Das gefiederte Meerschweinchen
„Eines Tages werde ich aus „Flourish und Blotts" treten und einen Roman in den Händen halten. Und da wird dein Name draufstehen."
Anerkennend nickend gab June Maya das mit Leder bezogene Buch zurück.Maya wurde rot um die Nase. So rot, wie sie momentan nur wurde, wenn Krum in der Nähe war.
„Oh June, du bist so süß. Ich schätze deine Meinung sehr. Aber ich glaube, jetzt übertreibst du maßlos."
Maya konnte keine Komplimente annehmen. June war sich dieser Tatsache bewusst. Sie kann nicht einfach danke sagen. Es war ihr unangenehm, wenn man sie lobte. Als Freundin. Tat es ein Lehrer, dann war das etwas anderes. Dann strahlte Maya bis über beide Ohren und hielt sich für das größte Genie des Jahrganges. Was manchmal auch ziemlich auf die Nerven gehen konnte. Lange aber konnte June es ihr nicht übel nehmen.
„Ich übertreibe nicht. Du schreibst wirklich gut. Ich bin begeistert."
Es war nicht das erste Mal, dass Maya June einer ihrer geheimen Geschichten gezeigt hatte, die sie schrieb. Maya wollte später einmal eine berühmte Schriftstellerin werden.
Sie verbrachte neben fleißigem Lernen und eifrigen Lesen viel Zeit damit, Gedichte, Lieder oder kleine Geschichten zu schreiben.
Über das Wochenende hatte sie einige Kapitel zu ihrem Langzeitprojekt hinzugefügt. June hatte sie in der Pause gelesen.
Mayas Handschrift war sehr ordentlich. Kunstvoll war die Tinte über das Blatt geschwungen. Tintenflecke waren kaum vorhanden.
Im Gegensatz zu June.
Junes Handschrift war miserabel. Sie beneidete Maya etwas für ihre Sorgfalt. Wenn sie sich bemühte, schön zu schreiben, dann dauerte ihr das viel zu lang. Zudem verschrieb sich June ziemlich häufig.
Wenn ein Professor auf einem ihm vorliegenden Aufsatz mindestens sechs durchgestrichene Worte, ein paar Blumen unter einem Eselsohr und Tintenklexe in unterschiedlichen Formen und Größen entdeckte, so konnte er felsenfest davon ausgehen, dass es sich dabei um June Moreno handelte.
„Ich habe noch nie darüber nachgedacht, ob im Weltall wirklich andere Lebewesen existieren.", gab June nachdenklich von sich. „Aber jetzt wo ich deine Geschichte über die Sternenleiter gelesen habe, lässt mich der Gedanke nicht mehr los."
Sie saßen gemeinsam auf einer Bank im Innenhof. Es schneite. Weiße Flocken rieselten leise herab.
Maya zog ihre Beine zum Schneidersitz zusammen. Mit den schwarzen behandschuhten Händen fummelte sie an den Bändern von ihren Stiefeln herum.
„Gerade das liebe ich am Schreiben. In die Köpfe meiner eifrigen Leser einzudringen und sie zum nachdenken anzuregen. Ganz ohne Magie."
Sie lächelte unter ihrer roten Wollmütze hervor. Ihre dunkelbraunen Haare hingen völlig verwuschelt neben ihrem Gesicht.
June sagte nichts. Vor ihnen rannten einige Zweitklässler durch den Schnee und bewarfen sich mit Schneebällen. Zwei kleine Mädchen aus Hufflepuff, rechts von ihnen, bauten gemeinsam einen Schneemann.
Die Jungs trafen versehentlich den Kopf des Schneemannes. Er viel herunter und kugelte herum. Die Mädchen beschwerten sich lauthals darüber. Schimpften herum wie kleine Rohrspatze, denen man den Mais vor der Nase weggenommen hatte.
„Verrückt. Wenn man bedenkt, dass wir auch alle mal so klein waren.", sagte Maya.
„Ja, so sorglos und unbeschwert", seufzte June träumerisch.
„Unser zweites Jahr war aber gar nicht so unbeschwert und sorglos.", stellte Maya fest.
Ach ja, da war ja was gewesen. Damals zu ihrer Zeit.
„Erinnerst du dich noch an die Kammer des Schreckens?"
„Wie könnte ich das vergessen."
June brummte vor sich hin. Die Erinnerungen daran waren nicht wirklich erfreulich. Wobei sie sich an die letzte Hälfte des Jahres gar nicht mehr erinnerte.
„Blair und ich hatten damals einen Herzstillstand, als wir von Professor Flitwick erfuhren, dass du versteinert im Krankenflügel gelegen hast. Das war ein ganz schöner Schock gewesen."
Der Grund, warum sie sich nicht mehr erinnerte. June hatte sich nie wirklich daran zurückerinnern können. Sie wollte sich mit Ginny Weasley im Korridor treffen. Doch das einzige, was sie von damals noch wusste waren zwei gelbe Augen, die sie in einer Ritterrüstung gesehen hatte.
„Ja, Professor Snape sagte mir nach dem Schuljahr, dass es meine verdiente Strafe war für unsere Vielsafttrankaktion auf dem Mädchenklo."
Bitter fing sie an zu lachen. Maya legte ihr eine Hand auf die Schulter. Beinahe besorgt strich sie über Junes Schulter:
„Ja, das klingt ganz nach Professor Snape. Aber du weißt, dass er das nicht so meint."
June schwieg. Maya wusste nichts. Sie hatte keine Ahnung. Sie war nicht dabei gewesen, als er vor ihrer Versteinerung mit ihr gestritten hatte. Wie er alles aus ihr herausgequetscht hatte. Über Wie fest er sie an den Schultern gepackt und sie geschüttelt hatte. Severus war schon immer sehr impulsiv gewesen. Er hatte eins zu eins zusammengereimt. Er hatte die kaputten Gläser von ihnen auf dem Mädchenkloh gefunden. Er konnte ahnen, dass June Hermine erzählt hatte, wo er seine Zutaten aufbewahrte. Und natürlich war ihm klar gewesen, dass sie es war, die Schmiere gestanden hatte, als Hermine die Baumschlangenhaut aus Snapes privaten Vorräten geklaut hatte. Dieser Mann war gerissen und fürchterlich intelligent. Hatte eine gute Kombinationsgabe, was ihn wahrscheinlich auch zu einem wahrhaftig guten Tränkebrauer machte.
„Als er damals im Krankenflügel war, hatte er ganz glasige Augen.", meinte Maya beinahe abwesend. „Wir mussten aus dem Zimmer gehen. Aber ich hatte beim rausgehen gesehen, wie er mit seiner Hand über deine blasse Stirn gestrichen hatte. Das war so eine rührende Geste."
So liebevoll er auch sein konnte, so hatte er auch seine dunklen Seiten. Severus war kein guter Vater. June kannte andere Väter. June kannte Mayas Vater. Und sie kannte Blairs Vater. Sie kannte auch andere Väter von Mitschülern. Severus hatte wirklich nichts mit ihnen gemeinsam.
Er war kalt, besaß kaum Empathie und hatte June viel alleine gelassen in ihrer Kindheit. Beschützt und erzogen hatte er sie. Aber das war nur die eine Seite der Medaille, die sie einem guten Vater verleihen würde.
Seit Kimberley da war, hatte er sich etwas gebessert.
Er war ruhiger und zeigte manchmal auch sanfte, eher ungewohnte Seiten.
Wie z.B. der Kuss auf dem Bahnsteig von King's Cross. Ein Beweis dafür, dass er sich gewandelt hatte.
In June schwankte es immer wieder. Sie wusste nicht, ob sie ihn mochte oder abgrundtief hasste. Es war irgendetwas dazwischen. Und egal, wie schlimm er war und wie sehr sie manchmal unter sein Verhalten litt, so liebte sie ihn irgendwo tief in ihrem Inneren.
„Hast du schon jemandem, mit dem du zum Ball gehst?", lenkte June vom Thema ab.
Maya war erst sehr überrascht von dem abrupten Wechsel. Doch sie fing sich wieder:
„Bis jetzt noch nicht, du?"
„Ich wurde gefragt. Und ich hab ja gesagt."
June war Maya gegenüber ehrlich. Dass ihre Freundin wiederum ihr Gesicht zu einer frechen Grimasse verzog, hatte June auch vorhergesehen.
„Und wer ist der gute Herr?", fragte sie verschwörerisch.
Mit dem Ellenbogen stieß sie June in die Seite. June schob Mayas Arm von sich weg:
„Ivan Poliakoff."
Das war das gefundene Fressen.
„Waaaas?", machte Maya. „June, das ist ja....wow! Aber ist der nicht ein wenig alt für dich?"
Prüfend blinzelte sie Maya an:
„Bist du meine Mutter?"
„Nein, aber. Ach egal...was sagt denn Snape dazu?"
„Er weiß es noch nicht."
„Oh."
Sie dachte an seine Warnung. Irgendwie musste sie es ihm noch beibringen. Sonst konnte sie sich darauf gefasst machen, dass der Weihnachtsball für sie eher im Desaster enden würde. Wie Ivan wohl reagieren würde? Er würde sicher kein Wort mehr mit ihr wechseln.
„Vielleicht hat sich das eh erledigt.", meinte June dann. „Ich meine: schau mich mal an. Außerdem kann ich noch nicht mal einen einfachen Walzer tanzen. Die Schüler verspotten mich schon mit Namen wie „Trampeltier" oder „Trollstampfer"."
„Ja, aber du hast doch Zeit. Du kannst ja üben. Mit ihm zusammen."
„Nein, ich habe schon wen gefunden."
„Echt? Wen denn?"
„Meine....ähm ich."
June stockte mitten im Satz. Beinahe hätte sie sich verplappert. Niemand durfte wissen, dass ihre Mutter hier war.
„Deine was?", fragte Maya erwartungsvoll.
„...Meine Vertrauensschüler. Die wollten das nochmal mit mir durchgehen.", rettete sie sich.
Maya sah sie misstrauisch an. Womöglich wusste sie, dass June sie anlog.
June grinste gestellt. Ihre Nackenhaare stellten sich auf.
Maya stellte aber keine Fragen. Sie nahm nur ihre Tasche und stand von der Bank auf.
„Mir ist kalt. Ich werde reingehen. Kommst du mit?"
Nach kurzen Überlegen zuckte June mit den Schultern:
„Ja, ich habe ja sonst gerade nichts zutun."
Auf der Türschwelle zum Korridor griff Maya June in den Ärmel. Sie zog sie ganz nah an sich heran und sprach ganz leise, sodass nur June sie hören konnte:
„Wenn der Weihnachtsball im Chaos endet, dann schreibe ich nach der Schule einen Roman darüber. Das wird der Bestseller der Winkelgasse."
„Nur wenn du die Namen änderst.", raunte June schmunzelnd.
„Ok, abgemacht. Deal?"
„Deal!"
Später traf June Neville auf dem Weg zum Klassenzimmer für Verwandlung. Der Junge, der sonst immer so introvertiert und ängstlich wirkte, hatte heute ein zierliches Lächeln auf den Lippen. Seine Schneidezähne ragten heraus, so weit hatte er die Lippen geöffnet. Ein leichter Schimmer war auf seinen Wangen.
Ja, Neville sah heute sehr frisch aus.
„Hey, was schmunzelst du so?", fragte June neugierig.
„Ach, nichts. Ich...sieht man mir das etwa an?"
Nevilles Stimmung war umgeschlagen. Besorgt blickte er sich um. Sie standen mittlerweile in einer Schlange vor dem Klassenraum. Neville und June waren am Ende. Die Schüler, die um sie herumstanden, beachteten keinen der beiden.
Sie waren viel zu sehr in Gespräche vertieft. Das Echo des Gemurmels hallte von den Wänden wieder und machte ein Belauschen beinahe unmöglich.
Trotzdem nickte June nur so zaghaft, dass es Neville gerade so auffallen konnte, wenn er ihr Gesicht genau studierte.
Beschämt ließ er seinen Kopf sinken. Das Schmunzeln auf seinen Lippen verschwand.
„Hey, sag mal was ist denn los? Es ist doch nichts dabei, wenn man einen guten Tag hat."
June war besorgt. Hatte sie etwas falsches gesagt? Einen wunden Punkt getroffen? Neville schluckte so stark, dass man die Beule in seinem Hals sehen konnte:
„K-Kannst du etwas für dich b-behalten? I-Ich will noch nicht, dass es schon j-jemand erfährt.", stammelte er ungehalten.
„Klar. Ehrenwort."
„I-Ich habe wen gefunden, für den..B-Ball."
„Oh Neville, dass ist doch wunderbar.", ermutigte ihn June.
Sie freute sich für ihn. Wenn es für jemanden schwer wäre, dann für Neville. Er hatte nach dem Tanzen Zweifel gehabt und das hatte wiederum stark an seinem Selbstwertgefühl genagt. Umso mehr freute sich June über diese erfreuliche Nachricht.
„Darf ich wissen, wer es ist?", hakte sie neugierig nach.
June merkte schnell, dass er sich von ihr bedrängt fühlte. Aber es wurmte sie. Sie wollte es wissen. Wer ging mit Neville zum Ball?
Nun, da musste sie wohl bis zum Ball warten. Neville sagte ihr nichts. Wirklich Nichts. Nicht einmal einen Tipp gab er ihr. Obwohl sie ihn darum bat, ihr wenigstens einen Tipp zu geben.
Wie z.B. welche Haarfarbe sie hatte oder welchem Haus sie angehörte.
Aber nein. Er vertraute ihr wohl nicht genug. Im Klassenzimmer schlug sie die Frage nicht mehr an. Stattdessen beobachtete sie Nevilles Blicke.
June analysierte mögliche Kandidaten. Sicherlich war es ein Mädchen, was er kannte. Neville würde nicht irgendeine fragen. So wäre das Risiko zu groß, eine Abweisung zu erhalten. Sie war ganz sicher aus Ravenclaw oder Gryffindor. June konnte sich nicht erinnern, Neville mit einer Schülerin aus Slytherin oder Hufflepuff gesehen zu haben.
Sie folgte seinem Blickwinkel. Vielleicht würde er sie ansehen. Seine Kandidatin. Es war wie Spurenlesen auf einem neuen Level. Spannung überkam June. Sie fühlte sich wie ein Detektiv.
Professor McGonnagall bemerkte Junes offensichtliche Abwesenheit vom Unterricht:
„Wenn sie ihrem Zauberstab genauso viel Beachtung schenken würden, wie ihrem Sitznachbarn, würde Ihnen der Zauber vielleicht auch gelingen, Moreno!", schimpfte sie beim Vorbeigehen.
Peinlich berührt sah June auf ihre Tischplatte. Die Schüler lachten. Und Malfoys hämischen Kommentare waren in ihren Ohren:
„Moreno hat sich wohl in Longbottom verguckt."
„Leuten da etwa die Glocken?"
„Da wird sich Professor Snape aber freuen."
Und wieder hatte June das Gefühl, im Erdboden versinken zu können. Hüstelnd beugte sie sich über ihr Perlhuhn und wedelte mit dem Zauberstab.
„Du bewegst deinen Zauberstab zu viel.", meinte Hermine, die einen Tisch weiter saß und sie genau beobachtete.
Sie selbst hatte bereits das Perlhuhn in ein Meerschweinchen verwandelt. Es lief quiekend über den Tisch und nagte an einem Schulbuch herum.
„Schau mal, du machst das so."
Hermine erklärte und erklärte. June sah nur unmotiviert dabei zu, unterdrückte ein aufkeimendes Gähnen und nickte, um so zu tuen, als würde sie jedes Wort von Hermine in ihr Gehör aufnehmen und verstehen. Am Ende der Stunde hatte es June immerhin geschafft, ein gefiedertes Nagetier vor sich sitzen zu haben.
Die Professorin schüttelte nur enttäuscht den Kopf, als sie ihre Sachen packten und sie an ihrem Tisch vorbeiging. Durch ihre kleine Brille beäugte sie ihre Schülerin kritisch.
„Sie waren einmal besser in Verwandlung, Moreno. Wenn ihnen etwas auf der Seele liegt, dann sprechen sie unbedingt mit jemandem darüber. Jemandem, dem Sie vertrauen. Wie Miss Walsh."
„Mir geht es gut, Professor."
June war ganz mulmig zumute. Klar, sie war im Unterricht nicht mehr einer der Besten. Aber das war doch lange noch kein Anzeichen dafür, dass etwas nicht mit ihr zu stimmen schien. McGonnagall klang wahrhaftig so, als seien ihre Noten rasanter als zuvor nach unten gerattert. Ohne nachzufragen, sprach ihre Hauslehrerin im mütterlichen Ton weiter:
„Ich weiß, es ist für Sie nicht gerade einfach. Professor Snape ist ein sehr strenger Lehrer und wahrscheinlich auch ein besonders harter Vater. Seien sie aber versichert, dass Sie nicht alleine sind. Auch ihm ist viel daran gelegen, dass es Ihnen gut geht und dass sie diese Schule mit den besten Schulnoten abschließen. Aber dafür müssen Sie...!"
„Alles bestens, Professor!"
June schnitt ihr scharf in den Satz hinein. Sie erschrak selbst über ihre Tat. Die Wut hatte sich zu stark in ihre Stimme gelegt. Niemals wollte sie ihre Hauslehrerin in so einem Ton zurechtweisen.
Professor McGonnagall hatte eine klaffende Wunde gefunden und reingebohrt. Nur so konnte sich June erklären, warum es eine solch immense Bitterkeit in ihren Tonfall geschafft hatte.
Mit beschämten Blick murmelte sie ein „tut mir leid", schnappte sich das gefiederte Meerschweinchen und ging hinaus aus dem Klassenzimmer.
Dabei hatte sie das arme Tier so fest gepackt, dass es demonstrierend lärmte. Es war kein Quieken. Es war ein undefinierbares Geräusch. Eine Mischung aus Gackern und Winseln.
Doch all das bekam June nur so am Rande mit....
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