Der weiche Kern
„Bitte töten Sie mich nicht, Sir. Ich habe einen Bruder."
Hämisch grinste Snape auf den Jungen herab.
„Und die Frau, die sie töten wollten, hat eine Tochter. Wo bleibt da die Gerechtigkeit?"
Mit erhobener Braue sah er auf Andrej hinab. Der Junge hatte auf der Stirn Schweißperlen. Seine Hände waren zerschlissen. Von Schrammen übersät.
„Wenn ich sie nicht überbringe... dann wird er mich foltern."
„Der dunkle Lord hat dafür denke ich wenig Zeit.", versicherte ihm Snape.
„Nein, nicht der dunkle Lord. Er...Sie kennen ihn. Mein Meister. Igor Karkaroff."
Igor...Severus zog die Augen zusammen. Woher wusste dieser verräterische Kerl von ihrem Aufenthalt? Wie kam er darauf? Er scharrte Todesser um sich, und gab ihnen Aufträge? Das passte nicht zusammen.
„Überbring Karkaroff eine Nachricht.", raunte Snape. „Sag ihm: wenn er diese Frau noch einmal anrührt, werde ich ihm das Leben persönlich zur Hölle machen. Sie gehört dem dunklen Lord."
Andrej nickte sichtlich immer noch überrascht. Er war davon ausgegangen, dass Snape ihn töten würde. Hier auf der Stelle. In Hogwarts.
Wäre Andrej nicht so ein Dummkopf, dann müsste er wissen, dass jeden Moment eine Lehrkraft vorbeikommen könnte. Der Lärm hatte bestimmt jemanden aufgeweckt.
Bis jetzt war keiner hier. Und so sollte es besser auch bleiben. Dieser Vorfall sollte unentdeckt bleiben.
Wortlos ging Severus zu Kimberley.
Sie hatte das Bewusstsein verloren und lag so, als würde sie friedlich schlafen.
Mit den Händen schob er sie vorsichtig in seine Arme.
Kimberleys Körper fühlte sich an, wie eine Puppe. Schlaff hingen ihre Arme herunter. An ihrem Kinn war Blut. Ihre Lippe war aufgeplatzt. Das Gesicht war voller Dreck. Ihre wunderschöne blasse Haut war verunreinigt.
Snape trug sie schweigend hinaus. Vorbei an Andrej.
„Stimmt es? Sind Sie dem dunklen Lord noch immer treu?", röchelte Andrej erschöpft.
Severus hielt für einen Moment inne. Es sah so aus, als ob Andrej in ihm einen wunden Punkt getroffen hatte.
Snape drehte sich um, hob die Augenbrauen und grinste hämisch:
„Wer kann das schon sagen."
Das hämische Lächeln verschwand wieder. Und mit ihm trat auch Snape in den Schatten.
Im Büro kümmerte er sich um Kimberleys Wunden. Sie waren nicht schwerwiegend. Nichts, was er nicht im Handumdrehen wieder rückgängig machen konnte. Die Lippe und auch die Schrammen verschwanden unter seinem Zauberstab.
Die Haut war wieder so, wie vorher. Blass, rein, weich.
Er setzte sie an eine Wand. Jetzt hieß es warten, bis sie wieder erwachen würde.
Snape war sich bewusst, dass es nicht richtig war, was er getan hatte. Er hätte sich nicht an Kimberleys Geist zu schaffen machen sollen ohne ihr Wissen und ihre Erlaubnis.
Er hatte eine Barriere durchbrochen. Ein Tabu.
Albus Dumbledore hatte ihn davor gewarnt, die Legilimentik anzuwenden.
Besonders bei Kimberley und June.
Severus wollte ursprünglich herausfinden, wer für den Verwandlungszauber verantwortlich war. Er hatte gehofft, dass er das Gesicht des Verursachers in ihren Gedanken erkennen konnte. Wäre es ein Todesser, so wären sie einen Schritt weiter, auch Voldemort ausfindig zu machen und seine Pläne zu durchkreuzen.
Kimberley hatte diese unruhige Nacht geträumt. Im Schlaf hatte er ihre Stimme gehört. Er war aufgestanden weil er sich Sorgen gemacht hatte, dass etwas passiert sei.
Irgendwie hatte es ihn wütend gemacht. Als er sah, wie sie ihre Hände verkrampfte und in schweres Atmen verfiel. Die Hexe drehte sich von ihrer Fötusstellung auf den Rücken. Ihre blauen Augen waren offen und schauten direkt in seine. Starr ohne zu blinzeln. Weit aufgerissen.
Snape hatte nicht widerstehen können. Er wendete diese Nacht die Legilimentik an. Doch statt eines Verwandlungszaubers hatte er etwas anderes gesehen. Etwas, was er nicht sehen sollte.
Ein kleines Mädchen.
Mit blauen Augen und zwei geflochtenen, blonden Zöpfen, einer runden Brille und einem gelben Kleid. Sie ging an der Hand einer großen Frau. Das Bild wechselte sich. Eine große Wiese war erschienen. Auf ihr lief das Mädchen in einem Sturm aus Kirschblüten. Im nächsten Bild ein Pferd. Das Mädchen berührte die Nüstern dieses Tieres. Dann erschien eine Kutsche. Hinten auf dem Transporter, ein Käfig. Hinter den Gitterstäben stand das Mädchen. Sie hatte die Gitterstäbe umschlungen und blickte auf eine Familie, die in ihrem Sichtfeld immer kleiner wurde. Die letzten Bilder handelten davon, wie mehrere Mädchen und Jungen in einem Stall arbeiteten. Mit großen Werkzeugen und in kurzen Klamotten. Das letzte Bild hatte selbst Severus nicht spurlos ertragen können.Ein Junge, der zwei Mädchen in die Ecke drängte. Wie er etwas Unverzeihliches tat. Und dann eine schwebende Mistgabel, sie sich in das Fleisch des Jungen bohrte.
Er hatte es zusammengezählt und war unweigerlich zu dem Entschluss gekommen: Kimberley hatte in ihrer Kindheit einen Muggel umgebracht.
Bestimmt hatte sie ihn nicht töten wollen. In dem Alter konnten Kinder ihre Kraft nicht kontrollieren. Was für eine Ironie. Das Mädchen, was in ihrer Schulzeit oft den Ruf hatte, keiner Fliege was zur leide zu tuen, hatte einen Mord auf den Gewissen.
Mehr hatte er jedoch nicht erfahren. Der Blickkontakt wurde abgebrochen.
Lily hatte Kimberley sehr lieb gehabt. Und Lily wollte, dass er sie beschützte. Severus tat es zu diesem Zeitpunkt aber nicht mehr nur wegen Lily. Irgendwo fing er an, sich mit der Hexe verbunden zu fühlen.
Sie hatte ein ähnliches Schicksal gehabt. Sie war unter Muggeln großgeworden und hatte viel Leid erfahren. Und trotzdem hatte sie nach all der Zeit einen Muggel geheiratet. Kimberley war eine sonderbare Frau.
Nach einer Weile des Grübelns regte sich ihr Körper.
Schwach blinzelte Kimberley teilnahmslos und leer in die Dunkelheit. Als sie ihren Kopf drehte und Severus ansah, realisierte sie scheinbar erst nicht, in welcher Szenerie sie sich befand. Severus ging in die Hocke, um mit ihr auf Augenhöhe zu sein. Er wollte Kimberley keine angst machen. Jetzt nicht, nachdem er in der letzten Stunde bemerkt hatte, wie verletzbar sie wirklich war.
Snape hatte ihre wohl größte Schwäche enttarnt. Er hatte sie in der Hand. Er könnte sie nun ins Chaos stürzen. Er hätte die Mittel, um sie in den Wahnsinn zu treiben. Vor ein paar Jahren hätte er das wahrscheinlich sogar getan. Er griff ihre Handgelenke so fest er konnte.
„Sieh mich an!", knurrte er.
Und wieder zitterte Kimberley. Sie war stur. Sie weigerte sich und drückte die Augen zu.
„Geh weg von mir.", wimmerte sie.
Sie versuchte, seinem Blickkontakt so gut es ging zu entkommen. Mit Gewalt würde er hier nicht weiterkommen. Snape musste klug vorgehen.
Er wartete, dass sie sich beruhigte. Doch sie tat es nicht. Kimberley begann, sich unter seinem Griff zu winden. Sie trat nach ihm.
Ihm fiel nur noch eine Möglichkeit ein. Wenn er ihr Vertrauen gewinnen wollte, durfte er nicht auf seine Mittel schwören. Sie griff nach ihrem Körper und drückte sie an sich.
Kimberley hatte nicht damit gerechnet. Als Snape sie in eine feste Umarmung zog, war sie so überrascht, dass sie für einen kurzen Moment vergaß, zu atmen. An seiner Brust Seufzte sie tief aus. Snape umarmte keine Menschen. Es war surreal. Vielleicht ein Trick. Sie wehrte sich erst dagegen. Drückte mit den Händen auf seine Brust, versuchte sich herauszuwinden.
Severus war stark. Er lockerte den Griff nicht.
Nach einer Weile der Hilflosigkeit gab Kimberley auf. Sie gab sich der Umarmung hin.
Lange war es her, dass sie jemand umarmt hatte.
Es dauerte eine Weile, bis auch ihr Atem sich wieder beruhigte. Gleichmäßig arbeitete ihr Zwerchfell in ihrem Innern. Zwang sie zurück zur Ruheatmung.
Ein paar Tränen kullerten ihr die Wange hinab. Die warme Flüssigkeit brannte auf ihren Wangen wie Feuer.
Vielleicht war es auch die Wärme, die von Severus ausging.
Seine Körperwärme hüllte sie ein dichter Nebel. Sie konnte ihn riechen. Ihn hören. Ja, sie hörte das erste Mal seinen Herzschlag in seiner Brust. Snape hatte ein Herz. Was für eine Ironie.
Sein Kinn bettete sich auf ihrem Kopf. Sie lag in seiner Halsbeuge.
Leise schluchzte sie. Sie hatte Glück, dass es Snape war, der bei ihr war. Obwohl sie nach all dem nie davon ausgegangen wäre, dass er sie so nah an sich heran lassen würde.
Die Rationalität kam in ihren Kopf zurück. Der Verstand setzte wieder ein. Sie realisierte, dass Snape ihr nichts tuen würde. Hätte er sie umbringen wollen, hätte er es schon längst getan. Sie atmete seinen Geruch ein.
Allmählich lockerte sich sein Griff. Der Druck lies ein wenig nach.
Keiner sagte ein Wort.
Als Kimberley müde wurde, wollte Severus sie loslassen.
Er sollte nicht weggehen:
„Bleib bei mir, bitte. Lass mich nicht los."
Über die Worte dachte sie nicht nach. Sie kamen einfach aus ihrem Mund.
Tatsächlich blieb Severus. Er lies sie nicht los.
Severus legte sich zu ihr auf den Boden und hielt sie die ganze Nacht fest in den Armen, während sie schlief.
Niemals würde er zulassen, dass ihr jemand noch ein Leid antat.
Er wollte sie beschützen. Für Lily und für June. Vielleicht auch ein wenig für sich selbst.
Kimberley schlief. Er spielte in Gedanken mit ihren Haaren in seinen Fingern.
Sie waren unglaublich weich.
Auf dem Boden war es sehr ungemütlich. Er konnte diese Nacht keinen Schlaf finden. Aber er blieb bei Kimberley. Er war es ihr schuldig.
Er war Schuld, dass sie ihren Schmerz neu erleben musste.
Er musste gut machen, was er verursacht hatte.
Nein, er würde sie nicht loslassen. Er hielt sie warm. Er beschützte sie. Und dachte nach, wie er es zukünftig tuen könnte. War er derjenige, der sie überhaupt schützen konnte? Was das klug? Oder würde es beide ins Verderben stürzen.
Severus war verschwunden, als Kimberley den Morgen erwacht war.
Im Büro war es still.
Der Schreibtisch war aufgeräumt. In den Regalen schwammen die in Flüssigkeiten eingelegten Frösche und Reptilien. Der Raum war dunkel. Nur das Tageslicht lugte durch das Fenster.
Es schien die Sonne auf eine prachtvolle Schneelandschaft. Der Winter war ausgerückt und beschenkte sie mit seiner weißen Schönheit.
Kimberley fühlte sich matt und erschöpft. Mit trüben Augenliedern sah sie herab auf die Landschaft außerhalb des Schlosses.
Mit den Händen hielt sie eine Tasse Kaffee in der Hand. In Gedanken beschäftigte sie sich über den Brief, der auf Snapes Schreibtisch lag.
Er musste ihn geschrieben haben, bevor er das Büro heute Morgen in aller früh verlassen hatte.
Guten Morgen,
Es tut mir leid, was ich getan habe. Es ist schwer für mich, die richtigen Worte zu finden. Darüber reden ist mir unmöglich. Deswegen schreibe ich es dir. Einmal, damit du es weißt.
Ich bin nicht der Böse, für den alle mich halten. Bitte glaube mir. Ich habe nicht vor, dir wehzutun. Ich habe Lily versprochen, dich zu beschützen. Zu deiner Vergangenheit: Schäme dich nicht für das, was du getan hast. Mich selbst hat die Wut gepackt, als ich die Bilder in deinem Geist gesehen habe. Du hast ein anderes Mädchen vor einem schlimmen Schicksal bewahrt. Vor den Schmerzen, die du als deine Bürde trägst.
Bis heute ist es mir ein Rätsel, wie rein deine Seele ist. Lucius fand dich unausstehlich, Narcissa und Bellatrix halten dich für eine Heuchlerin. Ich habe es anfangs auch geglaubt. Bis ich dich wirklich kennengelernt habe. Du bist seltsam. Und du bringst mich damit oft zum kochen. Aber du hast ein gutes Herz.
Igor weiß Bescheid. Er will dich dem dunklen Lord ausliefern, um seine Schuld zu begleichen. Du bist in großer Gefahr. Der dunkle Lord wollte dich als Druckmittel benutzen, um an June heranzukommen. Ihr Blut bringt ihn zur vollendeten Macht. Du weißt warum. Er denkt, sie ist das Kind aus der Prophezeiung. Die Erbin. Er wird dich finden. Und wenn er sie hat, dich töten. Wie Lily und James. Dieses Ziel ist ihm genauso wichtig, wie die Vernichtung von Harry Potter.
Mach keinen Blödsinn
- Severus
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