie ein. Sie genoss die Wärme an ihren Fingern. Es gab ihr Halt. Sie formte die Worte, die ihr auf dem Herzen lagen:
„Es ist nur....ich bin gerade nicht wirklich bei mir selbst. Ich bin ziemlich durcheinander."
„June."
Ivan sagte das eindringlich und zwang ihr, in seine Augen zu sehen.
„Du kannst mir alles erzählen. Ich bin für dich da."
Es wirkte seltsam. Sie und Ivan kannten sich doch erst so kurzfristig. Warum um alles in der Welt bot er sich an, mit ihr über ihre Probleme zu sprechen?
Das war neu für June. Etwas in ihrem Innern sagte jedoch, dass sie Ivan vertrauen konnte.
Tief atmete sie ein:
„Ich habe dir doch erzählt, dass mein Vater bereits verstorben ist."
Sie ließ eine Pause. Ivan nickte. June fuhr fort. Ihre Hände fingen an zu zittern:
„Du hast auch sicherlich schon von du-weißt-schon-wem gehört. Oder?"
„Oh ja, von dem habe ich gehört.", murmelte Ivan in sich hinein.
Es klang so, als ob er mit diesem Namen etwas verband. June würde später vielleicht darauf zurückkommen. Ihr waren seine Augen nicht entgangen. Wie sie starr an ihr vorbeigelinst hatten. Wie sich Ivans Hände zu Fäusten geballt hatten. Wie angespannt sein Kiefer war, als sie von ihm sprach.
„Nun...mein Vater wurde ermordet. Ich wusste nie, wie das passiert war. Man hat mir das verschwiegen. Aber seit heute weiß ich, wer es gewesen ist."
Es tat unglaublich weh, es auszusprechen. Junes Hände fingen wieder an, zu zittern. Es fühlte sich wie Verrat an. Ivan legte seine Hand auf ihre. Es war eine beruhigende Geste. In ihrer Brust kam wieder ein Schluchzen hoch. Doch sie drückte sich mit aller Gewalt die Tränen weg, die sich wieder anbahnten.
„Es war der Mann, der mich aufgezogen hat....Severus Snape."
„Und...da bist du dir ganz sicher?", fragte Ivan nach.
„Ja...ich habe ein Pergament in seinem Schreibtisch gefunden."
Ivan lehnte sich nachdenklich zurück auf den Stuhl. Er seufzte laut aus und wischte sich mit den Handflächen über das Gesicht.
„Und hast du ihn schon zur Rede gestellt? Ich meine findest du nicht, dass du das Recht auf die Wahrheit hast? Als ich meine Mutter verloren habe, da habe ich meinen Vater auch zur Rede gestellt. Du hast ein Recht darauf, die Wahrheit zu erfahren."
Sie war ein wenig von der Rolle. Sie hatte gar nicht gewusst, dass Ivan ein ähnliches Schicksal erlitten hatte. Er hatte nie so etwas persönliches von sich erzählt.
„Er würde wahrscheinlich sowieso abblocken. Außerdem mag er es nicht, wenn ich in seinen Sachen herumwühle. Es ist besser, wenn er es nicht erfährt."
Vermutlich würde er es rausbekommen, dass etwas nicht in Ordnung war.
Noch nie war sie so schnell aus seinem Büro gelaufen. June verstand das einfach nicht. Es passte nicht zusammen. Warum beschützte er sie und ihre Mutter?
„Ivan? Kann ich dir was anvertrauen?"
„Aber natürlich June."
Sie haderte mit sich.
„Meine Mutter ist Kimberley Moreno."
Sein Blick war nicht sonderlich überrascht.
„Die Hexe, die entführt wurde. Oder?"
„Sie wurde nicht entführt."
June! Du sollst darüber nicht sprechen. Ihre Gedanken wollten sie warnen. Sie ignorierte die Stimme in ihrem Kopf.
„Sie wurde verwandelt. Wir haben sie letztes Jahr gefunden."
„Wirklich? Was ist passiert? Wo ist sie jetzt."
Ivan merkte selbst, dass er wohl etwas zu direkt in Junes Bereich eingedrungen war.
„Entschuldigung.", sagte er gleich darauf. „Ich meine ich hoffe wirklich, dass es ihr gut geht. Verwandlung klingt ziemlich heftig."
„Snape, mein Ziehvater, er hält sie versteckt auf Dumbledores Befehl. In unserem Haus in Spinner's End."
„Interessant.", sagte Ivan.
„Und wie ist sie so? Deine Mutter?"
„Wie meinst du das?"
Ivan hatte sich vorgebeugt und sah sie interessiert an:
„Naja, sie soll ja eine der stärksten Hexen gewesen sein. Es wundert mich, dass du sagst, dass ihr sie versteckt haltet."
„Sie ist stark geschwächt durch den Zauber, der ihr auferlegt wurde. Aber nun. Snape versucht mit allen Mitteln herauszufinden, wer sie verwandelt hat. Er sagt, wir beide seien in großer Gefahr. Ivan, er war ein Todesser. Ich habe ihm immer vertraut. Aber was ist, wenn er lügt. Was ist, wenn er in Wirklichkeit vorhat, uns vielleicht zu töten? Oder noch schlimmer:"
Das letzte flüsterte sie:
„Was ist, wenn er uns den Todessern ausliefert?"
"Möglicherweise. Dann müssten wir handeln, sollte es so sein. Vielleicht ist es ja möglich, deine Mutter in die Schule zu bringen."
Er ging auf ihr Flüstern mit ein und griff wieder ihre Hände. Ganz nahe kam er ihrem Gesicht, sodass sie seinen Atem spüren konnte:
"Wenn es das ist, was du fürchtest. Vielleicht könnten wir sie hier verstecken. Wir haben starke Schutzzauber um unser Schiff. Mein Meister ist ein mächtiger Zauberer. Überleg es dir, ich biete dir meine Hilfe an."
"Warum?"
"Weil ich weiß, was es für ein Gefühl ist, ständig auf der Flucht zu sein. Niemandem vertrauen zu können und zu fürchten, seine eigene Familie zu verlieren."
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro