"Was man tief in seinem Herzen besitzt, kann man nicht durch den Tod verlieren"
Hagrid war endlich wieder in Hogwarts. Als diese Nachricht sich verbreitete, war June überglücklich. Wäre da nicht Professor Umbridge gewesen. Die pinke Sabberhexe hatte den Unterricht bei Hagrid natürlich auf der Stelle inspiziert. Dass es selbstverständlich nicht gut ausgefallen war, wunderte keinen. Professor Umbridge war eine Frau, die viele Vorurteile besaß. Als June und die anderen zusahen, wie ein Kalb von unsichtbaren Kreaturen verspeist wurde (Hagrid nannte sie Thestrale), kam sie mit ihrem Klemmbrett und kommunizierte mit Hagrid auf einer seltsamen Sprache. Es sah so aus, als ob Umbridge glaubte, dass Hagrid sie nicht verstehe. Sie umrahmte all ihre Aussagen mit übertriebener Gestik und ausgeprägten Lippenbewegungen.
In der großen Halle traf June auf Neville. Sie ließ ihren Bedenken freien Lauf.
„Weißt du, Neville, es gibt wenige Sachen, die mich sauer machen...Bitte kein Wort zum Wochenende. Das war eine Ausnahme. Ich hatte einen schlechten Tag!"
June war das selbst mehr als peinlich. Ihr Ausrutscher gegen Ron hatte jeder mitbekommen. Neville ging nicht weiter darauf ein. Er nickte nur. June fuhr fort:
„Jedenfalls macht es mich sauer, wenn andere Menschen rassistisch werden.", vollendete sie ihren Satz und setzte sich auf die Bank.
Das Gespräch wurde nicht weitergeführt. Neville sagte nichts dazu und ließ sich nur stumm neben June auf die Bank fallen.
Gegenüber saßen Dean und Seamus.
„Hi.", machte Seamus beinahe schüchtern.
June warf ihm einen verwunderten Blick zu. Schweigend machte sie sich über die Suppe her. Seamus starrte sie weiterhin an, als wäre sie ein Geist. Es fühlte sich nicht schön an, so von oben bis unten begutachtet zu werden.
„Habe ich irgendwas im Gesicht?", fragte June etwas säuerlich.
Seamus schüttelte den Kopf.
„Nein, ich wollte mich nur bei dir entschuldigen"
„Dich bei mir was?"
June verzog das Gesicht. Wofür wollte Seamus sich entschuldigen? Hatte sie was verpasst?
„Nun ja....", Seamus kratzte sich verlegen am Hinterkopf. „Ich hätte bei den Hausaufgaben nicht meine Wut an dir auslassen sollen. Mich beschäftigt das nur wirklich sehr. Ehrlich gesagt fühle ich mich unsicher, weil ich nicht mehr genau sagen kann, was ich glauben soll"
June fiel es wieder ein. Seamus sprach von dem Tag, wo sie am Kamin erfahren hatte, wie sich die Beziehungen der beiden Jungs schlagartig verändert hatte. Darauf war sie nicht sonderlich freundlich zu Seamus gewesen. Was ja auch verständlich war, denn immerhin hatte er die jetzige Situation als Humbug dargestellt. Auf der einen Seite war es auch nachvollziehbar, aber auf der anderen wurden die Texte im Tagespropheten immer kurioser. Mittlerweile ergab nichts mehr von all dem wirklich Sinn. Und es würde sie wundern, wenn noch einer an die Zeitung glaubte.
„Ich denke, du sollest dich nicht bei mir entschuldigen.", nuschelte sie und nickte zu ihrer rechten. Dort saßen Harry, Ron und Hermine. Seamus folgte ihrem Blick. Seine Augen verrieten tiefe Abneigung.
„Potter kann sich erst bei mir entschuldigen. Er hat immerhin meine Mutter beleidigt.", knurrte er. „Aber ich denke, dafür ist er viel zu stolz."
„Der klügere gibt nach, Seamus.", grinste June und zwinkerte ihm zu.
Für eine Weile sah es wirklich so aus, als würde Seamus überlegen. Leider wandte er seinen Blick ab und sprach angeregt mit Dean darüber, was sie diese Weihnachtsferien machen würden.
Ein Thema, was June auch in letzter Zeit sehr beschäftig hatte. Sie wusste gar nicht, wie Weihnachten dieses Jahr bei ihr aussehen würde. Ob sie zu Onkel Jeff gehen würde oder zu ihrer Mutter....vielleicht aber auch im Hauptquartier des Ordens. Immerhin war Kimberley dort Mitglied. Oder sie würde dieses Jahr alleine in Hogwarts verbringen. Betrübt stellte sie fest, dass es wohl eher auf die letzte Möglichkeit hinauslaufen würde. Wenn man es genauer betrachtet, war es die Jahre bei Severus nicht anders. Sie war Weihnachten schon immer alleine gewesen. Aber immerhin war der Raum vertraut. Es war ein Stück Heimat gewesen. Und ein klein bisschen Hoffnung hatte sie gehabt, dass ihre Mutter an ihrer Seite wäre.
Nach dem Essen unternahm sie noch einen Abstecher zu Hagrid. Es dauerte noch, bis sie das letzte diesjährige Treffen der DA hatten. June brannte darauf, von Hagrid zu erfahren, wo er gewesen ist. Als sie gegen die Tür klopfte, dauerte es ein wenig, bis sie sich öffnete. Qualm kam aus dem Inneren. Und mitten in den weißen Rauchschwaden stand der Halbriese in seiner vollen Größe.
„June, was tust du denn hier.", hustete Hagrid erfreut und versuchte, mit der Hand den Nebel zu vertreiben.
„Darf ich reinkommen?", rief June ihm zu und musste die Augen zusammenkneifen. Die Hitze brannte in ihren Augen. Es roch seltsam. Eine Mischung aus Russ und Gebäck. Hagrid machte eine Armbewegung und ließ June eintreten. Er machte alle Fenster auf, damit der Rauch aus seinem Haus entziehen konnte. Dann machte er sich daran, mit den karierten Topflappen im offenen Ofen herumzufummeln. Er zog eine lange, eiserne Platte heraus und stellte sie auf einen Tisch. Es gab lautes Gerümpel und ein paar Vasen fielen zu Boden, wo sie im lauten Knall zerschellten. Fang, Hagrids Rüde, sprang sofort auf und trottete eilig zu June hinüber. Mit einem Satz sprang er auf die schmale Holzbank und ließ seinen gewaltigen Kopf auf den Schoß der Hexe fallen. June strich ihm sachte über den Kopf, während Fang ihre Hand begierig beschnupperte. Immerhin könnte June ja einen Keks dabeihaben.
„Diese Professorin aus dem Ministerium ist aber eine ganz schöne Schreckschraube.", meinte Hagrid plötzlich.
June sah auf.
„Ja, das stimmt. Sie unterrichtet uns in Verteidigung gegen die dunklen Künste. Kein angenehmes Unterrichtsfach. Es war vorher ja schon eine Katastrophe, aber nichts im Vergleich zu jetzt."
Entrüstet ließ June ihre Schultern hängen. Hagrid holte eine Tasse aus seinem Schrank und gab eine warme grüne Flüssigkeit hinein. June bekam einen Tee aus allmöglichen Waldkräutern. Angeblich gut für das magische Immunsystem. Sie nippte an dem Gebräu. Es schmeckte eigenartig, aber man konnte es trinken. Ihr Blick fiel auf Hagrid, der gerade dabei war, das verkohlte Gebäck von der Platte zu kratzen.
„Es tut mir übrigens wirklich leid, wie Umbridge dich behandelt hat.", sagte June und erntete einen fragenden Blick von Hagrid.
„Ach, mach dir nichts daraus. Ist ja nicht deine Schuld."
„Ja, ich weiß. Aber es macht mich wütend. Menschen aufgrund ihrer Herkunft anders zu behandeln, ist etwas abscheuliches."
Geräuschvoll stellte sie ihre Tasse zurück auf den Tisch.
„Wenn sich doch jemand mal die Mühe machen würde, dich wirklich kennenzulernen, dann wüssten sie, was für ein großes Herz du hast."
Hagrids Pupillen wurden für einen Moment glasig, doch er fasste sich schnell wieder.
„Sowas nettes hat noch nie jemand zu mir gesagt.", schluchzte er.
„Aber Hagrid..."
June wollte ihn nicht zum weinen bringen. Hilflos blickte sie zu Fang, der immer noch halb auf ihren Oberschenkeln lag.
„Letztes Jahr, als dieser Artikel in der Zeitung erschienen ist, da kamen Harry, Ron, Hermine und Professor Dumbledore zu mir herunter. Sie wollten mich überreden, dass ich meine Stelle als Lehrer wieder annehme. Und da haben sie gesagt, dass es nicht zählt, als was man geboren wurde."
„Und das ist wahr.", sagte June in einem ernsten Tonfall. „Kein Blutstatus der Welt sagt etwas über den Charakter eines Menschen aus. Schau dir bloß die Todesser an. Viele von ihnen sind reinblütige Hexen und Zauberer. Und sie sind nicht mal ansatzweise so, wie du."
Hagrid musste lächeln. Er trottete auf den Tisch zu. June reckte die Hand nach ihm aus. Ihre klitzekleinen Finger wurden vorsichtig von Hagrids großer Hand umschlossen.
„Du und brutal. Das ist die ausgesprochnen größte Lüge, die sie je über dich verbreitet haben."
Hagrid erzählte June von seiner Mission. Wie er mit Madame Maxim zu den Riesen gereist war, wie sie sich vor Walden Macnair und den anderen Todessern verstecken mussten und wie Madame Maxime Hagrid noch rechtzeitig vor Golgomath gerettet hatte.
„Karkus war dazu bereit, sich das Angebot anzuhören. Doch Golgomath hat ihn noch in der zweiten Nacht enthauptet. Ein schrecklicher Anblick."
Nun machte es Sinn, warum so viele Menschen dachten, dass die Brutalität der Riesen angeboren war.
„Hagrid, was steckt eigentlich hinter dem Orden des Phönix?"
June hatte sich diese Frage schon öfter gestellt. Aber ausgesprochen hatte sie es bis jetzt nie. Hagrid räusperte sich.
„Hat dir Kimberley nie davon erzählt?"
„Sie ist nicht sonderlich gesprächig, wenn es um die Vergangenheit geht."
„Nun...", Hagrid holte sich einen Stuhl und setzte sich. „Der Orden des Phönix ist eine Widerstandsorganisation. Sie wurde von Professor Dumbledore im ersten Krieg gegen du-weißt-schon-wen gegründet."
June hörte aufmerksam zu. Hagrids Miene wurde ein wenig betrübter.
„Viele Mitglieder sind bereits gefallen. Deswegen ist Professor Dumbledore darauf aus, mehr Leute für den Orden anzuwerben. Es war damals wirklich eine finstere Zeit. Und in meinem Gefühl ist es wie damals...."
Nachdenklich blickte er aus dem Fenster. Am Himmel braute sich ein Gewitter zusammen. Der Himmel war dunkel und verdeckt von den Wolken, die den Regen über das Land trugen. June folgte seinem Blick. Ohne wirklich darüber nachzudenken, schoss eine Frage aus ihr heraus.
„War mein Vater auch im Orden?"
„Du meinst Ariano Moreno?"
Hagrid sah sie verwundert an.
„Ich weiß nicht, wie ich darauf komme...", gab June zu. „Aber ich habe ihn nie gekannt. Und ich sehne mich danach, mehr über ihn zu erfahren."
Hagrid lächelte warmherzig.
„Das ist verständlich. Nun, Ariano war tatsächlich im Orden. Und das gefiel den meisten Mitgliedern überhaupt nicht. Immerhin war er ein Muggel. Die einzigen, die sich für Ariano aussprachen, waren Jefferson Stuart und die Eltern von Harry. Lily und James."
„Mein Vater hat Harrys Eltern gekannt?"
„Soweit ich mich erinnere, sind sie sich nie persönlich begegnet. Lily war mit Kimberley in der Schulzeit eng befreundet. Sie waren unzertrennlich. Und dieses Band hatte bis in den Krieg angehalten. Alles, was Kimberley tat oder mit ihr zutun hatte, verteidigte Lily Potter. Lily war eine echt tolle Frau und eine wahre Freundin, wenn ich das mal so sagen darf."
Bei der Aussage lächelte June. Lily und Kimi. Das klang nach einem niedlichen Freundschaftsduo.
„Da fällt mir ein, dass ich neulich deine Mutter mit Severus auf dem Schulgelände gesehen habe. Und da hat sich mir die Frage gestellt, ob..."
„Ob was...?"
June hob die Augenbrauen. Die Frage, die jetzt kommen würde, war eindeutig. Und Hagrid rang mit sich, sie wirklich zu stellen. Er wurde innerlich nervös.
„Also es geht mich ja nichts an...", brummte er verlegen. „Es würde mich freuen, wenn es so wäre und-„
„Wäre es denn schlimm, wenn es so wäre?"
Hagrid stutzte.
„Nun...", setzte er an. Junes prüfender Blick machte ihn nervös. Er haderte mit sich. „Severus Snape ist nicht gerade sehr gesellig. Und es wäre verwunderlich, wenn es ausgerechnet deine Mutter wäre. Wenn ich so an früher zurückdenke, ist es wirklich erstaunlich."
„Seine Todesserzeiten sind doch schon lange verjährt."
June mochte es nicht sonderlich, wenn man ständig über Severus Vergangenheit sprach. Was wahrscheinlich auch daran lag, dass sie es selbst nicht wahrhaben wollte. Sie verdrängte es. Sie wollte nicht wissen, was er damals alles getan hatte. Wieviel unschuldiges Blut an seinen Händen wirklich klebte....sie schüttelte sich innerlich. Ihre Haare sträubten sich. Nein! Er war kein Mörder! Das hatte er ihr gesagt. Und wenn er sie angelogen hatte? -Nein, June! Das darfst du garnicht denken.
„Es geht nicht unbedingt um seine Jahre als Todesser, June. Du musst wissen, dass Severus in seiner Schulzeit nicht gerade nett zu deiner Mutter war. Es war eine sehr schwierige Situation, die wir nicht einschätzen konnten. James hat mir damals erzählt, dass Snape im fünften Jahr wohl einen schwarzmagischen Fluch an Kimberley ausprobiert hat."
„Er hat was???!!!"
June erschrak und bemerkte gar nicht, wie sie vom Stuhl aufgesprungen war. Fang konnte noch rechtzeitig zur Seite springen. Brummend rollte er sich auf dem Boden zusammen und warf June einen vernichtenden Blick zu.
„Kimberley hat mir versichert, dass es ein Versehen war und er sich dafür entschuldigt hat. Aber Lily, James und die anderen haben ihm das nie verziehen. Das war vor so vielen Jahren und Snape hatte es auch nicht immer leicht. Er wurde von James Potter ziemlich schikaniert musst du wissen. Sie haben Snape mal kopfüber in die Luft gehängt und ihm die Hose runtergezogen. Das war sehr erniedrigend."
Hagrid räkelte sich an der Stuhllehne. June verarbeitete das in ihrem Kopf alles ganz genau.
„Warum hat man sie dafür nicht von der Schule verwiesen?"
„June, sie waren Kinder. Kinder können sehr gemein sein. Aber das gehört zu ihrer Entwicklung dazu. Du kannst sowas nicht verstehen. Du bist ziemlich reif für dein Alter."
Ja, da musste Hagrid wohl recht haben. Doch schwarzmagische Flüche gehörten nicht zu einer Jugendsünde. Irgendetwas sorgte wieder dafür, dass sich ihr Magen schmerzhaft zusammenzog, wenn sie an den Namen Severus Snape dachte.
„June, es wäre lieb, wenn du Professor Snape nicht erzählen würdest, dass ich dir das...erzählt habe. Er mag es nicht sonderlich, wenn man ihn darauf anspricht."
„Versprochen!"
June lächelte, auch wenn ihr eigentlich nicht so nach Lächeln zumute war.
Die Weihnachtsferien kamen schneller als gedacht. June und ihre Mitschüler bekamen über die Ferien viele Hausaufgaben auf. Besonders Severus nutzte dies schamlos aus und flößte ihnen ein, trotz den Feiertagen nicht faul und träge zu werden. Zu Junes Erleichterung durfte sie die Ferien bei Onkel Jefferson und seinem Partner Davis verbringen.
June musste eine Weile am Gleis warten. Jefferson verspätete sich um genau 15 Minuten.
„Tut mir leid, Kleines. Ich hatte noch einen ziemlich schwierigen Fall im St. Mungo. Unser Patient mit dem extremen Gedächtnisverlust ist wieder ausgebrochen und hat ein paar Patienten seine Autogramme aufgedrängt."
Er grinste bei der Aussage sein schönstes Grinsen.
„Du sprichst nicht zufällig von Professor Lockhard?"
„Der Mann war ein Professor?"
Jefferson hob eine seiner Augenbrauen, als sie Junes Gepäck in das Auto luden.
„Er war im zweiten Jahr unser Lehrer für Verteidigung gegen die dunklen Künste. Aber der Typ war ziemlich unfähig für diesen Job. Als ob man mit dem Preis für das schönste Lächeln für jede Stelle qualifiziert werden könnte."
Und das sagte sie ausgerechnet Onkel Jefferson. Jefferson besaß mit Blair Smith eines der schönsten Lächeln der Welt. June liebte es, wenn Jefferson über beiden Ohren grinste. Das tat er oft. Jefferson war allgemein ein sehr fröhlicher Mensch. Kein Heuchler, nein. Er war wirklich glücklich.
Sie stiegen in das Auto ein und fuhren los. Die Häuser und Menschen verschwanden wieder durch das Fenster. Je schneller sie wurden, desto verschwommener wurden die Gestalten. Bald fing June an, friedlich zu dösen. Mit dem Kopf lehnte sie an der Scheibe und bemerkte gar nicht, dass sie nach innerhalb einer Stunde schon an der Wohnung angelangt waren.
„Kleines?! Kleines! Du musst aufwachen, wir sind da."
Sanft rüttelte Jefferson an ihrer Schulter. June öffnete benommen die Augen. Sie gähnte herzhaft und machte sich dann mit schweren Beinen auf, den Wagen zu verlassen. Mit Figaro und ihrem Koffer schritten sie die Treppen hinauf bis zum vierten Stockwerk. Jefferson hob seinen Zauberstab und schloss die Tür auf.
Drinnen war alles, wie immer. Alles war ordentlich, sauber, hell und freundlich. Die Wände waren weiß gestrichen und die Vorhänge von den Fenstern weggeschoben. Alles war, wie immer. Nur etwas fehlte. Oder irgendjemand.
„Wo ist Davis?", fragte June neugierig.
„Er ist über Weihnachten zu seiner Schwester geflogen. Sie wohnt in Frankreich"
June wusste gar nicht, dass Davis eine Schwester in Frankreich hatte.
Sie verfrachteten Junes Gepäck im Gästezimmer. Es sah alles immer noch so aus, wie June es verlassen hatte. Das blaue Sofa war frisch bezogen, der Webstuhl stand neben dem Fenster. Genau dort auf der Position, wo June zuletzt den Brief an Ivan geschrieben hatte. Die zerknüllten Papierknödel waren allerdings verschwunden. Der Papierkorb war leer.
„Ich habe mir die Freiheit genommen, ein wenig sauberzumachen, bevor du kommst", lächelte Jefferson verlegen.
„Wäre ich mal so ordentlich, wie du. Dann würde ich nicht ständig meine Sachen suchen", witzelte June und stellte Figaro auf den Nachtschrank.
Der Kauz sprang aufgeregt auf der Stange herum und schnäbelte durch das Gitter hindurch. Er hatte lange genug gesessen. Er wollte raus und sich die Beine vertreten. Doch eine Weile musste er sich noch gedulden.
„Ich mache uns Tee.", meinte Jefferson und ging aus dem Zimmer.
„Danke, Onkel Jeff!"
June schloss die Tür hinter ihm und stellte sich dann vor den Käfig. Mit dem Zauberstab öffnete sie die Tür. Figaro sprang hinaus und flatterte wild im Zimmer herum, sprang von einem Schrank zum andern und setzte sich nach zehn Minuten auf die Fensterbank, um die belebten Straßen zu beobachten.
June begann, ihre Sachen auszupacken. Ihre Schulbücher ordnete sie ordentlich im Nachtschrank und auf den Nachttisch stellte sie den Kompass, den Ivan ihr geschenkt hatte. Seine Nadel war auf die Tür gerichtet. Irgendwie überkam June die Neugier, was das zu bedeuten hatte. Sie nahm den Kompass abermals in ihre Hände und beobachtete die Nadel. Sie war nicht am herumdrehen. Sie stand gerade gerichtet. Auf die Tür. Und wartete darauf, dass June ihr folgte. Ob Jefferson es komisch finden würde, wenn sie allein in London herumirrte? Oder würde er das verstehen. Vielleicht konnte June ihm auch von dem Kompass erzählen. Vielleicht würde er es verstehen. Dann würde sie aber auch sicherlich erzählen müssen, wem dieser Kompass einst gehört hat.
„June, der Tee ist fertig!"
„Ich komme, Onkel Jeff."
June nahm den Kompass, steckte ihn in ihre Tasche und ging in die Küche. Auf dem Tisch stand ihre gepunktete rote Tasse. Jefferson saß bereits und beförderte mit seinem Zauberstab ein paar weiße Porzellanschalen auf den Tisch.
„Die Plätzchen hat Davis gebacken. Sein Geheimrezept.", sagte er mit einem verführerischen Zwinkern. „Breche sie aber vorher auf."
June nahm sich einen von den braunen Plätzchen. Sie hatten die Form einer Christbaumkugel. Rund und innen scheinbar hohl. Vorsichtig brach sie ihn in zwei Hälften. In der Mitte war ein kleiner Zettel. Mit den Fingerspitzen nahm sie ihn in die Hand und las ihn laut vor:
„Unter einem alten Hut ist oft ein kluger Kopf!"
Indem Moment, als June die Worte aussprach, verwandelten sich der Zettel in eine Baskenmütze mit einer abgewetzten Krempe. Sie sah den Hut an, starrte dann wieder auf den Zettel, und dann wieder auf den Hut.
„Ok das ist....genial.", schmunzelte sie amüsiert und nahm den Hut in die Hand, um ihn zu begutachten. „Damit könntet ihr Fred und George wirklich Konkurrenz machen."
Jefferson stützte sein Kinn auf die Hand und betrachtete June immer noch mit einem Lächeln.
„Es war Davis Idee. Ein Gack für das Restaurant, was er unbedingt eröffnen möchte. Er will, dass es etwas besonderes ist. Nicht nur irgendein Lokal von vielen."
June setzte sich die Mütze auf den Kopf.
„Wie sehe ich aus?"
„Wie eine Tochter, die ganz nach ihrer Mutter kommt."
June sah ihn amüsiert an.
„Sag bloß, Mum hat früher solche Mützen getragen."
Der Kompass, den sie in ihre Jeans gesteckt hatte, stach alarmierend in ihren Hüftknochen. June drückte ihn heraus und nahm ihn nachdenklich in die Hand.
„Onkel Jeff, kann ich dich mal was fragen?"
Jefferson sah sie erwartungsvoll an. Jetzt oder nie. Mehr als nein sagen konnte er nicht. June legte den Kompass auf den Tisch.
„Diesen Kompass hat mir ein Junge aus Durmstrang geschenkt. Letztes Jahr, bevor er wieder nach Hause gereist ist. Dieser Pfeil zeigt angeblich auf etwas, was wir uns am meisten wünschen. Und ich würde gerne herausfinden, wo der Pfeil mich hinführen will. In Hogwarts ist er wie verrückt um seine eigene Achse gekreist. Nur hier scheint er sich zu beruhigen. Ich habe das Gefühl, dass hier etwas in London ist, was ich unbedingt sehen muss."
Eine Weile schien Jefferson in Gedanken versunken zu sein. Er kratzte sich am Kinn und atmete hörbar aus. Dann nahm er den Kompass in die Hand und betrachtete ihn genauestens von allen Seiten.
„Durmstrang hat keine besonders strengen Einschränkungen, wenn es um schwarzmagische Artefakte geht.", raunte er misstrauisch.
Junes Hoffnung schwand sofort tief in den Keller hinunter. Dann aber hoben sich Jeffersons Augenbrauen und er gab June den Kompass zurück in die Hände.
„Allerdings sieht es für mich nicht aus wie ein schwarzmagisches Artefakt. Ich bin allerdings kein Profi, für eine absolute Sicherheit solltest du nochmal Severus um Rat fragen."
June betrachtete ebenfalls den Kompass. In Jeffersons Hand hatte die Nadel wieder völlig den Kurs verloren. Jetzt sah er wieder so aus, als ob er sich beruhigt hätte. Er drehte sich in einem langsamen Tempo auf die Haustür zu.
„Dürfte ich ihr folgen?", fragte June den Mann, der immer noch mit einer bedenklichen Miene vor ihr saß. Wieder kratzte Jefferson sich am Kinn.
„Alleine würde ich dich ungern lassen. Allerdings, wenn es dir so wichtig erscheint, könnten wir gerne nach dem Abendessen einen Abstecher machen. Du musst mir aber versprechen, dass du dich immer in meiner Nähe aufhältst.", mahnte er mit einem ernsten t. „Und ich möchte, dass du sofort mit zurückkommst, wenn sich herausstellt, dass wir in Gefahr geraten könnten."
„Einverstanden!", sagte June.
Nach dem Abendessen packten sie sich in dicke Wollmäntel, Mütze, Schal und Handschuhe. Draußen auf dem Bürgersteig landeten die weißen Schneeflocken. June nahm den Kompass in ihre Hände. Der Pfeil zeigte eine Straße hinunter, direkt zu einer Kreuzung. Sie ging los und Jefferson folgte ihr auf dichtem Schritt. Er hatte seine Hand in seiner Manteltasche, um notfalls seinen Zauberstab ziehen zu können. Der Spaziergang begann. Im Licht der Laternen betraten sie den Weg durch einen Park. Dann mussten sie um ein größeres Haus herumgehen. June und Jefferson gingen an zwei Muggelsupermärkten vorbei und bogen dann in eine kleine, unbelebte Einbahnstraße ein. Hier wurde es immer stiller. Irgendwann endete die Straße und ein Weg baute sich vor ihnen auf. Der Weg war hier nicht geräumt. Der Schnee war tief und unter ihren Schritten knirschte es laut. Jefferson, der June immer noch folgte, dämmerte es.
„June, ich kenne diese Gegend. Das ist die örtliche Kirche am Stadtrand. Ich glaube, das ist keine gute Idee."
Flehend sah sie dem Mann in die Augen. Sie war schon so weit gekommen. Sie würde jetzt nicht einfach umkehren. Sie wollte wissen, wo er sie hinführen würde. Vielleicht war hier Ivan irgendwo. Vielleicht war er gerade in London und suchte nach ihr. Sie ging weiter. Der Weg führte sie an den Mauern entlang. Links stand eine Kapelle und hinten im Dunkeln erkannte die die schemenhafte Gestalt eines spitzen Kirchendaches. June bekam erst ein mulmiges Gefühl, als der Pfeil sie immer weiter nach rechts lenkte. Sie kamen auf einen kleinen Friedhof. June irrte durch die Grabsteine hindurch. Es kam ihr vor, als würde sie durch einen Irrgarten stolpern. Ihr Herz begann, immer schneller zu schlagen. Der Pfeil lenkte sie immer wieder in eine andere Richtung. Mal nach rechts, mal nach links. Und irgendwann passierte etwas, was June nicht erwartet hatte. Der Kompass fing auf einmal an, blau aufzuleuchten. June machte große Augen, als ein blauer Pfeil aus dem Innern herauskam und sich wie eine kleine Lichtkugel auf einen runden Stein setzte. Er erleuchtete die Inschrift.
Ariano Camilo Moreno
(* 24. April 1939, † 31. Oktober 1981)
Was man tief in seinem Herzen besitzt, kann man nicht durch den Tod verlieren
June sank auf die Erde zusammen. Ihr Atem beschleunigte sich und sie spürte einen Stich in ihrem Herzen. Hier also wollte ihr Herz die ganze Zeit hin. Hier wollte sie der Kompass hinführen. Zu ihrem Vater. Junes Hände begannen zu zittern, als sie mit der Hand über den Stein strich.
„Dad", wisperte sie beinahe tonlos.
Ein zarter Windstoß streifte ihre Wangen, als würde ihr Vater von irgendwo ihre Tränen, die die Wangen herunterliefen, weg streifen wollen. Jefferson gelangte zu ihr. Er hatte seinen Zauberstab gezogen und leuchtete hinunter auf das Grab.
„Oh June...."
Er brachte nichts weiter heraus. Er nahm June vorsichtig in seine Arme. June konnte ihre Tränen nicht mehr zurückhalten. Sie schniefte und konnte den Blick von dem Stein nicht abwenden. Hier lag er also. Ein paar Meter unter der Erde lag der leblose Überrest ihres Vaters, den sie nie kennenlernen durfte. Der Mann, der für seine Tochter gestorben war. Als Muggel für die magische Welt, wo er eigentlich nicht hingehörte. Er hatte sich für sie geopfert. Es war ein komisches und zugleich schreckliches Gefühl, plötzlich ganz nahe bei ihm zu sein. Obwohl er jetzt nur noch aus Knochen bestand. Obwohl er nicht wissen konnte, dass hier oben seine Tochter stand. June Kimberley Moreno, im Alter von fünfzehn Jahren. Würde er stolz sein? Würde er sie in den Arm nehmen? Wenn er leben würde, dann ja. Aber jetzt würde es Ariano gleichgültig sein.
Für einen Moment war es um sie herum ruhig. Einzig und allein der Wind raschelte in einigen Ästen herum. Dann aber beobachtete June, wie das Glas auf ihrem Kompass plötzlich einfror.Um ihre Hände fühlte sie eine unangenehme Kälte. Sie bekam ein schlechtes Gefühl. Hilfesuchend sah sie hoch zu Jefferson. Unter ihnen verhärtete sich der Schnee. Die Anzeichen waren eindeutig.
„Wir sind nicht allein.", flüsterte Jefferson.
June wusste das. Sie kannte diese Anzeichen zu gut. Es waren nicht irgendwelche plötzlichen Wetterumschwankungen.
„Komm hinter mich!", schrie Jefferson plötzlich.
June tat es, aber sie war zu langsam. Sie stolperte und dann sah sie die schwarzen Mäntel.
Eine dürre Hand streckte sich nach ihr aus. Sie lief los in die Dunkelheit.
„JUNE!!!!!!", schrie Jefferson ihr hinterher.
June war von der Angst übermannt. Sie lief orientierungslos über den Friedhof, wie ein scheues Reh. Mit dem Knie stieß sie an einen großen Grabstein und fiel zu Boden. Sie suchte nach ihrem Zauberstab.
„Expelliarmus!"
Der Zauber traf den schwarzen Geist, aber er hatte keine Auswirkung.
Du kennst den Zauber. Versuche es!, schallte es in ihren Gedanken.
„Expecto Patronum!"
Nichts geschah. Der Dementor kam immer näher.
„Expecto Patronum!", schrie June erneut und fuchtelte wild mit ihrem Zauberstab hin und her.
Nichts regte sich. Nicht einmal ein Funken.
„Expecto.....Expecto....."
Sie verlor das Bewusstsein. Im Innern hatte sie das Gefühl, als wäre die Erde komplett zu Eis erstarrt. Als wäre alles egal und schrecklich. Als wäre die einzige Erlösung der Tod. Mit den glitschigen, knochigen Händen packte der Dementor sie an der Kehle und zerrte sie hoch. Dann begann er, an ihr zu saugen. Das Augenlicht verwandelte sich in tiefes schwarz. June wurde bewusstlos. Sie bekam nicht mehr mit, wie ein weißblaues Licht über den Friedhof direkt auf sie zukam.
„Expecto Patronum!"
In der Gestalt eines Kapuzineräffchens lief der Patronus herbei und stürzte sich direkt auf den Dementor. Schützend stellte er sich vor June, hämmerte mit seinen Fäusten auf seine Brust und ließ einen riesigen Schutzschild um das Mädchen herum fließen. Der Dementor wurde in die Luft geschleudert und kehrte nicht mehr zurück.
Jefferson hatte June gerettet.
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